Alfonsina Strada, die einzige Starterin beim Giro d’Italia der Männer
von Kai Böhne
Neben der Tour de France und der Vuelta a España gehört der Giro d’Italia weltweit zu den bedeutendsten Länderrundfahrten des Straßenradsports. Seit 1909 wird der Giro alljährlich im Mai ausgetragen. Die wechselnde Streckenführung führt durch Italien und das angrenzende Ausland. Bis in die 60er Jahre startete das Rennen in Mailand, dem Hauptsitz der Tageszeitung Gazzetta dello Sport, die den Wettstreit als Werbeaktion initiiert hatte.
Rund acht Jahrzehnte hindurch war der Giro eine reine Männerdomäne. Frauen waren ausgeschlossen.
Erst 1988 etablierte sich parallel zum Straßenrennen der Männer ein nur von Frauen gefahrener Giro d’Italia Donne. Die Damenveranstaltung wird im Juli, zwei Monate nach der Herrenveranstaltung, ausgetragen.
Doch vor 100 Jahren, im Mai 1924, gab es eine Ausnahme: Alfonsina Strada, die Tochter eines Landarbeiters, hatte sich als eine von 90 Teilnehmern angemeldet. Mit der Startnummer 72 war Strada die einzige Frau, die jemals bei einem Giro d’Italia der Männer startete. Nur 30 Fahrer erreichten nach über 3600 strapaziösen Kilometern, verteilt auf zwölf Etappen – mit vielen verheerenden Stürzen, unzähligen Reifenschäden und steinigen Schotterpisten – am 1.Juni 1924 das Ziel in Mailand.
Zu ihnen gehörte auch Alfonsina Strada. Ihr Erfolg als erste und einzige Frau, die das Etappenrennen durchstand, machte sie zu einer legendären Heldin in der Geschichte des italienischen Sports. Sie wurde zum Symbol der weiblichen Emanzipation, die sich beharrlich den traditionellen Geschlechternormen der damaligen Zeit widersetzte.
Die italienische Post erinnerte am 8.März 2024 mit einer Sondermarke an den 100.Jahrestag der erfolgreichen Teilnahme der überragenden Ausnahmeathletin am Giro d’Italia. Die Auflage der Sondermarke beträgt 250000 Exemplare.
Weil sich die Radsportlerin als Alfonsin Strada zum Rennen eingeschrieben hatte, war nicht sofort aufgefallen, dass sie eine Frau war. Doch ihr Geschlecht wurde noch vor dem Start bekannt. Einige der männlichen Fahrer weigerten sich daraufhin, gegen eine Frau zu starten. Der Veranstalter, die Tageszeitung La Gazzetta dello Sport, köderte die zusagenden Teilnehmer mit dem Versprechen, die Kosten für die Unterkunft am Etappenziel zu übernehmen und Verpflegung zur Verfügung zu stellen: 600 Hühner, 750 Kilo Fleisch, 4800 Bananen, 720 Eier, 300 Kilo Kekse, 120 Kilo Schokolade, 2000 Flaschen Mineralwasser, Marmelade und Obst wurde zugesagt. Alfonsina Strada durfte das Rennen mitfahren.
Für die Vermarktung des Rennens und die Reportagen in den Sportmagazinen waren die konträren Meinungen und Standpunkte, die zwischen Ablehnung und Verehrung gegenüber Alfonsina schwankten, durchaus förderlich.
Hindernisse über Hindernisse
Auf der ersten Etappe von Mailand nach Genua erreichte Strada als 74. die Hafenstadt. Nach dem Start in Genua überfuhr sie als 56. von 65 die Ziellinie in Florenz. Ein Wetterumschwung brachte strömenden Regen, die unbefestigten Straßen wurden matschig und von herabgestürzten Steinen übersät. Strada stürzte häufig, viele andere auch. Als ihr Lenker auf der achten Etappe von L’Aquila nach Perugia brach, ersetzte sie ihn durch einen Besenstil. Nur mit Durchhaltewillen kämpfte sie sich ins Ziel, überschritt aber das Zeitlimit. Deshalb sollte sie zunächst vom Rennen ausgeschlossen werden. Doch weil sie das Publikum anzog und die Journalisten über sie schrieben, ließ der Veranstalter sie außerhalb der Wertung weiterfahren.
Am Ende der zehnten Etappe von Bologna nach Fiume, die Alfonsina nur unter Schmerzen und Erschöpfung durchstand und bei der sie abermals das Zeitlimit überzog, wurde sie von einer Menschenmenge vom Rad gehoben und getragen. Der enthusiastische Empfang motivierte sie und gab ihr die Kraft, bis zum Ziel in Mailand durchzuhalten. Das entbehrungsreiche Durchstehen dieses Giro steht exemplarisch für ihr gesamtes, außergewöhnliches Leben, in dem sie viele Hindernisse zu überwinden hatte. Es zeigt aber auch, wie ein einzelner mutiger Mensch die Vorurteile einer Gesellschaft überwinden kann.
In Italien ist Alfonsina Strada bis heute unvergessen: In Mailand wurde eine Straße nach ihr benannt. Die Musiker der Band Tête de bois widmeten ihr die gefühlvolle Ballade »Alfonsina e la bici« (Alfonsina und das Fahrrad), ein Kinderbuch würdigt sie als Vorbild für Stärke und Willenskraft, und die Autorin Simona Baldelli ließ ihr Leben und ihre Beharrlichkeit mitfühlend und anschaulich in einem biografischen Roman aufleben.
Simona Baldelli: Die Rebellion der Alfonsina Strada. Roman. Köln: Eichborn, 2022. 334 S., 13 Euro.
Joan Negrescolor: So schnell wie der Wind. Die Geschichte von Alfonsina Strada. Berlin: Gestalten Verlag, 2020, nicht vorrätig.
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