Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2024

Der Schattenkanzler und sein Finanzminister
von Ingo Schmidt

In zwei Punkten sind sich Ampelkoalition, Unionsparteien und AfD einig: Die Rüstungsaufgaben müssen dauerhaft erhöht, die Steuerbelastung der Unternehmen gesenkt werden. Das eine dient der Kriegs-, das andere der Wettbewerbsfähigkeit. Das eine kostet den Staat Geld, das andere kostet ihn Einnahmen. Die Finanzierungslücke ist vorprogrammiert, Forderungen nach Senkung der Sozialausgaben zu ihrer Schließung ebenso.

Der Haushalt 2024 konnte verabschiedet werden, nachdem sich die Koalition auf Einhaltung der Schuldenbremse geeinigt, aber ein Hintertür offengehalten hat. Sollten mehr Mittel zur Unterstützung der Ukraine notwendig werden, kann die Regierung den Fuß auch wieder von der Schuldenbremse nehmen. Dem wird sich auch Lindner nicht widersetzen können. Sind ihm die Unterstützung der Ukraine und die Aufrüstung der Heimat doch mindestens so wichtig wie die Schuldenbremse.
Jüngst hat er sich offen dazu bekannt, den Bedürftigen zwecks Finanzierung neuer Kanonen die Butter vom Brot zu nehmen. SPD und Grüne haben dem widersprochen, mit erneutem Aussetzen oder einer Reform der Schuldenbremse, vielleicht auch neuen Sondervermögen sei genug Geld zu beschaffen, um Kanonen und Butter zu bezahlen. Aber sie sind Getriebene des Schattenkanzlers Merz und seines Manns in der de jure-Regierung Scholz.
De facto heißt die aktuelle Regierung Merz/Lindner, seit das BVG der Klage der Unionsfraktion gegen die Übertragung nicht genutzter Coronahilfen in den Klima- und Transformationsfonds stattgegeben hat. Lindners »Kanonen-statt-Butter«-Vorstoß gibt die Richtung an. Mit dem Wachstumschancengesetz verfolgen die beiden ihr nächstes Projekt.
Das im Februar vom Bundestag beschlossene und an den Bundesrat überstellte Gesetz bleibt noch weit hinter dem zurück, was die Stellvertreter des Kapitals im politischen System anstreben.

Gelegenheit macht Diebe
Krisen darf man nicht ungenutzt verstreichen lassen. Schon gar nicht nachdem die Corona-Pandemie das kapitalistische Wertesystem ins Wanken gebracht hat. Für einen kurzen Moment war die Versorgung mit Impfstoffen und Lebensmitteln wichtiger als Börsenkurse und Profitraten. Der Gebrauchswert, schlimmer: das Leben lugte hinter dem Tauschwert hervor.
Nach dem Ende der Coronarezession drohte sich das gewandelte Wertesystem in Forderungen nach besserer sozialer Absicherung zu verwandeln. Bei hohen Beschäftigungszahlen hatten sie Chancen, durchgesetzt zu werden. Ein Schreckensszenario für Börse und Profite. Nach dem Ende der Rezession sollte sich niemand einbilden, soziale Sicherheit könne dauerhaft aus dem Staatssäckel gewährleistet werden.
Da kam der russische Angriff auf die Ukraine wie gerufen. Die Inflationsrate, die sich schon vor dem Krieg gegenüber dem Rezessionstief mehr als verdoppelt hatte, schoß auf Werte, die noch über denen der stagflationsgeplagten 1970er Jahre lagen.
Börsenkurse und Profite gingen nach Kriegsbeginn kurzzeitig nach unten, nahmen danach aber schnell Kurs auf neue Höchststände – nicht zuletzt dank der Inflation, die der Privatwirtschaft insgesamt massive Umsatzsteigerungen bescherte, wenngleich einzelne Sektoren unter steigenden Energiekosten litten oder, wie Handwerk und Gastgewerbe, mangels Marktmacht ihre Preise nicht oder nur wenig erhöhen konnten. Das war den tonangebenden Wirtschaftskreisen egal.
Mit der Inflation kehrte die Angst zurück, stellte sich das kapitalistische Wertesystem wieder her, und »der Russe« war schuld. Inflationsbekämpfung gibt es jedoch nur, um den Geldwert zu erhalten, nicht als Preiskontrollen oder wenigstens in Form einer Übergewinnsteuer, sondern durch steigende Zinsen.
Der gewünschte Effekt trat ein. Ein Jahr nach dem Beginn des Ukrainekriegs begannen die Inflationsraten wieder zu sinken und liegen mittlerweile weit unter den Werten bei Kriegsbeginn. Das gilt auch für den Erdgaspreis, Öl kostet in etwa soviel wie vor Beginn der Corona-Pandemie. Wenn die gesunkenen Energiepreise nicht, oder nur in geringem Umfang bei den Verbrauchern ankommen, heißt dass, das der Energiehandel riesige Gewinne einfährt. Als die Preise höher waren, wurden die fetten Gewinne in der Energieproduktion gemacht.
Die hohen Preise drückten Realeinkommen und Konsum. Sie trugen damit zur Abschwächung der Konjunktur nach einem kurzen Post-Corona-Aufschwung bei. Dieser negative Effekt ist mit dem Rückgang der Inflation schwächer geworden. Dafür lasten nun höhere Zinsen auf kreditfinanzierten Ausgaben von Haushalten und Unternehmen, vor allem den kleineren, die nicht auf fetten Inflationsgewinnen sitzen.
Wirtschaftsforscher spekulieren, ob die Wirtschaft in Deutschland von Rezession oder »nur« von anhaltender Stagnation gekennzeichnet ist. Die ideale Gelegenheit, um politisch wieder die internationale Wettbewerbsfähigkeit ins Spiel zu bringen, die schon fast vergessen war. Klagen über den schlechten Zustand der deutschen Wirtschaft wurden lauter. Forderungen nach Steuerentlastungen auch.

Wachstumschancen für die Börse
Im Sommer 2023 hatte das Finanzministerium dem Kabinett den Entwurf des Wachstumschancengesetzes vorgelegt. Er wurde von der grünen Familienministerin Lisa Paus abgelehnt. Sie wollte Geld für Kinder, nicht Unternehmen. Dafür wurde sie vom Wirtschaftsminister und Parteifreund Robert Habeck scharf angegangen, der sich auf Lindners Seite schlug.
Der Gesetzentwurf, der Bundestag und -rat im November letzten Jahres vorgelegt wurde, sah verbesserte Abschreibungsbedingungen vor, die Unternehmen um insgesamt sieben Milliarden entlasten sollte. Die Union blockierte die Verabschiedung im Bundesrat. Zu der Zeit hatte das Verfassungsgericht ihrer Klage gegen die Übertragung nichtgenutzter Coronahilfen bereits stattgegeben und damit eine Lücke von 60 Milliarden in die Haushaltsplanungen der Ampelkoalition gerissen. Jetzt waren ihr die 7 Milliarden erweiterter Abschreibungen zuviel. Die Kürzungen beim Agrardiesel hingegen, auf die sich die Ampel nach dem Urteil des Verfassungsgerichts geeinigt hatte, wollte sie nicht akzeptieren.
Denn sie ist auf die Demontage von Bundeskanzler Olaf Scholz bedacht. Dafür nimmt sie schon mal in Kauf, dass die Verbände der mittelständischen Wirtschaft sie für ihre Blockadehaltung kritisieren. Der mittlerweile auf eine Entlastung von 3 Milliarden zusammengestrichene Gesetzentwurf wird im Bundesrat wahrscheinlich wieder scheitern.
Aber darauf kommt es gar nicht mehr an. Würden Steuersenkungen zu Investitionen führen, wären weder 7 noch 3 Milliarden ausreichend, den gewünschten Effekt auszulösen. Allein im dritten Quartal 2023 betrugen die Bruttoanlageinvestitionen in Deutschland 165 Milliarden Euro, die Unternehmensgewinne 231 Milliarden Euro.
Es sieht ganz so aus, als sei das Wachstumschancengesetz ein Versuchsballon für größere Projekte. Tatsächlich verbreiten Wirtschaftsforscher eifrig Zahlen über die Steuerbelastung im internationalen Vergleich. Die ist extrem schwer zu berechnen, weil die Abschreibungsmodalitäten von Land zu Land sehr verschieden sind und die nominellen Steuersätze zu unterschiedlichen effektiven Steuersätzen führen. Aber bei soviel Fachjargon hört schon keiner mehr zu. Die Botschaft kommt trotzdem an: Die Unternehmensteuern in Deutschland müssen drastisch gesenkt werden.
Dass Steuersenkungen in der Vergangenheit keinen merklichen Effekt auf die Investitionen hatten, stört dabei nicht, Hauptsache, die Gewinne steigen. Dass Steuereinnahmen infolge niedrigerer Steuern wegbrechen, ist ein Nebeneffekt, mit dem sich Kürzungen im Sozialhaushalt rechtfertigen lassen. Oder Privatisierungen.
Haben Finanzminister Lindner und Arbeitsminister Hubertus Heil unter dem Namen Rentenpaket II doch gerade ihre Vorstellungen zur Einführung einer Aktienrente in den Bundestag eingebracht. Demnach soll der Bund bis 2030 einen Rentenfonds von 200 Milliarden aufbauen, dessen Erträge die Alterssicherung bezuschussen sollen. Wenn es denn Erträge gibt. Den Fonds wollen Lindner und Heil nicht nur aus dem Verkauf öffentlichen Vermögens speisen, sondern auch mit Krediten. Aus den Erträgen des Fonds müssen dann erstmal Zinsen und Tilgungen gezahlt werden, bevor etwas für die Rente übrigbleibt.
Ob die Erträge wie erwartet sprudeln, ist auch ungewiss. Bei der Riesterrente war das nicht der Fall. An der Börse sieht es derzeit freilich ganz gut aus. Trotz lahmender Konjunktur gehen die Kurse in die Höhe. Kein Wunder angesichts guter Gewinnlage und der Erwartung kommender Steuererleichterungen.
Sollte die Aktienrente dann tatsächlich kommen, und sollten sich Rentenzahlungen aus ihren Erträgen abzeichnen, kommt sicherlich rechtzeitig eine Finanzkrise, die das Rentnerpack aus dem Kreis der ertragsberechtigten Investoren ausschließt. Damit die vornehme Gesellschaft wieder unter sich ist.
Sollten sich Merzens Ambitionen auf das Kanzleramt doch zerschlagen, kann er sicher zu seinem früheren Job als Blackrock-Manager zurückkehren.

Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.

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