Neuer Bericht zum Einsatz deutscher Waffen in Gaza – Boykott der Waffenlieferungen gefordert
Interview mit Shir Hever
Israelische Soldaten zerbomben Gaza mit deutschen Artilleriegranaten, gepanzerten Radfahrzeugen und Drohnen u.v.m. aus deutscher Produktion. Damit macht es sich mitschuldig am Völkermord. Nachstehend veröffentlichen wir Auszüge aus einem Interview, das Hever dem Online-Portal activism gegeben hat. Die Fragen stellte Zain Raza.
Die gemeinnützige Organisation Forensic Architecture hat einen Bericht* veröffentlicht, der beschreibt, wie das deutsche Militär Israel mit Waffen unterstützt – insbesondere bei seinem derzeitigen Angriff auf den Gazastreifen, der bisher 32600 Palästinenser getötet und weitere 75000 schwer verletzt hat (Stand: 29.März). Können Sie etwas über die Autoren des Berichts und ihren Hintergrund sagen?
Der Bericht ist äußerst wichtig. Forensic Architecture ist eine in London ansässige Organisation. Sie wurde von Eyal Weizman gegründet, einem Wissenschaftler israelischer Herkunft. Diese Organisation hat einige sehr wichtige Beweise für den israelischen Völkermord in Gaza veröffentlicht, einschließlich einer dreidimensionalen Analyse des Winkels, aus dem der Bombenangriff auf das Al-Shifa-Krankenhaus und andere Krankenhäuser erfolgte. Es gibt einen Zweig dieser Organisation in Deutschland, sie hat an diesem Bericht gearbeitet und versucht zu verstehen, wie tief die deutsche Regierung in die israelische Politik verwickelt ist und wie sehr sie daran beteiligt ist. Ich fühle mich geehrt, dass auch ich dazu beitragen konnte, Informationen für diesen Bericht zusammenzutragen.
Es gibt hebräischsprachige Forscher, die all die Bilder und Videos, die Soldaten in die sozialen Medien hochladen, verfolgen, um auf ihnen die Chargennummern und Seriennummern der Bomben zu finden, anhand derer sie zurückverfolgt werden können. Ohne diese Arbeit wäre es nicht möglich, ein vollständiges Bild von all den Waffen zu zeigen, die Deutschland mitten in einem Völkermord an Israel verkauft.
Was wurde bis jetzt aufgedeckt?
Obwohl ich seit Monaten an dieser Untersuchung arbeite, war ich von dem Bericht schockiert. Was da zusammengetragen wurde, habe ich nicht erwartet. Die US-Medien gehen davon aus, dass die USA mehr als 90 Prozent aller Waffen, insbesondere Munition, nach Israel liefern. Von den verbleibenden 10 Prozent sei der größte Lieferant Deutschland. Diesem Bericht zufolge aber spielt Deutschland eine viel größere Rolle. Das Stockholmer Institut für Friedensforschung SIPRI spricht von 30 Prozent, in manchen Jahren sogar von 47 Prozent.
Seit 2003 liefert Deutschland enorme Mengen an Waffen an Israel, der Bericht erstreckt sich auch über diesen Zeitraum: Munition, Bomben, Raketen, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie und – ganz wichtig – Schiffe, Marineartillerie, U-Boote für die Seestreitkräfte. Alle diese Waffen werden in Gaza eingesetzt. Es gibt eine Menge Beweise dafür, dass israelische Soldaten die Panzerabwehrrakete Matador einsetzen, eine gemeinsame Entwicklung von Israel, Deutschland und Singapur. Doch statt sie gegen Panzer abzuschießen, wie es vorgesehen ist, setzen sie sie gegen Wohnhäuser ein, um Menschen zu töten. Die deutschen Behörden haben die Videos gesehen, sie kennen die Tatsachen und haben trotzdem beschlossen, dem israelischen Militär mehr von dieser Munition zur Verfügung zu stellen, damit machen sie sich mitschuldig.
Ich war auch schockiert zu sehen, dass von allen Anträgen auf Waffenexporte aus Deutschland, die Israel gestellt hat, nachdem die massive Zerstörung und Tötung von Zivilisten bereits im Gange waren, 99,75 Prozent genehmigt wurden. Nur einer von 4000 Anträgen wurde abgelehnt. Das ist fast unbegreiflich, wenn man bedenkt, dass die deutsche Regierung diese Waffen selber als Kriegswaffen einstuft. Einige von ihnen wurden sogar mit großem Rabatt verkauft, um sie für Israel billiger zu machen.
Nach deutscher Definition sind Kriegswaffen solche, die in einem Krieg zwischen Staaten eingesetzt werden können. Der Krieg in Gaza ist aber kein Krieg zwischen Staaten. Er ist ein Vernichtungsfeldzug gegen eine Bevölkerung, die bereits unter militärischer Besatzung steht, was rechtlich gesehen illegal ist. Die Zivilisten, die bombardiert werden, können nirgendwo hinlaufen, sie sind mit Waffen konfrontiert wie die zur Panzerabwehr, schweren Bomben, Marineartillerie, gegen die sie keine Verteidigung haben. Solche Waffen unter solchen Umständen an Israel zu liefern ist kriminell.
Ich war auch schockiert zu entdecken, dass gar nicht das Verteidigungsministerium bei diesen Exporten die größte Rolle spielt. Ich hatte das erwartet, weil Pistorius den israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant nach Deutschland eingeladen hatte, um mit großer Zeremonie einen Waffendeal zu unterschreiben, bei dem Deutschland Waffen von Israel kauft. Das war zehn Tage nachdem Galant die Palästinenser menschliche Tiere genannt hatte, die kein Wasser und keine Nahrung erhalten sollten – also im Grunde den Völkermord ausrief. Ich dachte, Pistorius sei der Völkermörder in der deutschen Regierung. Aber nein. Die beiden Ministerien, die nach dem 7.Oktober eine Task Force zur Erleichterung von Waffenexporten nach Israel eingerichtet haben, waren das Außen- und das Wirtschaftsministerium – die Häuser Baerbock und Habeck. Sie haben schon die Eskalation des Krieges in der Ukraine vehement unterstützt.
In allen Videos ist zu sehen, dass die Artilleriegeschütze, mit denen Israel diese Verbrechen begeht, auf Rädern montiert sind. Die Geschützte können also vor und zurück bewegt werden. Die Soldaten berichten von der Front, dass sie nicht genug Munition haben, um den Gazastreifen so stark zu bombardieren, wie sie es wollen. Sie versuchen zu improvisieren und verschiedene Lösungen zu finden. Manchmal haben sie Artilleriegranaten, die nur für kürzere Entfernungen taugen, manchmal haben sie nur solche für größere Entfernungen.
Gaza ist wirklich klein, der Standort, von dem aus sie bombardieren, liegt außerhalb des Gazastreifens. Jedesmal wenn sie hin- und herfahren, müssen sie die Artillerie neu kalibrieren, das Ziel neu einstellen, und dafür müssen sie ein paar Schüsse abfeuern. Jedesmal bombardieren sie also dicht bebaute Stadtviertel in Gaza und töten viele Menschen, bis sie das Ziel eingestellt haben, das sie eigentlich beschießen wollen.
Dafür braucht man eine Artillerie auf Rädern. Das ist im Grunde ein großer Lastwagen, gepanzerte Radfahrzeuge – ein Exportschlager aus Deutschland. Auch die Motoren für diese Fahrzeuge und für die Panzer – die berühmten israelischen Merkava-Panzer – und die gepanzerten Mannschaftstransporter (APC), die Truppen tief in den Gazastreifen transportieren, kommen aus Deutschland.
Deutschland versorgt Israel auch mit großen Mengen leichter Munition. Hier ist der Bericht leider weniger detailliert, weil leichte Munition für Maschinengewehre unter den NATO-Staaten austauschbar ist. Der Text auf den Kugeln ist so klein, dass er auf den Bildern unmöglich zu lesen ist. So ist es nicht einfach zu beweisen, dass Soldaten mit deutschen Kugeln töten, etwa wenn sie im Al-Shifa-Krankenhaus von einem Zimmer zum anderen gehen und Menschen erschießen. Aber wir können mit großer Sicherheit sagen, dass das Fahrzeug, das die Soldaten in den Innenhof des Krankenhauses gefahren hat, wo das Massaker begann, einen Motor hatte, der in Deutschland hergestellt und dessen Export nach Israel von der deutschen Regierung genehmigt wurde – in vollem Bewusstsein, dass er für schwere Kriegsverbrechen verwendet würde.
Die deutsche Regierung sagt, Israel muss sich gegen eine terroristische Organisation verteidigen.
Nun, es gibt Regeln dafür, was in einem Krieg erlaubt ist und was nicht. Das israelische Anwaltsteam, das Israel vor dem Internationalen Gerichtshof gegen den Vorwurf des Völkermords verteidigt hat, hat behauptet, Israel handele in Selbstverteidigung. Mit dieser Behauptung gibt es aber ein ernsthaftes Problem. Denn Israel hat den Gazastreifen besetzt, seine Handlungen sind also illegal. Es gibt aber auch Regeln, was als unverhältnismäßige Gewaltanwendung gilt, welche Waffen in zivilen Wohngebiete verboten sind.
Die meisten Kriegsgesetze wurden als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg und die deutschen Völkermorde während dieses Krieges an Juden, Sinti, Roma und anderen Minderheiten formuliert. Gegen diese Gesetze verstößt die deutsche Regierung gerade auf eklatante Weise und zeigt damit, dass Deutschland allen Beteuerungen zum Trotz nichts aus der Geschichte gelernt hat.
Die Gesetze sind sehr klar: Phosphorbomben z.B. sind nicht erlaubt. Wenn Deutschland weiß, dass Israel sie dennoch in dicht besiedelten Gebieten einsetzt, dann hat ergibt sich daraus eine Drittstaatenverpflichtung, keine Waffen zu liefern.
Das Ganze hat jetzt eine neue Dimension bekommen. Denn am 26.Januar hat der Internationale Gerichtshof dem Staat Israel zur Auflage gemacht, Maßnahmen nach Artikel II der Völkermordkonvention zu ergreifen, um einen solchen zu verhindern. Dazu gehört auch, das Töten von Zivilisten zu stoppen.
Israel hat sich darüber hinweggesetzt, wie es auch den Waffenstillstand verletzt hat, zu dem die jüngste Resolution des UN-Sicherheitsrats aufgerufen hat. Ein Verstoß gegen einen UN-Beschluss wird aber ebenfalls als Verstoß gegen das Völkerrecht angesehen. Deutsche Waffenlieferungen an Israel in einem solchen Kontext sind also gleichfalls ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
Der Internationale Gerichtshof hat auch entschieden, dass Israel Hilfsgüter nach Gaza zulassen muss und die Zivilbevölkerung nicht aushungern darf. Israel hat auch diese Auflage nicht nur ignoriert, die israelischen Streitkräfte haben absichtlich Orte ins Visier genommen, wo Palästinenser:innen sich versammelt haben, um Lebensmittel in Empfang zu nehmen. Sie haben auch die mit der Verteilung beauftragte Hilfsorganisation World Central Kitchen angegriffen und sieben Entwicklungshelfer getötet.
Die Ermordung westlicher Entwicklungshelfer hat für noch mehr Aufruhr gesorgt, denn jetzt tötet Israel Bürger von Polen, Großbritannien und Kanada. Jetzt beginnen diese Regierungen zu protestieren, nachdem sie zuvor zur Tötung von Zehntausenden Palästinenser:innen geschwiegen haben.
Aber Deutschland verletzt weiter das Völkerrecht, weil es nicht alle Lizenzen für Waffenexporte nach Israel widerruft. Jeder, der versucht, in Zeiten des Völkermords Waffen nach Israel zu schmuggeln, müsste vor einem deutschen Gericht angeklagt werden.
Wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten der Klage gegen Deutschland ein?
Es gibt mehrere Klagen. Eine davon verfolgt das Ziel, dass Kriminelle in der deutschen Regierung wegen ihrer Mitschuld an Kriegsverbrechen und Völkermord zur Rechenschaft gezogen werden. Diese Klage wurde von Familienangehörigen getöteter Palästinenser in Gaza eingereicht. Ihr wird jedoch nur stattgegeben, wenn eine Staatsanwaltschaft in Deutschland entscheidet, das zu verfolgen. Das ist bislang nicht geschehen, und natürlich müssen wir Druck ausüben, dass es passiert. Andernfalls müssen wir vor internationale Gerichte ziehen. Ich denke, das wird am wirksamsten sein, denn natürlich wird die deutsche Justiz nicht bereit sein, die eigenen Verbrecher zu verfolgen.
Aber es gibt noch eine andere Klage. In ihr geht es darum, ein Urteil zu erreichen, dass die Waffenlieferungen gestoppt werden. Diese Klage wird von Menschen angestrengt, die noch am Leben sind. Ihr Recht auf Leben ist nach deutschem Recht geschützt. Dafür müssen die Waffenlieferungen gestoppt werden. Die Klage konzentriert sich also auf Verbrechen, die künftig mit den Waffen begangen werden können, nicht auf solche, die bereits begangen wurden. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Hier hängt die Strafverfolgung auch nicht von der Staatsanwaltschaft ab. Das Gericht wäre einfach gezwungen eine Entscheidung zu treffen, an die sich die Regierung halten muss.
Es gibt solche Klagen in vielen Ländern, in den Niederlanden, den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, Kanada, in Belgien und Spanien. Sie sind alle eine Kombination aus rechtlichen und politischen Bemühungen. In Kanada und in Spanien etwa haben die Parlamente Resolutionen zum Stopp von Waffenlieferungen nach Israel verabschiedet.
Was die Erfolgsaussichten betrifft: Ich denke, die Antwort liegt bei den Gewerkschaften der Transportarbeiter, der Hafenarbeiter, der Flughafenarbeiter, auch in den anderen EU-Ländern. In Griechenland, Zypern, Italien, Spanien, den Niederlanden und Belgien haben die Gewerkschaften bereits Erklärungen abgegeben, dass sie den Transitverkehr für Waffenlieferungen nach Israel verweigern werden.
Stellen Sie sich nur vor, was passieren würde, wenn ein Schiff aus Hamburg mit Waffen nach Israel in einem Hafen in Antwerpen, Cádiz oder Griechenland – sie müssen alle diese Zwischenstopps einlegen – angehalten und durchsucht wird. Und wenn Gewerkschaftsmitglieder dabei Waffen finden, die für Israel bestimmt sind, wird sofort Klage gegen das deutsche Unternehmen, die deutsche Schifffahrtsgesellschaft und die deutsche Regierung erhoben. Die Gewerkschaften müssen die Klage einreichen, wenn sie nicht selbst in Schwierigkeiten geraten wollen.
Wenn auf diese Weise das internationale Gerichtssystem gegen Deutschland mobilisiert würde, wäre das äußerst peinlich. Es wäre ein Versagen der deutschen Institutionen. Und eine völlige Blamage für einen Staat, der von sich behauptet, er habe aus dem Holocaust Lehren gezogen.
Wenn ein solches Szenario entstehen kann, dann denke ich, haben auch Klagen in Deutschland Chancen auf Erfolg, weil die Richter das Gesicht ihres Landes wahren wollen werden, indem sie die Waffenlieferungen stoppen, bevor es zu spät ist.
Shir Hever ist Autor und Wirtschaftswissenschaftler. Koordinator des Militärembargos des nationalen Boykottkomitees der BDS-Bewegung
Quelle: www.actvism.org/wp-content/uploads/2024/04/Bericht-enthuellt_-Deutschland-unterstuetzt-Israel-in-schockierendem-Ausmass-_-Dr.-Shir-Hever.pdf; von der Redaktion gekürzt.
*https://content.forensic-architecture.org/wp-content/uploads/ 2023/04/Forensis-Report-German-Arms-Exports-to-Israel-2003-2023.pdf.
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