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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2024

Ein Denkmal aus Wegesrand-Steinen
von Kai Böhne

Unabhängig von allen künstlerischen Strömungen gestaltete der französische Postzusteller Ferdinand Cheval ein einzigartiges, märchenhaftes Bauwerk aus Wegesrand-Steinen.
In seiner Bibelübersetzung des Buches Jesaja schreibt Martin Luther vom »Stein des Anstoßes« und vom »Fels des Ärgernisses« (Jes.8,14). Seine Formulierung wurde zum Allgemeingut und kennzeichnet im übertragenen Sinn den Auslöser eines Streits oder Ärgernisses.

Ob sich der französische Landbriefträger Ferdinand Cheval (1836–1924) ärgerte, als er eines Tages im April 1879 auf seiner Zustelltour in Tersanne, einer kleinen Nachbargemeinde seines Wohnorts, über einen Stein stolperte, ist nicht überliefert. Cheval betrachtete den interessant geformten Stein, nahm ihn als Anregung und begann fortan, auf seiner Zustelltour systematisch auf ungewöhnliche Steine am Wegesrand zu achten. Er legte sie beiseite, merkte sich den Fundort und holte sie abends nach Dienstschluss mit einer Schubkarre auf sein Grundstück, das er von dem Geld seiner zweiten Frau erwerben konnte.
Nach Beendigung der Grundschule hatte Cheval ein Bäckerlehre begonnen, stellte zunächst ein knappes Dutzend Jahre lang Backwaren her und verdingte sich dann als Landarbeiter, bevor er im Juli 1867 offiziell seinen Dienst als Zusteller der Postverwaltung antrat. Er übernahm zunächst unterschiedliche Zustellbezirke. Nach eineinhalb Jahren bat er um seine Versetzung nach Hauterives, in die Nähe seines Heimatdorfs. Hier übernahm er eine rund 32 Kilometer lange Tour, die er täglich absolvierte – 27 Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1896.

Ein Palast zum Anschauen
Über drei Jahrzehnte leitete und motivierte Ferdinand Cheval die Idee, einen fantastischen Traumpalast zu errichten, den er »Palais idéal« nannte. »Nachts im Schein einer Petroleumlampe« vermauerte er die zusammengetragenen Steine mit Kalk, Mörtel, Zement und Metallverstärkungen zu einem märchenhaften Barockpalast. Der 12 Meter hohe und 26 Meter lange Bau ließ »arabische, griechische und hinduistische Kulturen« miteinander verschmelzen, heißt es in einer Pressemitteilung der französischen Post.
Cheval fehlten die Mittel und Möglichkeiten, internationale Reisen zu unternehmen. Die Ansichtskarten, die er austrug, inspirierten ihn zu seinem bizarren Schloss aus unterschiedlichsten Baustilen verschiedener Kontinente. 33 Jahre, von 1879 bis 1912, arbeitete der mauernde Briefträger an der Konstruktion des schwer einzuordnenden Gesamtkunstwerks. Sein Bauwerk war nicht bewohnbar, es sollte ursprünglich einmal als Familiengrabstätte dienen. Doch die erforderliche Genehmigung wurde dem Postboten mit der Maurerkelle verweigert. Daher errichtete Cheval später auf dem lokalen Friedhof von Hauterives ein Grabmal in ähnlichem Stil.

Späte Ehrung
Mit zahlreichen Inschriften am Palast versuchte Ferdinand Cheval seine Motivation und Weltsicht zu erklären. Dennoch hielten ihn seine Zeitgenossen auf dem Land lange für einen skurrilen Spinner. Erst im Jahr 1905 setzten langsam Neugier und Anerkennung ein. Erste Besucher ließen sich von Cheval durch sein monumentales Denkmal führen. Die künstlerische Avantgarde war aufgeschlossener. Der surrealistische Poet André Breton ehrte Ferdinand Cheval mit einem Gedicht. Max Ernst und Pablo Picasso widmeten dem Postboten jeweils ein Gemälde. 1969 wurde das Palais idéal unter Denkmalschutz gestellt.
Anlässlich des 100.Todestags des kreativen Landpostboten mit dem breiten Schnurrbart erschien im April 2024 ein attraktiver Briefmarkenblock, der die Geschichte des Künstlers und seines Werkes anschaulich illustriert. Ihn gestaltete die Graveurin Sophie Beaujard; es wurden 350000 Exemplare davon hergestellt.
Beaujard wurde von 1982 bis 1988 an der Ecole Estienne, einer Graduiertenschule für Kunst und Druckindustrie in Paris, ausgebildet. Als unabhängige Künstlerin, die durch ihre Kinderbuchillustrationen bekannt wurde, arbeitete sie mehrfach für die französische Post. In den vergangenen Jahren verwandelte sie Porträts des Schriftstellers Marcel Proust, der Dramatikerin Marguerite Duras, der Humanistin Germaine Ribière, des Tiermediziners Claude Bourgelat und der Philosophin Simone de Beauvoir zu Briefmarkenkunstwerken.

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