Statt sinnloser Maßnahmen Pflege stärken
von Matthias Becker
Der Bericht der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der staatlichen Maßnahmen während der Covid-Pandemie rückt näher. Werden die damals Verantwortlichen Einsicht zeigen, Selbstkritik üben?
Bisher tun sie ihre Versäumnisse mit unerträglicher Leichtigkeit ab. Zum Beispiel Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der einen »Lockdown für Ungeimpfte« fordert. Er mahnt, eine parlamentarische Untersuchung dürfe nicht in Schuldzuweisungen ausarten.
Der bayrische Ministerpräsident Markus Söder übte Druck auf die Ständige Impfkommission aus, weil ihre Mitglieder die Impfung für Kinder nicht empfahlen. Eine Aufarbeitung lehnt Söder ab, sie sei rückwärtsgewandt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach räumte schließlich ein, dass die Kita- und Schulschließungen die Ausbreitung des Virus nicht gehemmt haben. Keine andere Maßnahme hat der Bevölkerung so viel abverlangt, am meisten den Ärmeren, Berufstätigen und Alleinerziehenden. Nonchalant rechtfertigte er sich damit, die kritischen Stimmen seien »nicht laut genug gewesen«.
Neuartige Krankheitserreger stellen jedes politische System vor eine Herausforderung. Die Gefahr lässt sich kaum beurteilen, trotzdem müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden – unvermeidlich, dass es zu Fehlentscheidung kommt. Regierung und Behörden versagten jedoch dauerhaft und hartnäckig. Karl-Heinz Roth schätzt, dass in Deutschland bis zum Sommer 2021 etwa jeder dritte »mit oder an Covid-19 Verstorbene« in einem Alten- oder Pflegeheim wohnte. Wären die Angestellten täglich getestet und die Zahl ihrer Klienten beschränkt worden, hätten viele Opfer vermieden werden können.
Statt die Alten, chronisch Kranken und Heimbewohner zu schützen, wurde zu sinnlosen Maßnahmen gegriffen. Abweichende Positionen – Lauterbachs »Stimmen, die nicht laut genug waren« – wurden denunziert, Geriater, Kinderärzte, Gesundheitswissenschaftler waren in den Krisenstäbe nicht vertreten. Die Pandemiebekämpfung orientierte sich an der »Mikroskop-Wissenschaft statt an einer breit gefächerten Public-Health-Perspektive«, kritisierte die Kinderärztin Ursel Heudorf. Die zunehmende Polarisierung zwischen denen, die alles für Panikmache oder gar eine Erfindung hielten, und denen, die die Gefährlichkeit von Covid-19 überschätzten, kam der Regierung gerade recht.
Auch die Linke hat einiges aufzuarbeiten.
Die meisten Linken schlug sich auf die Seite der Staates. Sie überließen die Kritik an der Pandemiepolitik den Neoliberalen, Sozialdarwinisten und Verschwörungstheoretikern. Die Querdenkerbewegung legte sich darauf fest, dass Covid-19 nur ein Fehlalarm sein könne. Eine vernünftige Debatte wurde nahezu unmöglich, weil ideologisch-ideologiekritisch und moralisch völlig überfrachtet.
Die unbequeme Wahrheit lautet: Eine Atemwegsinfektion wie SARS-CoV-2 ist zu ansteckend und zu diffus, um sie mit unspezifischen Kontaktbeschränkungen einzudämmen. Ausbreitung und Immunität entwickeln sich nicht linear, auch nicht exponentiell. Die Kontaktbeschränkungen haben uns etwas Zeit verschafft, bis Impfstoffe verfügbar waren. Sie wirkten schweren Verläufen entgegen, aber nur bis zu einem gewissen Grad.
Die Möglichkeit, den Erreger auszurotten, war im Frühjahr 2020 verspielt – über den genauen Zeitpunkt ließe sich diskutieren –, eine Durchseuchung unvermeidlich. Nur Inselstaaten wie Neuseeland konnten sich einige Zeit lang isolieren, eine Strategie, die anderen Länder schon aufgrund fehlender Ressourcen verwehrt war. »Insgesamt ist ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Inzidenz und der Maßnahmenstärke nicht erkennbar«, stellte eine Kommission des Bundestags 2022 fest.
Die Strategie »Zero Covid« war nicht nur aussichtslos, sondern verlangte der Bevölkerung immer größere Opfer ab. Medizinische Behandlungen unterblieben, Isolation machte krank. Die Kollateralschäden waren zudem durchaus ungleich verteilt. Im geräumigen Eigenheim mit Garten ließ es sich deutlich besser aushalten als in einer engen Mietwohnung. Gut Situierte bezogen weiter ihr Gehalt und genossen die freie Zeit, die systemrelevanten Berufe arbeiteten weiter, prekär Beschäftigte verloren ihr Einkommen.
Jeder pandemische Erreger ist anders als der vorherige, mit eigenen Übertragungswegen, Symptomen und Therapien. Um sie zu bekämpfen, sind allerdings immer die gleichen Ressourcen notwendig: motivierte und lernfähige Mediziner und Pflegekräfte, ein funktionierender Gesundheitsdienst, um das Infektionsgeschehen zu überwachen und die Bevölkerung zu informieren, medizinische Forschung, unabhängig von kommerziellen Interessen und Staat.
Viele Beschäftigte in der medizinischen und pflegerischen Versorgung haben enorme Opfer gebracht. Sie wurden kurz beklatscht und dann vergessen. Die vielleicht wichtigste Lehre lautet, dass ihre Erfahrung nicht übergangen werden darf. Sie müssen sich unüberhörbar Gehör verschaffen.
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