Eine andere Form des industriellen Tötens
von Shir Hever
In den deutschen Leitmedien und im politischen Establishment herrscht die Auffassung, dass Israel alle Anstrengungen unternimmt, um ausschließlich Terroristen und die Hamas zu bekämpfen und Angriffe auf zivile Opfer zu vermeiden, und dass es sich dabei an das Völkerrecht hält. In einem Interview mit dem Online-Portal »Die Quelle« widerspricht Shir Hever dieser Auffassung. Er sagt: »Zum erstenmal in der Geschichte wird im Gazastreifen künstliche Intelligenz in einem völkermörderischen Ausmaß eingesetzt«, und er erläutert, warum.
Die Sichtweise in den deutschen Medien ist völlig irreführend. Jeder, der Hebräisch spricht, jeder, der die israelischen Medien verfolgt weiß, dass es rund um die Uhr Aufrufe zum Töten von Zivllist:innen gibt. Wir sehen Journalisten, die zum Vergnügen 155-mm-Granaten in den Gazastreifen feuern, ohne ein Ziel zu haben, nur um zu demonstrieren, dass sie Teil der Kriegsanstrengungen sind. Wenn Journalist:innen und Politiker:innen zum absichtlichen Aushungern der Bevölkerung aufrufen – wie kann das keine vorsätzliche Tötung von Zivilist:innen sein?
Nach den Kriegsgesetzen erfüllt die Tötung von Zivilist:innen mit dem Ziel der Auslöschen der Bevölkerung den Straftatbestand des Völkermords, es ist ein sehr schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das israelische Militär versucht, sein eigenes Personal vor einer Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vor den Folgen zu schützen. Die politisch Verantwortlichen sagen also, dass sie nicht wahllos jeden in Gaza töten, sondern dass sie auf bestimmte Personen zielen, nämlich die Hamaskämpfer, und dass die anderen Opfer Kollateralschäden sind.
»Kollateralschaden« ist natürlich ein Euphemismus für das, was da passiert. Der Begriff besagt, dass es für jede angegriffene Person eine bestimmte Anzahl von Zivilist:innen gibt, die als Kollateralschaden getötet werden können. Das israelische Militärkommando muss den Soldaten Anweisungen zur Bestimmung des akzeptablen Faktors geben – etwa die Tötung von fünf Zivilist:innen, um ein Hamasmitglied zu töten, oder die Tötung von hundert; die Zahl geht eher auf 100 zu.
Wie ChatGPT
Wer genau aber zählt als Hamaskämpfer? Wenn es sich nur um einen einfachen Fußsoldaten der Hamas handelt, der eine Waffe hat, ist es dann gerechtfertigt, ein ganzes Wohnhaus zu zerstören und ganze Familien zu töten, nur um diese eine Person zu beseitigen? Normalerweise lassen die Kriegsgesetze so etwas nicht zu, es gibt den Begriff der Verhältnismäßigkeit. Das bedeutet, dass man nur dann Menschen als Kollateralschaden töten darf, wenn die Zahl der Menschenleben, die aufgrund des Kriegsziels gerettet würden, derart hoch ist und dies so dringend ist, dass eine Rechtfertigung gegeben ist.
Hier kommt die künstliche Intelligenz ins Spiel. Denn die KI, die vom israelischen Militär eingesetzt wird, ist nicht das, was wir uns unter künstlicher Intelligenz als Waffe vorstellen, wenn wir Science-Fiction-Filme wie Terminator sehen. In diesen Filmen übernimmt die KI die Waffen und steuert sie direkt zur Tötung von Menschen. Es gibt viele Bedenken, dass halbautonome oder vollautonome Waffen eingesetzt werden, um Menschen zu töten, denn sie unterscheiden nicht mehr zwischen Kämpfern und Zivilisten und können sich sogar gegen ihre eigenen Bediener wenden. Aber was in Gaza geschieht, ist etwas anderes.
Diese künstliche Intelligenz arbeitet nicht mit der Steuerung der Waffen. Vielmehr funktioniert sie ähnlich wie das Sprachmodell ChatGPT. Sie unterhält sich mit den Soldaten und teilt ihnen mit, dass nach einer Analyse von Bildern und Videos des Gebiets, das von Drohnen und Kameras gescannt wurde, eine bestimmte Wahrscheinlichkeit besteht, ein Ziel zu treffen, und eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Anzahl unbeabsichtigter Zivilist:innen zur treffen, und auch eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, die israelischen Geiseln zu treffen, die im Gazastreifen festgehalten werden.
Auf Grundlage dieser Informationen fragt die KI den Soldaten dann: Genehmigen Sie dieses Ziel? Wenn ja, werden die Waffen abgefeuert – nicht die KI tut dies, der Soldaten feuert, der Soldat sitzt mit dem Finger am Abzug und bekommt diese Ziele von der KI eins nach dem anderen mitgeteilt.
In früheren Kriegen und früheren Angriffen auf Gaza gab es jeden Tag etwa fünf bis sechs Ziele, die von der militärischen Führung erstellt wurden, sodass die Soldaten auf diese Ziele mit Bomben und Artilleriegranaten schießen mussten. Hier sprechen wir jedoch von hunderten Zielen pro Tag. Das ist auch der Grund, warum das israelische Militär Artillerie einsetzt, die sehr billig ist, sodass es das ganze Gebiet einfach mit einem Bombenteppich überzieht. Aber aus der Sicht der Soldaten ist es kein Bombenteppich, sie nehmen bestimmte Ziele ins Visier, nur dass diese Ziele nicht von Geheimdiensten, sondern von der KI erzeugt werden.
Genauso funktioniert das Sprachmodell. Es gibt keine Möglichkeit zu wissen, ob die Analyse der Bilder, die Gesichtserkennungssoftware, die sie verwenden, einwandfrei ist oder nicht. Sie könnte völlig falsch liegen, aber wir wissen, dass sie effizient die Soldaten überzeugen kann, den Abzug zu betätigen. Die künstliche Intelligenz manipuliert tatsächlich die israelischen Soldaten, um ihnen zu suggerieren, dass sie beim Abdrücken des Abzugs keine Geiseln töten, dass sie nicht mehr Zivilist:innen töten, als der Kollateralschadenfaktor zulässt, wodurch sie schließlich überzeugt werden, den Abzug immer und immer wieder zu betätigen.
Darüber müssen wir alle sehr besorgt sein, vor allem weil dadurch ein Völkermord ermöglicht wird. Dies geschieht durch die Art des industriellen Einsatzes von künstlicher Intelligenz. Die industrielle Tötung der gesamten Bevölkerung ist in der Tat ein Akt des Völkermords.
Welche Kriegsziele verfolgt Israel?
Der israelische Premierminister Binyamin Netanyahu hat bei einem Treffen seiner Likudpartei folgende Bemerkung über Israels Pläne für die Bevölkerung des Gazastreifens gemacht: »Es gibt Länder, die bereit sind, sie aufzunehmen, und wir arbeiten daran.« Und weiter: »Die Welt diskutiert bereits über die Möglichkeiten einer freiwilligen Auswanderung.« Das kommt einer ethnischen Säuberung gleich, das wollen wir nicht. Wir wollen nicht, dass die Palästinenser:innen nach Ägypten deportiert werden, und es ist sehr beschämend, dass Die LINKE in Deutschland eine Erklärung abgegeben hat, in der sie versucht, die ägyptische Regierung zur Teilnahme an der ethnischen Säuberung und zur Öffnung der Grenzen zu bewegen, um die palästinensische Bevölkerung auf der Sinaihalbinsel statt in Palästina anzusiedeln.
Die israelische Regierung hat keinen Plan. Sie ist uneinheitlich, jeder Minister hat seinen eigenen Plan. Der Geheimdienstminister arbeitet immer noch intensiv an der Idee, alle Palästinenser:innen auf die Sinaihalbinsel zu deportieren; der Ständige Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen, Danny Danon, reist in verschiedene Länder – er hat gerade Papua-Neuguinea besucht –, um sie von der Aufnahme palästinensischer Flüchtlinge zu überzeugen, er ist also viel weiter gereist als nach Ägypten, bis ans andere Ende der Welt. Aber es gibt andere, die meinen, Gaza müsse niedergebrannt werden, ein Minister hat vorgeschlagen, eine Atombombe auf Gaza abzuwerfen.
Verhältnismäßigkeit in Kriegszeiten funktioniert nur, wenn man ein klares Ziel hat. Wenn die israelische Regierung aber nach den Zielen des Krieges gefragt wird, gibt sie jedesmal eine andere Antwort: Manchmal sagt sie, das Ziel sei, die Geiseln zu retten, ich denke aber, ihre Aktionen vor Ort beweisen, dass sie nicht die Absicht hat, die Geiseln zu retten. Ein anderes Mal sagt sie, das Ziel sei die Vernichtung der Hamas, was ein Hirngespinst ist, das wird nicht passieren. Andere sagen, das Ziel der Krieges sei, den Gazastreifen zu erobern und ihn mit illegalen Siedlungen zu überziehen oder ihn völlig unbewohnbar zu machen, in eine Wüste oder einen Parkplatz zu verwandeln, wie die Israelis gerne sagen.
Von diesen Zielen ist das einzige, das nach internationalem Recht wirklich zulässig ist, die Rückführung der Geiseln. Um die Geiseln zurückzubringen, muss Israel sich auf ein Abkommen über den Austausch von Gefangenen einlassen, das auch einen Waffenstillstand beinhalten würde. Die israelische Regierung weigert sich jedoch, dies zu tun, und weil sie nicht in dieser Richtung handelt, ist die Zahl der Zivilisten, die sie für ihre Ziele töten darf, genau null.
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