Die Anklage hat nichts in der Hand
von Gaston Kirsche
Wegen der G20-Proteste 2017 in Hamburg läuft inzwischen das 965.Verfahren
Der derzeitige Prozess gegen Demonstrierende, die bei den Protesten gegen den G20-Gipfel am 7.Juli 2017 in Hamburg in der Straße Rondenbarg verhaftet wurden, hat bereits acht Verhandlungstage hinter sich. Insgesamt gab es bis zur Eröffnung des jetzigen Verfahrens (12.Januar 2024) 964 Verfahren gegen 1286 bekannte beschuldigte Protestteilnehmer:innen.
»Wir haben in allen Erklärungen verdeutlicht, dass diese Anklage auf nichts anderem beruht, als dem reinen Vorwurf, vor Ort gewesen zu sein«, sagte der Verteidiger Adrian Wedel im Gespräch mit dem Autor. »Dieser Umstand und der Versuch der Staatsanwaltschaft, eine politische Demonstration zu einem nicht mehr grundrechtlich geschützten Aufzug von Gewalttäter:innen umzudeuten, stellen unserer Ansicht nach eine große Gefahr für die Versammlungsfreiheit insgesamt dar. Wenn in Zukunft jede und jeder damit rechnen muss, mit schwerwiegenden strafrechtlichen Vorwürfen konfrontiert zu sein, ohne selbst etwas getan zu haben, werden es sich viele Leute zweimal überlegen, ob sie noch an Versammlungen teilnehmen.«
Es ist der dritte Prozess gegen Teilnehmende des »Schwarzen Fingers«, die auf dem Weg vom Protestcamp im Hamburger Volkspark in die Innenstadt waren, um sich an der Blockade der Zufahrtswege zum Tagungsgelände zu beteiligen. Es war eine kleine, spontan zusammengefundene Demonstrationsgruppe mit unterschiedlichsten Menschen, die zum Protest zum Teil weit angereist waren, um ihren Unmut über das Treffen der zwanzig größten Wirtschaftsmächte kundzutun. Sie wollten sich an den öffentlich angekündigten Straßenblockaden beteiligen, mit denen die Delegationen unter anderem Saudi-Arabiens, Russlands, Chinas, der USA oder Deutschlands daran gehindert werden sollten, auf das Tagungsgelände zu gelangen – mit Mitteln des zivilen Ungehorsams also.
Nach einem eingestellten und einem unterbrochenen Prozess gegen jugendliche Teilnehmer:innen begann am 18.Januar der Prozess gegen eine Gruppe erwachsener Demonstrierender. 25 Prozesstermine sind angesetzt, bis in den August.
Nichts in der Hand
Das Vorgehen der Hamburger Staatsanwaltschaft ist auch in diesem Prozess wie überhaupt seit Beginn der Anklagen davon gekennzeichnet, möglichst drakonische Strafen zu fordern und die Demonstrierenden mit unpolitischen gewaltgeilen Hooligans gleichzusetzen, die sich nicht auf das Demonstrationsrecht berufen könnten.
Von den ursprünglich sechs Angeklagten sind im März noch zwei übrig – eine Angeklagte erschien nicht zu Prozessbeginn, weil sie gerade ein Kind geboren hat. Eine Angeklagte ist nicht auffindbar. Zwei Angeklagte sind im Februar auf ein von der Vorsitzenden Richterin Sonja Boddin initiiertes und von der Staatsanwältin Frau Meesenburg akzeptiertes Angebot eingegangen. Die Vorsitzende Richterin hat schon am ersten Verhandlungstag deutlich gesagt, dass selbst im Falle einer Verurteilung wegen des langen zeitlichen Abstands zum verhandelten Geschehen nicht mehr mit erheblichen Strafen zu rechnen wäre.
»Darüber hinaus hat die Kammer bereits gesagt, dass sie derzeit zentrale Punkte der Anklage anders beurteilt als die Staatsanwaltschaft und bei mehreren Tatvorwürfen derzeit nicht mit einer Verurteilung zu rechnen sei. Vor diesem Hintergrund wurde den Angeklagten die Einstellung des Verfahrens angeboten«, so Verteidiger Adrian Wedel.
Die Staatsanwaltschaft hat die Einstellung jedoch an die Bedingung geknüpft, dass eine Geldauflage gezahlt wird und die Angeklagten sich allgemein von Gewalt distanzieren – ganz so, als ob die Gewalt am Rondenbarg von den Demonstrierenden und nicht von der Polizei ausgegangen wäre. »Die verbliebenen beiden Angeklagten haben das abgelehnt und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es vor dem Hintergrund der massiven Gewaltanwendung der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) Blumberg absurd ist von den Angeklagten, denen selbst keine konkreten Handlungen vorgeworfen werden, eine Distanzierung von Gewalt zu verlangen.«
Ein politisches Motiv
Die beiden verbliebenen Angeklagten – Gabi Müller, so ihr geänderter Name, und Nils Jansen – wollen den Prozess bis zum Ende durchstehen und für die Verhandlungstage jeweils anreisen. Die anderen drei Angeklagten sahen sich dazu nicht in der Lage. Die beiden verbliebenen Angeklagten verlasen ein Statement: »Konkret ging es in der Prozesserklärung darum aufzuzeigen, dass das Elend, gegen das wir alle in Hamburg auf der Straße waren und das von der Politik der G20 angeheizt wird, systembedingt ist. Und dass die Gewalt, mit der sie sich und diese Verhältnisse verteidigen, natürlich empörend, aber eben leider genauso immanenter Teil des Ganzen ist«, sagt Gabi Müller im Gespräch mit dem Autor.
»Unser Verfahren, also der Versuch, Demonstrant:innen ohne individuellen Tatvorwurf zu verurteilen, ist ein langersehnter Schritt der konservativen Seite, der angesichts der Zuspitzung der Krise und der Widersprüche in dieser Gesellschaft immer mehr Befürworter:innen bekommt, damit sie einfacher gegen kommende Proteste vorgehen und ihren Reichtum schützen können. Aus all diesen Gründen lehnen wir den Deal der Staatsanwaltschaft ab und führen das Verfahren fort. Die Welt muss und wird auch nicht so bleiben, wie sie ist.«
Wichtige Punkte seien für die beiden verbliebenen Angeklagten: »Eine Einstellung mit Auflagen ist eine Art Schuldbegleichnis. Welche Schuld? Für welche strafbare Handlung? Auf einer Demonstration gewesen zu sein? Das ausbeuterische und gewaltvolle System nicht schweigend hinzunehmen?« Zweitens sind manche möglichen Strafvorwürfe, wie bspw. Vermummung, bereits verjährt. Drittens wurde das Verfahren gegen Fabio V., der konsequent jeden Deal, trotz Knast, abgelehnt hat, im August 2023 eingestellt.
Gabi Müller betont: »80 weitere Personen haben die gleiche Anklageschrift bei sich zu Hause. Lediglich konkrete Vorwürfe, wie zugewiesene Taschen oder Kleidung und das Vorstrafenregister unterscheiden sich teilweise. Was wird aus ihrem Verfahren, wenn bei uns, gegen die gar nichts vorgelegt werden kann, bereits gegen Auflagen eingestellt wird? Bekommen sie einfach einen auf dieser Grundlage zugeschnittenen Strafbefehl oder wird dann mit ihnen vor Gericht fortgefahren, auf Basis der Messlatte, die wir mit der Einstellung gesetzt haben?«
Freispruch für die beiden Angeklagten Nils Jansen und Gabi Müller! Einstellung aller G20-Rondenbarg-Verfahren!
Die Rote Hilfe e.V. hat eine Sonderseite zu den G20-Rondenbarg-Prozessen, https://rondenbarg-prozess.rote-hilfe.de.
Die Kampagne gemeinschaftlicher Widerstand hat die Seite https://gemeinschaftlich.noblogs.org.
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