Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2024

Ein Film über die Flüchtlingsabwehr an Polens Grenze zu Belarus
von Gaston Kirsche

Green Border – Zielona granica
Polen, Frankreich, Tschechische ­Republik, Belgien 2023
Regie: Agnieszka Holland
152 Minuten

Die Kinos, in denen der Film gezeigt wird, finden sich auf https://greenborder.pifflmedien.de/.

In Agnieszka Hollands Spielfilm Green ­Border geht es um die Flüchtlingsabwehr an der polnisch-belarussischen Grenze. Für die nationalkatholische Partei PIS ist sie deshalb eine Vaterlandsverräterin.

Sattgrün und friedlich sehen die Bialowieza-Wälder aus der Vogelperspektive aus. Im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus wird die Natur geschützt. Nach der schönen Naturfilmszene ist es mit der Farbe vorbei.
In einem vollbesetzten Flugzeug, aus der Türkei kommend, sitzt Leila (Behi Djanati Ataï) neben Amina (Dalia Naous), die ihre Kinder zusammenhält und das Baby stillt. Dabei will sie Leila erklären, warum sie aus der Stadt Harasta in Syrien geflohen ist. Leila erwidert auf Englisch, sie verstehe kein Arabisch, sie komme aus Afghanistan. Hinter Amina sitzt der Vater ihres Mannes, den die ganze Familie Opa nennt (Mohamad Al Ra­shi). Er übersetzt in die Verkehrssprache Englisch. Bis das Flugzeug in Minsk landet, kennt die Zuschauerin die ganze Familie, den Vater Bashir (Jalal Altawil), die Kinder Ghalia (Talia Ajjan) und Nur (Taim Ajjan). Nur langweilt sich, ärgert seine jüngere Schwester. Der Film steigt in das Familienleben ein, nimmt handwerklich gekonnt ihre Perspektive ein: Die Geflüchteten aus Syrien sind Subjekte, nicht Objekte des Films.
Im Flugzeug werden Rosen verteilt: Willkommen in Belarus, die örtliche Temperatur beträgt -2 Grad. Mit Rollkoffern und geladenen Mobiltelefonen geht es in einen bereit­stehenden Van, Richtung Polen in die Wälder: Der bereits in Schweden wohnende Onkel hatte gehört, dort sei es leicht, über die »Green Border« in die EU zu gelangen. Und dann gleich weiter, nach Schweden.
Beim ersten Grenzübertritt nach Polen sind sie erstaunt, dass die belarussischen Grenzer sie zur Eile antreiben, scheuchen. In Polen verrät sie ein Bauer, den sie um Wasser bitten, an den Grenzschutz. Andere Geflüchtete flehen sie an, sich schnell zu verstecken. Amina und ihre Familie verstehen nicht. Als sie in einen Lastwagen einsteigen müssen, bleiben die Rollkoffer zurück. Ja, wir fahren euch nach Schweden, lügt sie der leitende Offizier an. Am Stacheldraht der Grenze werden sie mit weiteren Geflüchteten auf die andere Seite, nach Belarus geprügelt, Mobiltelefone werden zerstört.
Ein Geflüchteter verliert seine Thermoskanne. Der polnische Grenzschutzoffizier macht sich einen Spaß daraus, das Glas in der Kanne erst zu zerschlagen und dann die Kanne zurückzugeben – hier hat jemand was verloren. Ein Geflüchteter verletzt sich beim Trinken an dem mit dem Getränk vermischten Glas. Hin und her getrieben von belarussischen und polnischen Uniformierten, hungrig, frierend, vom Regen und Sumpf durchnässt, verlieren die syrische Familie, andere Geflüchtete, auch aus Afrika, ihre Gesundheit, ihre Sicherheit. Entwürdigend, lebensgefährlich.
Im zweiten Teil des Filmes wird die Perspektive einer Gruppe von Helfer:innen eingenommen. Sie heißt so wie die größte Flüchtlingshilfeorganisation Polens: Grupa Granica. Bei ihren Bemühungen scheitert sie ständig, muss ohnmächtig zusehen, wie Geflüchtete, denen sie eben beim Ausfüllen von Asylanträgen geholfen hat, mit Lastwagen zurück zur Grenze gefahren werden.
Im dritten Teil geht es um einen Grenzschützer, Jan (Tomasz Wlosok), der zunehmend daran verzweifelt, wie inhuman und fern jeder Rechtsstaatlichkeit er mit seiner Einheit die Flüchtlingsabwehr betreibt.

Die Realität ist härter als der Film
Die Kamera ist nah dran am Geschehen. Schulterkamera, ohne Stativ. Im sumpfigen Urwald wackelt die Kamera zwar erstaunlich wenig, wenn die Geflüchteten vor den Grenzschützern weglaufen – aber so wie nichts sicher ist, sich die Lage nicht überblicken lässt, so ruckelt und springt das Bild. Die seltenen Panoramabilder offenbaren ein Szenario der Bedrohung, der Verzweiflung. »Einige Szenen im Film hatte ich selbst erlebt, sodass alle Erinnerungen wieder hochkamen«, erklärt Anna Alboth von Grupa Granica in einem Interview. Sie hat die Regisseurin Agnieszka Holland und ihr Team beraten: »Aber die Realität an der Grenze ist härter als im Film, das Drama da draußen ist noch größer – wir haben Hunderte von dramatischen Momenten erlebt, Konflikte mit den Behörden, Momente des Dilemmas.«
Agnieszka Holland erklärt zu ihrem Film, mit Green Border an ihren Film Hitlerjunge ­Salomon von 1990 anknüpfen zu wollen, dessen Titel eigentlich lautet: Europa, Europa. Sie sagt: »Die Dopplung im Titel sollte die Dualität der europäischen Tradition zum Ausdruck bringen – das Europa unserer Ansprüche, Wiege der Kultur und Zivilisation, die Richtschnur von Rechtsstaat und Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit und Brüderlichkeit – und auf der anderen Seite das Europa als Wiege der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, des Egoismus und des Hasses.
Holland sieht das Asylrecht als eine der Lehren aus der NS-Diktatur gefährdet: »Die Achtung dieses Rechts ist in den letzten Jahren allmählich erodiert, bis hin zu einer völligen Missachtung in der Europäischen Union, die sich in eine Festung verwandelt, während ihre Feinde – Leute wie Putin oder Lukaschenko – Krieg und Elend von Menschen, die vor Konflikten fliehen, als eine Art hybride Waffe einsetzen.«

Polnische Reaktionen
Nachdem Green Border beim Filmfestival von Venedig 2023 sehr gut aufgenommen wurde und den Spezialpreis der Jury sowie sechs weitere Preise gewann, erschienen auch in Polen einige positive Filmkritiken. Bereits Wochen vor dem Filmstart Ende September begann mitten im Wahlkampf die damals regierende, im Oktober abgewählte rechtskonservative PIS eine große Kampagne, um den Film zu diffamieren.
Die Sprecherin des Grenzschutzes, Leutnant Anna Michalska, beklagte in einem Interview mit der Polnischen Presseagentur, dass »uns niemand gefragt hat, wie die Situation an der Grenze aus unserer Sicht aussieht«. Green Border basiere auf »Verleumdungen und Unwahrheiten«, nicht auf »wahren Begebenheiten«und müsse als »eine von der Realität völlig losgelöste Vision der Regisseurin betrachtet werden«.
Der Vorsitzende der PIS-Partei, Jaro­slaw Kaczynski, erklärte in einer Rede in Wroclaw zwei Tage vor dem polnischen Kinostart von Green Border, der Film sei »antipolnisch« und eine »ekelhafte Verspottung, die Teil der Industrie der Verachtung Polens ist«. Außerdem sei Holland »Teil der Armee Putins«. Er warf ihr »Verleumdung der polnischen Uniform« vor und verglich sie mit den Propagandisten des Dritten Reichs, die, wie sie, auch »antipolnische Schmähschriften« verbreitet hätten.
Er verstehe die »Beweggründe von Frau Agnieszka Holland jedoch nicht ganz«, fuhr er verschwörungstheoretisch fort: Hollands Vater sei ein stalinistischer Kommunist gewesen, und einer von diesen gewissen Leuten, da falle ihm etwas ein, worüber er nicht sprechen wolle – ein klare Anspielung auf die jüdische Herkunft ihres Vaters Henryk Holland, dessen Eltern im Ghetto von Nazis umgebracht wurden und der in der Roten Armee gegen die Wehrmacht kämpfte. In der Volksrepublik Polen war der überzeugte Kommunist als Journalist tätig und polemisierte im stalinistischen Stil. Henryk Holland starb 1961 bei einem Verhör durch den KGB.
Agnieszka Holland lernte bei Polens bekanntestem Regisseur Andrzej Wajda, trotzdem wurde 1980 ein sozialkritischer, feministischer Film von ihr verboten. Sie ging 1981 nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen ins Exil nach Paris und arbeitete später auch in den USA.
Holland selbst verteidigte sich gegen »die Hasskampagne gegen den Schöpfer und den Film«, diese weise Ähnlichkeiten mit der staatlichen antisemitischen Kampagne gegen jüdische linke Intellektuelle auf, die »in stalinistischen Zeiten, im Jahr 1968, geschah«.
Die polnische Filmakademie protestierte gegen den Angriff auf die kreative Meinungsfreiheit und gegen die Beleidigung von Agnieszka Holland. Auch Aleksander Zelwerowicz, Präsident der Theaterakademie, erklärte: »Im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen um die Premiere des Films The Green Border und insbesondere mit der Gleichstellung der Filmbesetzung (zu der Mitglieder unserer akademischen Gemeinschaft gehören, darunter auch Studenten der Akademie) mit NS-Kollaborateuren bringen wir unseren entschiedenen Widerstand gegen aggressive und unverantwortliche Äußerungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, insbesondere von Politikern, zum Ausdruck.«
Auch Donald Tusk wandte sich im Wahlkampf gegen die Diffamierung von Agnieszka Holland – allerdings mit dem Argument, die Regierung habe mit ihrem im September bekannt gewordenen massenweisen Visaverkauf den Grenzschutz konterkariert; gleichzeitig behauptete Tusk, es gebe an Polens EU-Außengrenze keine illegalen Pushbacks.
Am 11.Januar veröffentlichten 101 NGOs und 550 Personen eine Erklärung, in der sie den neuen Premierminister Donald Tusk aufforderten, die Praxis, Migrant:innen zurückzuschicken, die irregulär aus Belarus die Grenze überqueren, zu beenden. Die Push­backs seien »grobe Menschenrechtsverletzungen«, die »keine humanitäre, moralische oder rechtliche Rechtfertigung« hätten: »Auf der belarussischen Seite erwarten sie Folter, Gewalt, unmenschliche Behandlung und rechtswidrige Inhaftierung im System.« Eine der 550 Einzelpersonen, die die Erklärung unterzeichnet haben, ist Agnieszka Holland.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Folgende HTML-Tags sind erlaubt:
<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>



Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.


Kommentare als RSS Feed abonnieren