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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2024

Ein Rezept nicht nur gegen große Immobilienkonzerne – doch ohne garantierten Bestand
von David Stein

Die Berliner Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE) nimmt einen zweiten Anlauf für einen Volksentscheid zur Vergesellschaftung von Wohnungen großer Unternehmen.

Beim Volksentscheid im September 2021 hatten rund 59 Prozent der Wählerinnen und Wähler – mehr als eine Million Menschen – in einem Beschlussvolksentscheid für die Vergesellschaftung von Immobilienunternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen in Berlin gestimmt. Seither hat der Berliner Senat keinerlei Schritte unternommen, eine diesem Votum der Bürgerinnen und Bürger entsprechende Gesetzesinitiative zu starten. Der seit April 2023 im Amt befindliche CDU/SPD-Senat hat verlauten lassen, dass er dies ebenfalls nicht beabsichtigt.
Um diese Blockadepolitik aufzubrechen, sollen die Berlinerinnen und Berliner nun nach den Plänen der Initiative in einem zweiten Volksentscheid über einen von ihr ausformulierten Gesetzesentwurf abstimmen, der in Kraft treten könnte, falls er die entsprechenden Mehrheiten bekommt. Denn dieser hätte – anders als der dem ersten Volksentscheid für ein Gesetzgebungsverfahren zugrundeliegende Text – rechtliche Bindungswirkung und würde nicht nur politischen Druck auf den Gesetzgeber entfalten.
Einer weiteren Befassung durch den Senat und des Abgeordnetenhauses in einem Gesetzgebungsverfahren bedürfte es dann nicht mehr. Materielle Aufweichungen im Gesetzestext oder die seit dem ersten Volksentscheid vom Berliner Senat eingeschlagene Verzögerungstaktik wären dann nicht mehr möglich.
Allerdings würde auch ein von der Initiative im Volksentscheid zur Abstimmung gestelltes Gesetz vom Berliner Landesverfassungsgericht rechtlich überprüft werden, wenn gegen dieses Gesetz innerhalb eines Jahres Verfassungsbeschwerde eingelegt würde. Die Klagebefugnis ist weit gefasst. Darunter fallen neben Privatpersonen u.a. Fraktionen im Abgeordnetenhaus und auch die betroffenen Unternehmen und Interessenvertreter der Immobilienwirtschaft. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass die Gegner der Vergesellschaftung den Klageweg beschreiten werden, um das Inkrafttreten zu verhindern bzw. weiter zu verzögern.
Der nach wie vor vorhandene Rückhalt der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« in der Bevölkerung lässt sich daraus ableiten, dass es dieser inzwischen in kurzer Zeit gelungen ist, über Crowdfunding genug Geld einzusammeln, um die Erarbeitung eines Gesetzesentwurfs durch Rechtsanwälte und Rechtswissenschaftler finanzieren zu können; er kann auf die für die Initiative positiven Ergebnisse der noch vom Vorgängersenat eingesetzten Expertenkommission zurückgreifen. Die Ergebnisse der Expertenkommission zeigten, dass Vergesellschaftung verfassungsrechtlich möglich und auch finanzierbar ist. Gleichzeitig benannte der Abschlussbericht auch die Probleme und politischen Spielräume, die ein Gesetz angehen muss, sie sind aber lösbar.
105600 Euro von 2305 Unterstützern wurden jetzt für die Erarbeitung des Gesetzesentwurfs gespendet, das Spendenziel wurde damit übertroffen. Die hohe Zahl der Spender ist ein Indiz dafür, dass die Forderungen der Initiative zur Vergesellschaftung von Wohnungen noch immer unterstützt werden, obwohl die Mobilisierung für den zweiten Volksentscheid noch gar nicht angelaufen ist.

Sozialer Wohnungsbau, der den Namen verdient
Die Dynamik der jahrelangen, erfolgreichen Mobilisierung für die Forderung nach bezahlbarem Wohnraum, die mit der Eigentums- und Vergesellschaftungsfrage verwoben ist, scheint in Berlin also bei leergefegtem Wohnungsmarkt und galoppierenden Wohnungsmieten nicht gänzlich verpufft zu sein. Eine Vergesellschaftung durch Volksentscheid hat zwar positive Auswirkungen im Zusammenhang mit der Preiskrise bei den Mieten, wenn große Vermieter wie der Immobilienkonzern Vonovia SE, der 2022 die Deutsche Wohnen SE mit über 120000 Wohnungen in Berlin geschluckt hat, vergesellschaftet werden und dadurch keine Marktmacht mehr haben. Vergesellschaftung kann dafür sorgen, dass zumindest im Bestand Mieten nicht noch weiter steigen und der Mietspiegel durch stabilisiert wird.
Eine Vergesellschaftung allein kann aber am akuten Wohnungsmangel in Berlin nichts ändern. Und der Markt wird das Problem ohnehin nicht lösen können, da Mietwohnungen im unteren Mietzinssegment – wenn überhaupt – von Investoren mangels Profitabilität nicht gebaut werden. Hierzu bedarf es anderer, zusätzlicher Programme neben der Vergesellschaftung von Teilen des Altbestands von Immobilien, die jedoch den Mangel nicht von heute auf morgen beheben kann. Es bedarf der Abschaffung des bisherigen »Sozialen Wohnungsbaus«, der nur eine Sozialbindung auf Zeit kennt und nur private Investoren steuerlich subventioniert. Der forcierte Bau von gemeinnützigem Wohnraum muss stattdessen dezentral stattfinden. Kommunen, Genossenschaften und selbstverwaltete Wohnprojekte müssen finanziell, auch durch die Zuführung von Eigenkapital und die Wiedereinführung der von der Regierung Kohl abgeschafften steuerlichen Begünstigungen für gemeinnützige Unternehmen gestützt werden.

Eine Strategie ist für soziale Bewegungen
Einen positiven Effekt hat die nach dem ersten Volksentscheid weitergeführte Kampagne der Initiative bereits jetzt: Sie hat maßgeblichen Anteil daran, dass das Thema Vergesellschaftung und Gemeineigentum derzeit Konjunktur hat. Dabei ist es nicht nur zum Gegenstand von Wissenschaft und Forschung geworden, sondern auch zum Arbeitsfeld praktischer Initiativen.
Die Kampagne hat politische Ableger in anderen Städten gefunden – etwa in Hamburg durch die Volksinitiative zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen. Heute geht es in den sozialen Bewegungen nicht mehr allein um Bodenpolitik und Mieterinitiativen. In mehreren Kongressen wurden seither Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft auch in anderen wichtigen Lebensbereichen nicht nur diskutiert, sondern die Bewegung auch stärker vernetzt.
Mit neuen Vergesellschaftungsstrategien wollen soziale Bewegungen den sozialökologischen Umbau der Gesellschaft jenseits von Marktbeziehungen, die an Profit ausgerichtet sind, flächendeckend vorantreiben. Im Bereich Landwirtschaft und Ernährung geht es um Fragen der Bodennutzung und die Rolle der marktbeherrschenden Agrar- und Lebensmittelkonzerne. Im Gesundheits- und Pflegebereich geht es um den Umbau leerstehender Shopping-Malls zu Sorgezentren, im Energiesektor um die Vergesellschaftung der großen Energiekonzerne bzw. um die Rekommunalisierung der privatisierten Stadtwerke. Und in Fragen der Mobilität geht es um die Vergesellschaftung der Autokonzerne und den Bau von Bussen und Zügen statt Luxuskarossen oder SUVs im Rahmen einer ökologischen Mobilitätswende. Im Fokus der Kritik stehen das Privateigentum an Produktionsmitteln, an Grund und Boden sowie an Naturschätzen und die Profitorientierung der vom Wachstumszwang angetriebenen Marktwirtschaft, die es zurückzudrängen gilt.
Neuland wird mit dem Thema Vergesellschaftung und der weitgehend konsentierten Strategie zur Erreichung dieses Ziels nicht betreten. Die gemeinsame strategische Klammer dieser neuen Vergesellschaftungsbewegung bilden weniger neue politische Programme oder gar gemeinwirtschaftliche Utopien des Kommunitarismus jenseits von Kapitalismus und Staatssozialismus.
Auch eine Schärfung des schillernden Begriffs der Gemeinwirtschaft steht nicht im Mittelpunkt der Debatte, sondern eine eher pragmatische Bezugnahme auf Art.15 GG, der die Überführung von Privateigentum an Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmittel in Gemeineigentum zum Zwecke der Vergesellschaftung unter den in diesem Artikel genannten Voraussetzungen gestattet. Zu Formen und Inhalt des Gemeineigentums äußert sich die Rechtsnorm im Grundgesetz nicht. In den sozialen Bewegungen herrscht ein wenig ausgeprägter Konsens, dass die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ihrem privatnützigen Zweck entzogen und sie stattdessen öffentlich, kooperativ und gemeinnützig ausgestaltet sein soll: kurzum, im Interesse des Gemeinwohls.

Chancen und Risiken beim Bezug auf Art.15 GG
Der Art.15 GG hat wie sein historischer Vorgänger in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahr 1949 in der Praxis keine Bedeutung gehabt, bis er von der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen in die Verfassungswirklichkeit zurückgeholt worden ist. Der Artikel trägt rechtshistorisch die sozialdemokratische bzw. gewerkschaftliche Handschrift der »Gemeinwirtschaft«, wie sie in der Weimarer Republik verstanden wurde.
Von sozialen Kämpfen und politischen Debatten im Jahr 1948 war der Grundgesetzartikel nicht begleitet. Er fand seinen Weg als 1:1-Kopie aus der Weimarer Reichsverfassung ohne große Auseinandersetzung in den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee der »Väter und Mütter des Grundgesetzes« – mit dem Votum der CDU – und dann in das Grundgesetz im Jahr 1949. Forderungen zur Vergesellschaftung der Montanindustrie und damit der maßgeblichen Profiteure faschistischer Kriegswirtschaft gab es kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges insbesondere in der britischen Besatzungszone, mit dem beginnenden »Wirtschaftswunder« jedoch nicht mehr.
Der Pragmatismus der sozialen Bewegungen, die sich auf den Vergesellschaftungsartikel im Grundgesetz stützen, ist zweifellos mit großen Chancen verbunden. Aber auch mit Risiken.
Die Mobilisierung um den ersten Volksentscheid in Berlin war ein Erfolgsmodell. Er machte durch die Bezugnahme auf das Grundgesetz den Weg frei für eine weitreichende gesellschaftliche Einbeziehung von sozialen Gruppen einschließlich von Teilen der Gewerkschaften und der Mietervereine. Von dieser Breite sind die Träger der gegenwärtigen Debatte um Vergesellschaftung in allen Lebensbereichen noch weit entfernt.
Die Berufung auf den Vergesellschaftungsartikel hat, zusammen mit dem Hebel des Volksentscheids, die materiellrechtliche Durchsetzung von politischen Ansprüchen auf Gemeineigentum innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens im Kapitalismus vermittelbar und greifbar gemacht, ohne sich an die desavouierte Zentralverwaltungswirtschaft der DDR anlehnen zu müssen.
Rechtsnormen, auch die Artikel einer Verfassung, besitzen jedoch – wie auch die »herrschende Meinung«, wie sie sich in Entscheidungen der Obergerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts niederschlägt – ebensowenig eine Ewigkeitsgarantie wie die von Gott gesandten Zehn Gebote für das Christentum und Judentum. Auslegung und Inhalt von Rechtsnormen sind immer Ausdruck von bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen, insbesondere von Kräfteverhältnissen.
Im Jahr 2019 wollte die FDP, namentlich der jetzige Justizminister Marco Buschmann, Art.15 GG als »Verfassungsfossil« aus dem Grundgesetz streichen. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit hat sie dafür zu dem Zeitpunkt nicht gehabt. Das kann sich ändern. Bisher ist zwar davon auszugehen, dass das Berliner Landesverfassungsgericht oder das Bundesverfassungsgericht mehrheitlich nicht die Auffassung vertreten, dass der Vergesellschaftungsartikel nicht zwingend eine Entschädigung nach Marktwert wie bei der Enteignung verlangt, sondern eine Entschädigung weit darunter erlaubt. Der Wortlaut des Art.15 GG gibt auf diese Frage jedoch, anders als sonstige Auslegungsmethoden, keine klare Antwort.
Würde sich die gegenteilige Auffassung durchsetzen, wäre dies das Ende einer auf das Grundgesetz gestützten Positionierung. Die sozialen Bewegungen sollten sich deshalb Gedanken um einen »Plan B« machen.

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