Die Gesellschaft zerfällt: Während die Eliten sich immer stärker abschotten, bleiben die unteren Schichten dauerhaft abgehängt
von Michael Hartmann
Der Aufstieg der Alternative für Deutschland wird angetrieben von einer wachsenden sozialen Ungleichheit. Die Unzufriedenheit über eine unverstandene Entwicklung treibt gerade auch Geringverdiener nach rechts. Verantwortlich dafür sind nicht zuletzt die Eliten, die ihre finanziellen Interessen rücksichtslos durchsetzen. Der folgende Text ist eine verschriftlichte und gekürzte Version eines frei gehaltenem Vortrags an der Volkshochschule Reutlingen im Herbst letzten Jahres, www.youtube.com/watch?v=k72g7Sc90ZQ.
Die aktuellen Umfrageergebnisse schockieren. Die AfD besetzt in den Wahlumfragen in allen neuen Bundesländern den Spitzenplatz (mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt). Ungefähr ein Drittel der Befragten gibt an, die Partei wählen zu wollen. Nordrhein-Westfalen ist ein besonders erschreckendes Beispiel für diese Entwicklung: Bei den letzten Landtagswahlen kam die AfD nur knapp über die 5-Prozent-Hürde. Mittlerweile liegt sie bei 18 Prozent, damit nur noch ein Prozent hinter der SPD. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären?
Überall in Europa können rechtspopulistische Parteien aus zwei unterschiedlichen Quellen schöpfen: einerseits traditionell äußerst rechts orientierte Wähler, andererseits Protestwähler, die ihre Unzufriedenheit ausdrücken wollen.
Ganz sauber lassen sich diese beiden Gruppen allerdings nicht voneinander trennen. Auch Personen mit einem gefestigten rechtsextremen Weltbild wählen nicht unbedingt durchgängig eine rechtsextreme Partei. In Deutschland hat der Stahlhelm-Flügel der CDU viel des rechten Potenzials aufgesaugt. Umgekehrt übernehmen Protestwähler Positionen der Parteien, für die sie mehrmals ihre Stimme abgegeben haben. Weltbilder, die sie zunächst nicht hatten, scheinen ihnen irgendwann vernünftig, richtig oder alternativlos.
Extrem rechte Parteien konnten in Deutschland lange kaum Fuß fassen. In den 60er Jahren war die NPD in gewissem Umfang erfolgreich, insbesondere in Baden-Württemberg, wo sie in den Landtag kam. In den 90er Jahren gab es Die Republikaner und die DVU. Ihre Wahlerfolge blieben aber Episoden. Nach wenigen Jahren verschwanden sie wieder von der Bildfläche. Bei der AfD wird dies anders sein. Ihr gelingt es, eine gewachsene Protestwählerschaft anzuziehen.
Rechtsextreme Traditionen und soziale Misere
Nehmen wir als Beispiel Pforzheim in Baden-Württemberg und den Kreis Sonneberg in Thüringen. In Pforzheim brachte die AfD bei den Landtagswahlen 2016 überraschend einen Direktkandidaten durch. In Sonneberg hat sie im Juni 2023 die erste Landratswahl gewonnen.
Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten. An beiden Orten gibt es lang zurückreichende rechte Traditionen. Sie waren Hochburgen der NSDAP. Bei den Wahlen im Jahr 1932 bekamen die Nazis hier zwischen 30 und 50 Prozent mehr Stimmen als im Reichsdurchschnitt. Von einer solchen politischen Stärke bleibt etwas übrig, Familientraditionen, bei denen rechte Weltbilder weitergereicht werden, so wie umgekehrt auch Traditionen von Widerständigkeit weitergegeben werden.
Sonneberg und Pforzheim teilen zudem die Erfahrung eines wirtschaftlichen Abschwungs. Sonneberg erlebte in den 90er Jahren eine massive De-Industrialisierung. Die Spielzeugindustrie der DDR, die dort angesiedelt war, wurde innerhalb von nur zehn Jahren fast gänzlich zerstört.
In der journalistischen Berichterstattung ist oft zu lesen, dass die Arbeitslosigkeit in dem Landkreis relativ niedrig ist. Das liegt allerdings nur daran, dass so viele Menschen in den Westen gegangen sind, so wie in Ostdeutschland insgesamt. Das Einkommensniveau ist weit unterdurchschnittlich. Im Vergleich der thüringischen Landkreise liegen die Durchschnittslöhne hier weit hinten. Bei einem Vergleich der Bundesländer liegt Thüringen wiederum auf dem drittletzten Platz. Es handelt sich also um einen besonders armen Kreis in einem besonders armen Bundesland. 40 Prozent der Einkommensbezieher arbeiten zum Mindestlohn.
Schauen wir in den Westen, nach Pforzheim. Dort gab es ebenfalls eine massive De-Industrialisierung. Zwischen 1991 bis 2006 sank die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs von gut 64000 auf 47000. Über ein Viertel der Arbeitsplätze ging verloren. Von 2006 bis 2019 besserte sich die Lage bei der Beschäftigung etwas. Dennoch gab es im Jahr 2019 gut 10 Prozent weniger sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze als 1991. Gut bezahlte Industriejobs in der Schmuckindustrie und bei großen Druckereien sind verschwunden, hinzugekommen sind deutlich schlechter bezahlte Stellen im Dienstleistungssektor.
Die LINKE hat die Protestwähler verloren
Pforzheim hat insofern eine ähnliche Entwicklung durchgemacht wie Sonneberg, sicher nicht so massiv, aber für westdeutsche Verhältnisse tiefgreifend. In beiden Regionen gibt es eine rechte Stammkundschaft und eine Protestwählerschaft. Damit sind die beiden Voraussetzungen für den Aufstieg der Rechtspopulisten erfüllt.
Dennoch unterscheidet sich die politische Entwicklung. In Pforzheim stießen rechte Parteien schneller auf Zuspruch, als der ökonomische Niedergang einsetzte. Bei Landtagswahlen in den 90er Jahren bekamen Die Republikaner in Baden-Württemberg knapp 10 Prozent der Stimmen, in Pforzheim über 18 Prozent (1992) bzw. über 13 Prozent (1996). In Sonneberg dagegen spielten rechte Parteien anfangs kaum eine Rolle. Dort zogen PDS und später Die LINKE das Protestpotenzial praktisch komplett auf sich.
Seit etwa zehn Jahren haben sich die beiden Orte in dieser Hinsicht aber angeglichen. In Sonneberg kletterte die AfD zwischen 2014 und 2021 bei den Bundestagswahlen von 6,8 auf fast 27 Prozent. Parallel dazu sank der Anteil der Linkspartei von fast 25 auf unter 11 Prozent. Ihr Abstieg setzte genau zu dem Zeitpunkt ein, als sie mit Bodo Ramelow zum erstenmal einen Ministerpräsidenten stellte.
Bezeichnenderweise verkörperte Ministerpräsident Ramelow und seine rot-rot-grüne Landesregierung die Einheit aller AfD-Gegner. Er steht für die Brandmauer nach rechts, die so oft beschworen wird. Der Preis dafür war, dass Wähler, die ihren Protest über die Verschlechterung ihrer Lebensverhältnisse zum Ausdruck bringen wollten, den Adressaten links verloren und dafür rechts gesucht haben – ein gravierendes Problem.
Materielle Ursachen für den Aufstieg der AfD
Protestwähler werden angetrieben durch eine Verschlechterung ihrer materiellen Situation, zum Beispiel niedrige Einkommen, unsichere Arbeitsverhältnisse oder Erwerbslosigkeit. Aber hat sich die soziale Lage in Deutschland überhaupt zum Schlechteren verändert?
Oft wird darauf verwiesen, dass die Einkommen (laut Zahlen der Bundesbank) zwischen 1999 bis 2019 um ungefähr 8 Prozent gestiegen sind. »Warum klagen die Leute überhaupt?«, heißt es dann. In Wirklichkeit ist die Lohnsumme nur insgesamt gewachsen. Für die verschiedenen Teile der Bevölkerung stellt sich die Entwicklung höchst unterschiedlich dar. Die untersten 10 Prozent haben zwischen 1999 und 2019 ungefähr 5 Prozent an realem Einkommen verloren, während die oberen 10 Prozent gut 27 Prozent dazugewonnen haben. Die Schere bei den Einkommen ist auseinandergegangen. Für das untere Drittel ist die Lage seit der Jahrtausendwende ungefähr gleich geblieben. Ihre Einkommenszuwächse im letzten Jahrzehnt werden seit 2019 von den hohen Inflationsraten wieder zunichte gemacht, wobei die Teuerung umso härter trifft, je ärmer die Menschen sind.
Die Unzufriedenheit darüber treibt der AfD die Wähler zu. Kurt Tucholsky schrieb Ende der Weimarer Republik: »Die Bevölkerung versteht das meiste falsch, aber sie fühlt das meiste richtig.« Fühlen ist einfach, verstehen komplizierter. Wenn sich über zwei Jahrzehnte die Lebensverhältnisse verschlechtern, entsteht bei den Betroffenen naturgemäß eine Proteststimmung.
Klassenkampf von oben
Dass die Schere zwischen oben und unten in Deutschland seit zwei Jahrzehnten auseinander geht, ist die Folge konkreter sozial- und finanzpolitischer Einscheidungen. Sie haben die unteren Einkommen belastet und die oberen begünstigt. Sie kamen auf Druck der Wirtschaftselite zustande, wobei politische Elite und Verwaltungselite bei ihrer Umsetzung zusammenarbeiteten. Ohne diese Vorgeschichte lässt sich auch der Aufstieg der Rechtspopulisten nicht begreifen.
Die hohen Einkommen wurden mit zahlreichen steuerpolitischen Maßnahmen entlastet, und zwar umso mehr, je höher sie liegen. Der Spitzensteuersatz wurde unter Rot-Grün von 53 auf 42 Prozent abgesenkt, die Körperschaftsteuer von 40 auf 25 Prozent und dann abermals auf 15 Prozent. Während der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung sank die jährliche Steuerbelastung der 65 reichsten Deutschen von 48,2 auf 28,9 Prozent. Pro Person entspricht das durchschnittlich 34 Millionen Euro, damit Mindereinnahmen der öffentlichen Kassen von 2 Milliarden Euro.
Im Jahr 2009 führte der sozialdemokratische Finanzminister Peer Steinbrück neue Regelungen für die Erbschaftsteuer für Familienunternehmen ein. Seitdem fallen bei Vererbung oder Schenkung von großen Familienunternehmen so gut wie keine Steuern mehr an. Diese Regelung kostet den Staat jedes Jahr eine zweistellige Milliardensumme.
Dieses Gesetz enthält auch das sog. Verschonungsbedarfsprüfungsmodell, das in der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt ist. Es funktioniert so: Ein Vater besitzt ein Unternehmen im Wert von bspw. 5 Milliarden Euro. Er will es seinem 25jährigen Sohn schenken. Dieser erklärt sich dem Finanzamt gegenüber bereit, die Hälfte seines eigenen Vermögens sofort abzuführen. Sagen wir, ihm gehören 4 Millionen Euro, vielleicht haben ihm seine Onkel und Tanten im Lauf der Zeit einiges zugesteckt. Also überweist er dem Finanzamt 2 Millionen – und damit ist das Erbe im Wert von 5 Milliarden steuerfrei.
So kann der Reichtum weitgehend steuerfrei an die nächste Generation übergeben werden. Sie erzielt höhere Einkommen aus ihrem Reichtum und konzentriert durch ihr Vermögen gleichzeitig mehr Macht. Unternehmerfamilien nutzen dieses Modell regelmäßig. Das Managermagazin veröffentlicht jeden Herbst eine Liste der 500 reichsten Deutschen. Früher stand dort bspw. »Dietmar Hopp«, heute stattdessen: »Familie Dietmar Hopp«. Schenkungen über 20 Millionen betrugen im Jahr 2021 16,7 Milliarden. Auf diese Summe entfielen 451 Millionen Steuern, ein Steuersatz von nicht mal 3 Prozent.
Reichtum und Macht – genug ist nicht genug!
Eine Vielzahl solcher Mechanismen sorgt dafür, dass die größten Vermögen wachsen, damit auch die gesellschaftliche Ungleichheit. Ein Beispiel, um ihre Dimensionen deutlich zu machen: Die Nummer 2 auf der Liste der reichsten Deutschen, Klaus Michael Kühne, besitzt 30 Prozent an Hapag Lloyd, über 50 Prozent an Kühne und Nagel und 10 Prozent der Lufthansa-Aktien. 2023 erhielt er allein von Hapag Lloyd eine Dividende in Höhe von 3,3 Milliarden Euro. Das ist das 1300fache der Summe, die der Vorstandschef von Hapag Lloyd im selben Jahr bekam (nämlich 2,5 Millionen Euro). Gleichzeitig entspricht Kühnes Dividende dem jährlichen Einkommen von knapp 90 Prozent aller Einkommensbezieher in Paderborn, einer Stadt mit 160000 Einwohnern.
Solche Einkommen werden geringer besteuert als Lohneinkommen. Für Dividenden wird typischerweise keine Abgeltungssteuer bezahlt. Die Superreichen wickeln sie über eine Vermögensverwaltungsgesellschaft ab, nicht als persönliches Einkommen. So beträgt der Steuersatz sage und schreibe nur 1,5 Prozent.
Unter Bundesfinanzminister Hans Eichel wurde im Jahr 2002 die Besteuerung der Veräußerungsgewinne neu geregelt. Bis zur Jahrhundertwende hatte ein Satz von 50 Prozent gegolten. Die Wirtschaftselite hatte lange gefordert, ihn auf das Niveau von Frankreich zu senken, ein Steuersatz von 30 Prozent. Mehr hatte niemand erwartet. Stattdessen wurden Veräußerungsgewinne steuerfrei gestellt. Seitdem sind die Dividendenzahlungen der DAX-Unternehmen auf das Fünffache gestiegen.
Das Gesetz wurde von der Verwaltung des Bundesfinanzministeriums unter Staatssekretär Heribert Zitzelsberger konzipiert. Er begann seine Karriere in der Verwaltung, wurde Referatsleiter im Bundesfinanzministerium. Er wechselte in die Privatwirtschaft und leitete die Steuerabteilung der Bayer AG. Dann kehrte er als Staatssekretär ins Finanzministerium zurück. Solche Karrierewege sind üblich geworden.
Homogenere Eliten
Die Eliten rekrutieren sich zunehmend aus sich selbst heraus, sie sind exklusiver geworden. Sprösslinge des Bürgertums, verstanden als die oberen 4 Prozent der Bevölkerung, und vor allem des Großbürgertums, den oberen 0,5 Prozent, sind in allen Bereichen der Elite massiv überrepräsentiert. In der Wirtschaftselite besetzen sie vier von fünf Positionen. Bei den Spitzenpositionen in den privaten Medien, Herausgeber und Chefredakteure, sind es ebenfalls fast vier von fünf. In der Justiz sind es zwei Drittel, in der Verwaltung gut 60 Prozent und in der Politik immer noch gut die Hälfte.
Wer aus den oberen 4 Prozent stammt, hat die entsprechenden Bildungs- und Berufsverläufe, die entsprechende bürgerliche Prägung. Die soziale Herkunft entscheidet darüber, wie Menschen denken und entscheiden. Sie prägt die Denkmuster: was man normal findet, was richtig, was man nicht verstehen kann.
Beispiel Umverteilung: Wer in einem bürgerlichen Milieu aufwächst, saugt mit der Muttermilch eine Abneigung gegen Besteuerung auf. Die erste Prämisse lautet: »Der Staat nimmt uns viel zu viel von unserem hart erarbeiteten Einkommen weg.« Die zweite Prämisse lautet: »Der Staat kann mit Geld nicht umgehen.« Die logische Schlussfolgerung daraus lautet, man sollte ihm möglichst wenig davon geben. Der Glaube, man selbst könne zum Beispiel mit wohltätigen Stiftungen sein Geld viel zielgerichteter einsetzen, ist fest verwurzelt.
Nährboden für Rechtspopulismus
Die Entscheidungen der deutschen Eliten in den vergangenen Jahrzehnten begünstigten hohe Einkommen und Vermögen und benachteiligten niedrige Einkommen. Das ist der Nährboden für das verbreitete Gefühl, dass »die da oben« die breite Bevölkerung und ihre Probleme nicht sehen oder nicht sehen wollen.
Die erste Möglichkeit, seine Unzufriedenheit über das Wahlverhalten auszudrücken, ist, nicht mehr daran teilzunehmen. So war es zunächst auch in Sonneberg und Pforzheim, wo die Wahlbeteiligung massiv sank. Aber den Eliten ist eine geringe Wahlbeteiligung gleichgültig. AfD-Wahlerfolge sorgen dagegen für Aufmerksamkeit. Aber dabei bleibt es nicht: Anfangs wählen Menschen rechtsextrem, die kein rechtes Weltbild haben oder zumindest kein gefestigtes. Auf Dauer werden entsprechende Positionen aber normalisiert und übernommen. Gerade das ist das Gefährliche an der aktuellen Entwicklung.
Michael Hartmann ist Soziologe und betreibt seit 35 Jahren Elitenforschung. 2002 erschien seine empirische Studie Der Mythos von den Leistungseliten, 2018 das Buch Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden
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