Zum internationalen Frauentag
Zu den Bauernprotesten und den Veränderungen im ländlichen Raum
Im sozialen Bereich gibt es noch keine Einigung über Renten für Behinderte
Das linkskatholische Magazin Kontakt beschäftigt sich mit den unmenschlichen Verhältnissen an der Grenze zu Belarus.
8. März und die Frauen müssen wieder protestieren!
Die ganzen Jahre, während die PiS regiert hat, waren es vor allen Dingen die Frauen, die auf die Straße gingen und protestiert haben. Die Frauen waren es auch, die in überwiegender Mehrheit die PiS abgewählt haben und der jetzigen Koalition zum Sieg verholfen haben. Nun müssen sie wieder auf die Straße, wer weiß wie oft noch! Mir war klar, dass nach der Euphorie der gewonnen Regierung das Erwachen kommt und sich so manche die Augen reiben, mit wem sie da im Bett gelandet sind.
„Streik der Frauen“ vor dem Palast des Präsidenten
wprost, 8.3.2024
Am 8. März um 18 Uhr begann vor dem Palast des Präsidenten der Protest. Die Frauen verlangten von Duda, das Gesetz bezüglich der „Pille danach“ zu unterschreiben. Dieser hatte angekündigt, es nicht unterschreiben zu wollen. Sie verlangten, dass diese Tablette für alle Frauen ab dem 15. Lebensjahr ohne Rezept erhältlich wird. Sie erinnerten Duda daran, dass sie nicht mehr im Mittelalter leben und drohten ihm: „Du kommst in Knast!“
Danach begaben sie sich zum Sitz der Partei „Polen 2050“. Dort protestieren sie, weil deren Vorsitzender Holownia die Debatte über das Gesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verschoben hat. Die 16jährige Hania vom Olsztyner Frauenstreik beschuldigte den Sejm-Präsidenten, "den Frauen ins Gesicht zu spucken, indem er Abtreibungsprojekte hinauszögert". „Ich möchte wie die Bürgerinnen normaler, zivilisierter Länder leben, wie die Schwestern in Frankreich! Ich möchte für mich selbst verantwortlich sein, für meinen eigenen Körper", betonte der Teenager. Nastia, eine Aktivistin aus Weißrussland, erinnerte ihrerseits daran, dass "von Liza, die brutal vergewaltigt und ermordet wurde, gerade Abschied genommen wurde".
TVN morgens, 8.3.2024
Es waren die schwierigsten 48 Stunden für die Regierungskoalition. Die Wut, die Emotionen und die gegenseitigen Ressentiments waren so groß, dass uns Regierungspolitiker sagten: Hätte die Abstimmung heute stattgefunden, wären wahrscheinlich alle Gesetzentwürfe zur Abtreibung im Papierkorb gelandet. „Holownia führt Gespräche, sammelt Erklärungen und zählt die Stimmen“, erzählt uns ein Abgeordneter. „Und was ist das Ergebnis?“, fragen wir. Zwei Optionen liegen auf dem Tisch.
In den letzten 24 Stunden wollte Szymon Holownia eine weitere Kehrtwende vollziehen. Er versuchte, mit den Vorsitzenden und Abgeordneten der Koalitionsklubs zu verhandeln und von ihnen die Zusicherung zu erhalten, dass sie noch in dieser Sejm-Sitzung für die Überweisung aller vier Gesetzentwürfe (der Bürgerlichen Koalition, des Dritten Weges und der beiden Neuen Linken) an den Parlamentsausschuss stimmen können. Eine solche Debatte und Abstimmung müsste heute, d.h. am 8. März, dem Frauentag, stattfinden. Die Ergebnisse dieser Diskussionen sollen bis heute Mittag bekannt sein.
Aber nach unseren Informationen sind die Emotionen nach der Debatte vom Mittwoch so groß, dass insbesondere die PSL-Abgeordneten keine Möglichkeit sehen, heute für das Projekt der Linken zu stimmen, deren Abgeordnete sie noch vor zwei Tagen im Sejm angegriffen haben.
OKO.press.pl, 8.3.2024
Donald Tusk hat sehr scharf auf die Debatten über die Abtreibung reagiert: „Dies ist keine Sache der eigenen Auffassungen, das ist allein die Angelegenheit der Frauen. Ich warne unsere Partner!“ „Die Staatsanwaltschaft leitet von Amts wegen ein Verfahren ein, wenn ein legaler Schwangerschaftsabbruch abgelehnt wird. Kontrolle der Gewissensklausel. Das Urteil von Przylebska aus dem Jahr 2020 findet keine Anwendung. Das Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch bleibt ein Ziel.“
Die Abtreibung war das wichtigste politische Thema der letzten Tage in der Regierungskoalition. Szymon Holownia ändert seine Entscheidung jeden Tag. Am Montag, dem 4. März, kündigte er an, dass die vier Abtreibungsgesetze am 6. und 8. März im Sejm debattiert werden würden. Am Dienstag entschied er, dass dies nicht der Fall sein werde und verschob die Debatte auf den 11. April. Am Mittwoch bestätigte er seine Entscheidung und kündigte am Donnerstag an, dass er versuchen werde, die Dinge zu beschleunigen. Am Freitag verkündete er die "gute Nachricht", dass er die Zustimmung der gesamten Koalition habe, 4 Mal mit "Ja" zu stimmen, aber an dem Termin im April festhalten werde.
OKO.press.pl, 10.3.2024
Auf der Tagesordnung des Parlaments stand in der vergangenen Woche eine Debatte über Gesetze zur Liberalisierung der drakonischen Anti-Abtreibungsgesetze in Polen. Als alle in voller Bereitschaft waren und die Stunde Null nahte, erschien der Hüter des sozialen Friedens und des allgemeinen Einvernehmens zwischen allen und jedem auf der Bühne und sagte: Wisst ihr was, bei dieser Abtreibung müssen wir uns hinsetzen und in Ruhe darüber nachdenken und nicht sofort, denn wer braucht das schon? Der Vorsitzende von Polen 2050, der Präsident des Sejm, Szymon Holownia, spielte die Rolle des Aufpassers. Und er hat alle so sehr beruhigt, dass auf diesem Schlachtfeld kein Stein auf dem anderen blieb.
Holownia ist der Auffassung, dass das Gesetz noch nicht die Reife erreicht hat, um durch das Parlament zu kommen. Beobachter sind jedoch der Auffassung, dass es konservative Politiker zuvorderst des Dritten Weges und hier vor allen Dingen die Vorsitzenden Ho?ownia und Kosiniak-Kamysz sind. Dabei haben Umfragen bei ihren Mitgliedern ergeben, dass 54 Prozent von ihnen das Gesetz schnell verabschieden wollen, 35 Prozent haben es nicht so eilig.
Die Auswirkungen der oben genannten Berechnung des Sejm-Präsidenten sind bekannt – wir bekamen einen massiven politischen Streit. Mitglieder der Linken kamen schwarz gekleidet in den Sejm und geißelten Holownia von der Sejm-Tribüne aus "Sie haben die Sejm-Kühltruhe in eine lächelnde Kühltruhe verwandelt. (...) Dieser Blitz wird auf Sie gerichtet sein!", sagte die Fraktionsvorsitzende Anna Maria Zukowska. Auch Donald Tusk meldete sich am Freitag in hartem Ton zu Wort: "Ich appelliere noch einmal an alle unsere Partner: (...) Sie werden Ihre Ansichten und die Folgen Ihrer Ansichten nicht anderen aufzwingen, die andere Ansichten haben und selbst entscheiden wollen."
Studioopinii.pl, 7.3.2024
Szymon Holownia hat die erste Lesung von vier Gesetzentwürfen zur Abtreibung verschoben. Eine Angelegenheit von großer Bedeutung für die polnischen Frauen. Und sie waren eine der Hauptverantwortlichen für den Wahlsieg, der Polen verändert und Jaroslaw Kaczynski und sein Lager von der Macht entfernt hat.
Szymon Holownia hat mit Unterstützung der Konföderation die erste Lesung dieser Gesetze auf den 11. April verschoben. Die Begründung, die er dafür anführte, entbehrt jeder Logik – es könne nicht jetzt damit begonnen werden, weil "ein heißer Wahlkampf für die Kommunalwahlen" stattfinde.
Dies ist ein schwaches Argument. Der Wahlkampf hat gerade erst begonnen. Der 11. April ist erst eine Halbzeit des Wahlkampfes. Schließlich wird es eine zweite Runde geben. Und die erste Lesung ist erst der Anfang der parlamentarischen Debatte. Das Ergebnis der Debatte kann nur sein, die Gesetzentwürfe zur weiteren Bearbeitung an die Parlamentsausschüsse zu überweisen. Die Befürchtung des Parlamentspräsidenten, die jetzt beginnende Debatte könnte dazu führen, dass alle Projekte abgelehnt werden und die Frauen am Frauentag mit leeren Händen dastehen, ist absurd. Was – wie er meint – müsste sich denn bis zum 11. April ändern, damit sie dann zur weiteren Bearbeitung in die Ausschüsse geschickt werden, während sie jetzt alle im Papierkorb landen?
Betrachtet man jedoch die politische Szene als Ganzes, so muss ich zugeben, dass die Entscheidung des Vorsitzenden Holownia, des Vorsitzenden von Polen 2050 und des Dritten Weges ihn zum ersten Mal als Politiker zeigt und nicht nur als kultivierten Mann, der das parlamentarische Geschehen lenkt, Emotionen entschärft, Konflikte moderiert und dafür sorgt, dass im polnischen Sejm ein gewisser Anschein von Kultur und Normalität erhalten bleibt. Szymon Holownia erfüllt diese Rolle hervorragend, die Einschaltquoten der Sejm-Debatten brechen alle Rekorde und seine Popularität ist sprunghaft gestiegen.
Aber er ist auch ein Politiker, der wie jeder Politiker seine politischen Ziele verfolgt. Und diese stehen im Mittelpunkt seiner Entscheidungen. Der Politiker Holownia sagte, seine Haltung zu den Rechten der Frauen in Bezug auf die Abtreibung wird durch die Tatsache bestimmt, dass er Katholik ist und dass er nicht möchte, dass Katholiken, die für die Kommunalwahlen kandidieren, Angst vor dem Pfarrer haben.
Rebellische Landwirte - wer gegen wen?
Polityka, 27.2.2024
In ganz Europa werden die Proteste der Bauern, wie auch in Polen, von rechten Populisten missbraucht. An der Grenze schreit ein Szczepan Wojcik: „Wir marschieren alle zusammen, wir lassen uns nicht spalten, ab heute sprechen wir mit einer Stimme!“ Er ist der größte Pelztierzüchter Polens. Seine Tätigkeit wurde durch ein beabsichtigtes Tierschutzgesetz von Kaczynski bedroht. Aber ihm kam der Direktor des Medienimperiums Radio Maryja zur Hilfe. Jetzt zeigt sich Wojcik als Anführer der Proteste.
Seit dem Krieg in der Ukraine fallen die Getreidepreise und Russland überschwemmt zusätzlich den Weltmarkt mit Getreide, dass wollen die Blockierer nicht sehen, für sie tragen die Ukraine und die EU die Schuld.
Die Interessen der Getreideproduzenten decken sich weder mit den Nerzzüchtern noch mit den Jägern, die sich wiederum nichts von der EU vorschreiben lassen wollen, schon gar nicht wollen sie sich in Zukunft von Heuschrecken ernähren müssen. Aber sie sind bei den Protesten willkommen. Auch die Transportfirmen schließen sich ihnen an. Ihnen fallen die vielen Fahrten nach Belarus und Russland weg und nach Kasachstan müssen sie Umwege über die Türkei machen. Tusk erklärte die Grenzzugänge zur Ukraine als wichtige Infrastruktur, um den Zugang zur Lieferung von Hilfsgütern und Waffen in die Ukraine zu gewährleisten. Der Vorsitzende der Solidarnosc für Landwirte warf Tusk vor, auf diese Weise die Proteste zu unterdrücken.
Jetzt stehen die Kommunalwahlen an und so biedern sich immer mehr Abgeordnete, Organisationen und rechte Anführer den Bauern an. Eine sachliche Auseinandersetzung ist schon lange nicht möglich.
Proletarisierung des ländlichen Raume
www.rozbrat.org, 15.2.2024
Die Zahl der polnischen Bauern ist in den letzten Jahrzehnten stark geschrumpft. Von den mehr als zwei Millionen landwirtschaftlichen Betrieben, die bei der allgemeinen Landwirtschaftszählung von 1996 erfasst wurden, sind weniger als 1,3 Millionen übrig geblieben, und ihre Zahl geht weiter dynamisch zurück. Es wird geschätzt, dass von diesen 1,3 Millionen Betrieben nur noch weniger als 400.000 tatsächlich eine marktorientierte landwirtschaftliche Produktion betreiben. Die übrigen verpachten ihr Land meist an größere Landwirte und "ergänzen" ihr Einkommen möglicherweise durch Arbeit auf dem Land. Es ist kein Geheimnis, dass sich der polnische ländliche Raum in letzter Zeit proletarisiert hat. Die Einkommen der Familien auf dem Lande sind vielfältiger und beruhen oft hauptsächlich auf Lohnarbeit in der Industrie, dem Dienstleistungssektor oder dem Handel.
Insgesamt ist festzustellen, dass der Prozentsatz der in der polnischen Landwirtschaft (einschließlich Forstwirtschaft und Fischerei) Beschäftigten von 25,4 Prozent im Jahr 1991 auf 8,4 Prozent im Jahr 2021 gesunken ist, d.h. die überwiegende Mehrheit der Landbevölkerung lebt nicht von der landwirtschaftlichen Arbeit.
Es gibt auch eine Konzentration des Landbesitzes. Von den erwähnten 1,3 Millionen Betrieben spielen heute diejenigen mit 20 Hektar und mehr die entscheidende Rolle – sie sind eindeutig gewerblich geprägt. Insgesamt gibt es rund 146.000 von ihnen, das macht 11,3 Prozent der Gesamtfläche. Sie verfügen jedoch über 53,4 Prozent aller landwirtschaftlichen Flächen, und wenn man die informellen so genannten „Nachbarschaftspachten“ mitzählt vielleicht sogar über 2/3 aller landwirtschaftlichen Flächen.
Die Zahl der Viehzuchtbetriebe geht noch schneller zurück. An ihre Stelle treten große, industrielle Betriebe mit einer hohen Konzentration von Viehbeständen. Diese sind die wirtschaftlich bedeutendsten.
Die Besitzer der größten landwirtschaftlichen Betriebe berufen sich auf ihren Status als Bauern und behaupten, die Interessen des gesamten "polnischen Landlebens" zu vertreten, was ihnen Aufmerksamkeit und die Unterstützung der größten politischen Parteien verschafft, die sich um die ländliche Wählerschaft bewerben.
Die Klassenvertretung der Landbevölkerung hat schon lange keinen eigenständigen Charakter mehr. Die PSL hat sie verloren, und die Samoobrona ist degradiert worden. Mit den oben genannten Veränderungen haben sich auch die politischen Präferenzen der Bauern geändert.
Nach dem Ergebnis einer Umfrage, die IPSOS am Tag der Parlamentswahlen am 15.Oktober 2023 durchgeführt hat, erklärten 67,4 Prozent der Landwirte, dass sie für die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) gestimmt haben; für den Dritten Weg 10,6 Prozent (wobei wir davon ausgehen, dass es sich dabei zu einem erheblichen Teil um bisherige PSL-Wähler handelt); für die KO 9,7 Prozent; für die Konföderation 5 Prozent; für die Linke knapp 3 Prozent.
Wo bleibt versprochene Renten für Behinderten
OKO.press.pl, 9.3.2024
„Dank Ihnen, liebe Betreuer, liebe Eltern von Behinderten, ist Polen ein bisschen besser. Dank Ihnen ist das, was in Polen geschieht, schöner. Ich danke Ihnen noch einmal sehr, sehr herzlich“, und Tusk versprich dann am 25.Januar, dass die Regierung schnellstens ein Gesetz verabschieden wird, welches die Behinderten besserstellen soll. Die PiS hatte einen diesbezüglichen Gesetzesentwurf im März 2023 auf Eis gelegt.
Der jetzige Entwurf geht davon aus, dass die Sozialrente (heute 1.780,96 PLN brutto) auf 100 Prozent des Mindestlohns (heute 4.242 PLN brutto) angehoben werden soll.
Alle Koalitionäre haben sich dafür ausgesprochen. Die entsprechende Kommission erklärte allerdings am 5. März, dass das Projekt nicht so einfach zu realisieren sei. Die Probleme betreffen die hohen Kosten, die Verfassungsmäßigkeit und die scharfen Gegensätze in den Auffassungen der unterschiedlichen Behindertenverbänden. Dabei geht es u.a. um Behinderte, die gearbeitet haben und später erwerbsunfähig wurden, im Vergleich zu denen, die bereits vor der Aufnahme einer Arbeit behindert waren und keine Rentenpunkte sammeln konnten. Insgesamt müssen die Formen der Sozialleistungen untereinander abgewogen werden, damit es nicht zu Ungerechtigkeiten kommt.
Vergewaltigung in Belarus, Schläge in Polen
magazynkontakt.pl, 4.12.2023
Die Sicherheitsorgane behandeln Flüchtlinge zunehmend schlechter. Während es zu Beginn der Krise selten vorkam, dass Wachleute gezielt Flüchtlinge schlugen, weil dies bei der übrigen Patrouille verpönt war, begünstigt der Gruppendruck nun eher Gewalt. Von Migranten hören wir, dass praktisch jeder geschlagen wird. Das berichtet eine Aktivistin von der „Stra? Granica” (Grenzwache).
In Belarus existiert seit den Zeiten der UdSSR noch ein Sperrgebiet an der Grenze von bis zu 1,5 km, dieses darf nicht betreten werden. Es sollte verhindern, dass Menschen in den Westen flüchten. Dieses Sperrgebiet können die Geflüchteten nur mit Hilfe von Schleusern in Zusammenwirken der Grenztruppen betreten. Dort werden sie in Lagerhallen festgehalten und können nach Gutdünken der Truppe in Richtung Polen. Oder sie kaufen sich frei und können Richtung Polen oder Minsk ziehen.
Im Moment gibt es von der polnischen Seite aus gesehen zunächst etwa zwei Meter hohe Drahtrollen, dann einen Streifen der technischen Straße, die von Patrouillen benutzt wird, dann einen Zaun, an dem auf polnischer Seite eine weitere Drahtrolle liegt, damit Passanten nicht hineintreten können. Infolgedessen gibt es nicht nur viele Wunden zu versorgen, sondern es verfangen sich auch Tiere in dem Draht.
Es sieht recht unterschiedlich mit den Grenzern aus, aber vor der Wahl hat sich die Zahl der uniformierten Einsatzkräfte in den Wäldern sichtbar erhöht, mehr als verdreifacht. Zahlen sind eine Sache, eine andere ist die Brutalität der Uniformierten – hier sehen wir eine Veränderung gegenüber dem Beginn der Krise im Herbst 2021. Damals kam es selten vor, dass einer der Posten gezielt Flüchtlinge schlug, das war beim Rest der Patrouille verpönt, so eine Person wurde gestoppt. Menschen, die nicht gewalttätig waren und es auch nicht sein wollten, taten alles, um nicht mehr an die Grenze zu gehen. Sie ließen sich entlassen oder gingen in den Vorruhestand. Also blieben nur diejenigen, die die Brutalität gegenüber den Geflüchteten nicht störte. Es werden viele neue Leute in den Dienst aufgenommen. Diejenigen, die sich bewerben, wissen bereits, wofür sie sich bewerben und wie ihre Aufgabe aussehen wird. Wenn eine Gruppe von Menschen praktisch unbegrenzte Macht über eine andere erhält, fangen sie oft an, sich sadistisch zu verhalten, vor allem, wenn sie nicht miteinander auskommen, weil sie nicht die Sprache des anderen sprechen.
Darüberhinaus haben sie die reine Propaganda gehört, dass es sich um einen hybriden Angriff handelt und dass diese Migranten gekommen sind, um uns zu vergewaltigen. Sie haben also eine zunehmend negative Einstellung zu ihnen. Leider gibt es nach dem, was ich jetzt von den Wachleuten höre, einen Gruppendruck, Gewalt anzuwenden. Wir hören von den Migranten selbst, dass praktisch jeder geschlagen wird.
Ja, oft werden ihnen die Hände mit einem Dreizack auf dem Rücken gefesselt und sie werden verprügelt. Sie müssen sich zum Beispiel bis auf die Unterhose oder nackt ausziehen und erniedrigende Dinge tun: kriechen, Lieder in ihrer Sprache singen. Darüberhinaus wird ihnen vor dem Pushback auch noch das Essen und die Kleidung weggenommen. Es ist zum Standard geworden, ihnen die Schuhe wegzunehmen. Es gab einen viel beachteten Fall eines 17jährigen syrischen Mädchens, dessen Mutter in ein Krankenhaus in Hajnówka gebracht wurde. Die Tochter blieb im polnischen Wald und wollte zu ihrer Mutter, wurde aber zurückgedrängt, woraufhin die Beamten ihr die Schuhe stahlen. Wir konnten die Behörden nicht davon überzeugen, ihr die Erlaubnis zu geben, zu ihrer Mutter zu gehen. Die Wachen weigerten sich sehr lange, ihr sogar Schuhe über den Zaun zu geben. Schließlich, nach langer Zeit, stimmten sie zu.
Eine andere Situation: Anwohner der Grenze hörten, dass im Wald eine Razzia stattfand, und als sie kamen, wurden gerade sechs Männer auf einen Lastwagen geladen. Übrig blieben ihre Rucksäcke mit durchgeschnittenen Trägern, ihre Schuhe und ihre Brillen wurden zertrampelt. Das heißt, die Menschen sind ohne die grundlegenden Ressourcen, die ihnen das Überleben ermöglichen, zurückgelassen worden. Telefone wurden seit Beginn der Krise zerstört, aber die Tatsache, dass nun auch Kleidung und Lebensmittel weggenommen werden, ist eine Veränderung gegenüber dem Herbst 2021.
Nun ist eine neue Regierung und jeder hofft auf ein Ende dieses Ausmaßes an Gewalt. Von Seiten der neu gebildeten Regierung wird vor allem über die Abriegelung der Grenze gesprochen. Und die Grenze wird abgeriegelt, was implizit bedeutet, dass niemand sie überqueren wird. Wir wissen aber, dass immer Menschen die Grenze überwinden werden, weg von Krieg und Elend in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft…
Frage: Die Pläne der neuen Regierung sehen also vor, die Grenze abzuriegeln, aber wenn jemand hier ankommt...?
Antwort: Dann wird gesagt, diese Menschen human zu behandeln, Asyl- oder Abschiebeverfahren anzuwenden, je nachdem, ob die Person um Schutz gebeten hat oder nicht, gewaltfrei zu sein, humanitäre und medizinische Hilfe zu leisten. Dies ist zumindest die Idee, die derzeit immer häufiger vorgeschlagen wird. Ich kann mir vorstellen, dass diese Idee auf breite Zustimmung stoßen wird.
Frage: Aber wird es möglich sein, die Brutalität der Truppen von vornherein einzudämmen?
Antwort: Nicht so schnell, fürchte ich. Wenn sie einmal gelernt haben, andere gewalttätig zu behandeln, ist es für gewalttätige Menschen schwierig, so plötzlich damit aufzuhören.
Erinnerungen Geflüchteter ist das Ergebnis eines Projekts, bei dem die linkskatholische Internetplattform https://magazynkontakt.pl/ Flüchtlinge und Flüchtlingsfrauen eingeladen hat, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Das Ergebnis ist ein Buch mit 25 verschiedenen Geschichten auf 300 Seiten von geflüchteten Frauen und Männern, die von Erinnerungen über Kurzgeschichten bis hin zu Gedichten und sogar einem Märchen reichen. Nicht nur die literarische Form ist vielfältig, sondern auch die beschriebenen Geschichten. Was sie gemeinsam haben, ist die Erfahrung des Exils in Polen.
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