Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2024

Für die Bosse immer noch tabu
von Thies Gleiss

Die Kämpfe der arbeitenden Klasse – so heißt es schon bei Karl Marx – drehen sich letztlich alle um die beiden Themen Lohnhöhe und Länge der Arbeitszeit.

Gerade haben die Stahlbeschäftigten wieder für die Einführung der 32-Stunden-Woche gekämpft, die Lokführer:innen sind noch in einer solchen Tarifrunde.

Das Ergebnis im Stahlbereich ist nicht berauschend: Die Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung wird auf die Betriebsebene zurückverlagert, dort müssen sich die Parteien einigen. Das wird schwer. Einen Lohnausgleich konnte die IG Metall nur sehr minimal durchsetzen. Es ist absehbar, dass diese Verkürzung nicht viel bewirken und durch Arbeitsintensivierung wieder aufgefressen wird.
Gegen individuelle Arbeitszeitverkürzungen, insbesondere für schwer belastete und alte Beschäftigte ist natürlich nichts einzuwenden, aber sie werden den so wichtigen wie notwendigen und auch möglichen Kampf um kollektive Arbeitszeitverkürzungen nicht ersetzen.
Lohn und Arbeitszeit sind Machtfragen. Das ist heute so gültig wie vor hundertfünfzig Jahren, auch wenn dieser Schlachtruf in den gewerkschaftlichen Schulungen für Betriebsräte und Vertrauensleute immer seltener vermittelt wird. Ganz dem neoliberalen Zeitgeist folgend, drängt sich leider auch in gewerkschaftliche Strategie- und Schulungspläne die fatale Leitidee des »Individualismus«, der sich angeblich nur mit einem Höchstmaß an flexiblen Regelungen bei Lohn und Arbeitszeit erreichen lässt.
Flexibilität ist das Zauberwort, mit dem sich die Interessen der Unternehmer nach intensiverer Ausbeutung der Arbeitskraft, die Angst der Gewerkschaftsfunktionär:innen vor harten Arbeitskämpfen und die moderne, durch Medien und digitale Scheinwelten irregeleitete Bewusstseinslage eines großen Teils der Beschäftigten zeitweilig in Einklang bringen lassen.
Flexibilität heißt, die beiden großen Fragen – Lohnhöhe und Arbeitszeit – immer mehr in einem Dschungel von individuellen Sonderregelungen zu ersticken, der nur noch von Expert:innen zu durchschauen ist. Je mehr sich diese »Flexibilität« als Richtschnur gewerkschaftlichen Handelns und Verhandelns durchsetzt, desto mehr wird aber auch die generelle Notwendigkeit von Gewerkschaften infrage gestellt. »Individuelle Lösungen« lassen sich, gerade in den höher bezahlten Beschäftigtengruppen, individuell oft besser, auf jeden Fall mit weniger Stress aushandeln. Wozu dann noch die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft?

Lieber zusammen als allein
Dabei ist die Faktenlage eindeutig: Wird die Gesamtheit der Beschäftigten als Maßstab genommen und nicht nur einzelne Spitzeneinkommen, wird mit kollektiven, gewerkschaftlich ausgehandelten Verträgen zu Lohn und Arbeitszeit immer ein besseres Ergebnis erzielt. Dort wo in Deutschland noch kollektive Tarifverträge gelten – darunter fallen nur noch die Hälfte aller Arbeitsverhältnisse! –, sind die Einkommen für alle ein Viertel bis zu einem Drittel höher, die Arbeitszeit kürzer. Die Starken helfen den Schwachen – dieses Prinzip bei Kollektivverhandlungen ist uneingeschränkt gültig.
Ist durch Kollektivverträge ein bestimmtes höheres Niveau der Löhne und der Arbeitszeiten erreicht, werden im übrigen auch individuelle Regelungen über dieses Niveau hinaus erleichtert – was heute an der neuen Mindestlohndebatte gut zu beobachten ist. Kollektivverträge sind die beste, oft die einzige Versicherung gegen den totalen Absturz.
Bezüglich der Arbeitszeit ist die Faktenlage noch in anderer Hinsicht eindeutig: Alle Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass Arbeitszeitverkürzung die Nummer Eins bei den Wünschen der Vollzeitbeschäftigten ist. Sie wollen eine kürzere Tagesarbeit, eine kürzere Jahresarbeitszeit mit längerem Urlaub und eine kürzere Lebensarbeitszeit mit früherem Renteneintritt sowie Möglichkeiten zu Sabbaticals.
29,5 Prozent der Beschäftigten, mehrheitlich Frauen, arbeiten heute in Teilzeit (durchschnittlich 18 Stunden pro Woche). Diese Beschäftigten wünschen sich in allen Umfragen eine Verlängerung der Arbeitszeit. Die Wünsche der einen nach Verkürzung und der anderen nach Verlängerung treffen sich ohne großes politisches Zutun ungefähr bei 30 Stunden. Es wäre also Zeit und gut begründet, einen großen Kampf für die 30-Stunden-Woche zu beginnen.

Die tatsächliche Arbeitszeit
Die letzten großen Tarifrunden für allgemeine Arbeitszeitverkürzung begannen in Deutschland 1978 in der Stahlindustrie und hatten ihren Höhepunkt in 1984/85, wo es zu Vereinbarungen über die schrittweise Einführung der 35-Stunden-Woche bis 1995 kam. Seitdem gilt in der Metallindustrie und einigen anderen Branchen in den tariflich erfassten Betrieben die 35-Stunden-Woche – aber es gibt immer noch zahllose und zunehmend Sonderregelungen, die auch längere Arbeitszeiten ermöglichen. Es gibt Härtefallregelungen mit teilweise auch kürzeren Arbeitszeiten und es gibt als Dauerproblem knapp 2 Milliarden Überstunden pro Jahr, von denen nur die Hälfte bezahlt wird.
Fünfzig Prozent aller Betriebe sind nicht tarifvertraglich erfasst, dort wird in der Regel länger gearbeitet. Letztenendes gibt es die gesetzlich geregelte Kurzarbeit, die in den großen Krisen (Finanzkrise und Pandemiekrise) stark ausgedehnt wurde. Diese Kurzarbeit ist eine – meist sehr beliebte und erfolgreiche – Arbeitszeitverkürzung für den Notfall, allerdings in Form einer Plünderung der Gelder der Agentur für Arbeit und einer direkten Lohnsubventionierung für die Unternehmer.
All das zusammengenommen führt zu einer tatsächlichen durchschnittlichen Arbeitszeit von gut 40 Stunden in der Woche – gerade wieder mit zunehmender Tendenz. Werden die Teilzeitbeschäftigten einbezogen, dann liegt die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei 34,7 Stunden.

Aus unseren Erfahrungen lernen wir
Die Erfahrungen der Kämpfe um die Arbeitszeit lassen sich im Rückblick auf die letzten Jahrzehnte leicht zusammenfassen:
– Die Arbeitszeit muss in einem schnellen Schritt verkürzt werden, sonst wird die Arbeit nicht neu verteilt, vielmehr fressen Verdichtung der Arbeitsprozesse und Rationalisierungen die kürzere Arbeitszeit wieder auf, nur der Stress und Belastungen anderer Art werden mehr.
– Es muss, auch tarifvertraglich, dafür gesorgt werden, dass es zu einem tatsächlichen Personalausgleich kommt, die Arbeit muss auf mehr Schultern verteilt werden.
– Die Arbeitszeitverkürzung muss für alle gefordert und erreicht werden, nicht nur für besonders belastete oder ältere Beschäftigte, und auch für alle Betriebe mit dem Ziel, dass solche Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden.
– Der Lohnausgleich muss ausdrücklich gefordert und eingelöst werden, von allein kommt der nicht, die Beschäftigten würden ihre Arbeitszeitverkürzung dann selbst finanzieren.
– Die Arbeitszeitverkürzung wird nicht allein durch betriebliche Kämpfe und Streiks zu erreichen sein. Nur eine breite politische, die ganze Gesellschaft mobilisierende Kampagne wird zu einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung führen.
– Wichtige Bündnispartner:innen für die Gewerkschaften in Fragen der Arbeitszeit sind deshalb sind insbesondere die Frauenbewegung mit ihrer Forderung nach einer neuen Verteilung der Geschlechterrollen; die Umwelt- und Klimabewegung mit ihrer Forderung nach Konversion schädlicher Produktionen und Reduzierung aller Stoffwechselprozesse; sowie die Bewegung für mehr Demokratie und Partizipation mit ihrer Forderung nach mehr Beteiligung der Menschen an den politischen Entscheidungsprozessen.
Arbeitszeitverkürzung heißt weniger Zeit zur Ausbeutung der Arbeitskraft; heißt mehr Zeit für das Leben; mehr Zeit für Partnerschaften und Kinder; mehr Zeit zur politischen Teilhabe. So muss sie auch politisch begründet und eingefordert werden.
Immer wieder gibt es Bemühungen, auch von gewerkschaftsfreundlicher Seite, die Arbeitszeitverkürzung als eine »Win-Win-Lösung« zu erreichen, die den Unternehmern angeblich nicht wehtut. Aber das ist nicht der Fall. Die Arbeitszeitverkürzung wirkt nur im Rahmen neuer gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und eines neuen »Normalarbeitsverhältnisses«.

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