Ein Blick auf die aktuelle Stimmung in Frankreich
von Edouard Soulier
Vom 6. bis 9.Juni finden die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) statt. Vorhergesagt wird ein starker Zuwachs der extremen Rechten und der Ultrakonservativen, vor allem aufgrund der Zuwächse der Partei von Marine Le Pen in Frankreich (RN – Rassemblement National), der AfD in Deutschland und der Partei von Geert Wilders in den Niederlanden (PVV). Eine Meinungsumfrage vom 20.März sieht die RN als stärkste Partei im EP.
Das Interesse an den Europawahlen ist mäßig, ihr Ausgang kann aber erhebliche Folgen haben. Es zeichnet sich ein Wahlkampf ab, der die Grundlagen des Selbstverständnisses der Europäischen Union neu definiert, da ein wachsender Teil der Mitgliedsländer bereit ist, sich auf den Grundkonsens zu einigen: Kontrolle der EU-Außengrenzen und Stärkung der Festung Europa.
Tödliche Grenze
Im vergangenen Jahr sind schätzungsweise 8000 Menschen beim Versuch umgekommen, das Mittelmeer zu überqueren. Doch das Budget für die einzige europäische militärische Streitkraft, nämlich Frontex, wächst stetig – allein 2023 umfasste es 800 Millionen Euro für die Überwachung, Kontrolle und Hightech-Erfassung der Migrant:innen. Damit werden ganz materiell Mauern errichtet und das Mittelmeer in einen Friedhof verwandelt.
Frontex hat die Aufgabe, Tausende von Menschen aus Afrika, aber auch aus dem Nahen Osten und namentlich jetzt aus Gaza zurückzuschicken, noch auf dem Meer, was illegal ist. Die Leitung von Frontex ist deswegen für schuldig befunden worden, der Verantwortliche musste gehen – ein Franzose, der auf dem dritten Listenplatz der RN zu den Europawahlen kandidiert.
Die Frage der Grenzen und der Einwanderung bildet den Brennpunkt des Aufstiegs, der Stärkung und Konsolidierung aller Organisationen der extremen Rechten in Europa. Ungarn, Italien, aber auch die Niederlande, Deutschland und jetzt auch Portugal, wo die rassistische Partei Chega mit der Losung »Gott, Vaterland, Familie und Arbeit« bei den jüngsten Parlamentswahlen einen spektakulären Durchbruch erzielt und die Zahl seiner Abgeordneten vervierfacht hat. Der Rassismus bleibt ein zentrales europäisches Problem und der vorherrschende politische Grundtenor – bis hin zur fast einstimmigen Unterstützung von Israels völkermörderischem Krieg.
Eine französische Eigenart
Als angekündigt wurde, die malisch-französische Sängerin Aya Nakamura werde für einen Auftritt bei den Olympischen Spielen (24.Juli bis 11.August) in Betracht gezogen, wurde eine rassistische Kampagne entfesselt, die wiederum von der extremen Rechten lanciert und von der konservativen Rechten aufgegriffen wurde. Diese Polemik gibt es jetzt jedesmal, wenn eine nichtweiße Künstlerin es schafft, nationale Aufmerksamkeit zu erringen.
Beim Gedanken, nichtweiße Menschen könnten Frankreich auf der internationalen Bühne repräsentieren, tritt die Rechte und extreme Rechte jedesmal die klassische Angstkampagne los.
Die Partei des Staatspräsidenten ist diesmal nicht in die Falle getappt und hat die rassistische Hetze gegen Aya verurteilt – doch mehr um sich politisch abzugrenzen denn aus Überzeugung.
Die Regierung Macron ist ganz klar eine Urheberin des derzeit herrschenden rassistischen Klimas, mit ihren immer entgrenzteren Angriffen auf Migrant:innen und das Asylrecht und vor allem ihrem neuen Einwanderungsgesetz, das Franzosen gegenüber Ausländern bei der Wohnungssuche, der Arbeitssuche und der Zahlung von Sozialleistungen bevorzugen wollte – es wurde allerdings vom Verfassungsgericht gestoppt.
Normalisierung
Im vergangenen Dezember ergab eine Meinungsumfrage, dass 45 Prozent der Franzosen kein Problem damit haben, dass die RN Teil einer Regierungskoalition wird oder eine Regierung gar anführt.Bei aller Vorsicht, mit der solche Umfragen zu genießen sind, ist klar, dass die RN heute in der Lage ist, solche Ziele zu erreichen. Man sagt ihr eine Spitzenposition bei den Wahlen im Juni voraus.
Die RN behauptet, sie vertrete die einfache Bevölkerung. In Wirklichkeit hat sie kein ideologisches Rüstzeug außer der Behauptung der Überlegenheit der Weißen. Mit Leichtigkeit wechselt sie von einem sozialen zu einem Unternehmerstandpunkt.
In all den Jahren ihres Bestehens bildeten Rassismus und Migrationsfeindlichkeit ihren einzigen Kitt. Alle ihre Stellungnahmen, insbesondere die in der Nationalversammlung, sind unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der »nationalen Präferenz« (des Vorrangs für Franzosen) und der Unterstützung des Unternehmertums zu sehen, die nur oberflächlich kaschiert wird, um sich einen volksnahen Anstrich zu geben.
Die Partei unterstützt Lohnforderungen, stimmt aber für die Befreiung von Soziallasten und gegen die Anhebung des Mindestlohns; für die Landwirte, aber gegen die Umweltauflagen, die sie schützen, usw.
Die Stimme für Le Pen ist jedoch kein Schicksal. Sie nährt sich vom Rassismus der Regierungen, einer nach der anderen, einschließlich der Begleitmusik der tonangebenden Medien. Mit den realen Migrationsflüssen hat sie nichts zu tun, im Gegenteil, es konnte gezeigt werden, dass »in Arbeitervierteln bei den Präsidentschaftswahlen 2017 die Stimmenabgabe für die RN umso schwächer war, je zahlreicher die Migrant:innen in dem Viertel waren« (zitiert nach Le Monde vom 17.11.2023).
Die Stimme für die RN ist eine Stimme gegen den sozialen Abstieg und gegen die angebliche Zurückdrängung der ethnischen weißen Vorherrschaft. Ein energischer Kampf gegen Rassismus, zur Unterstützung der Bevölkerung in den Arbeitervierteln könnte sie zurückdrängen. Auf der Seite sind die Bündnispartner zu suchen: gegen Rassismus und Islamophobie; gegen eine nationalistische und Stadtteile zerstörende Ausrichtung der Olympischen Spiele; gegen das Europa der Kontrolle der Grenzen und der Migrationsflüsse; öffentliche Dienstleistungen für alle.
Aus: l’Anticapitaliste, Monatszeitung der NPA, März 2024.
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