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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2024

Vor 30 Jahren wurde mit Stuttgart 21 die Zerstörung des Bahnknotens und der neoliberale Umbau der Stadt angeschoben
von Tom Adler

Vor 30 Jahren, am 18.April 1994, wurde das Tunnelbahnhofsprojekt Stuttgart 21 von fünf profitlich feixenden Herren der Presse vorgestellt. Kein Superlativ sei übertrieben, strahlte Ministerpräsident Erwin Teufel, sekundiert von Herren, die inzwischen meist tot oder nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen sind für das, was sie seither der Stadt und dem Bahnverkehr angetan haben: Die fatalste Weichenstellung für Stuttgart nach dem (Nachkriegs-)Umbau zur »autogerechten Stadt«.*

In den 30 Jahren des S21-Desasters sind Angela Merkels »marktkonforme Demokratie« und Jean-Claude Junckers offenherziges Diktum »Wenn es ernst wird, musst du lügen!« eine innige Verbindung eingegangen: Missachtung der Bedürfnisse der Stadtbewohner und der Bahnreisenden zugunsten der Umlenkung von inzwischen mehr als 11 Milliarden Euro öffentlicher Gelder in die Kasse von Baukonzernen. »Unglaublich, was hier für totes Kapital herumliegt!«, verdeutlichte Heinz Dürr schon 1994 auf einer Pressekonferenz, dass es nicht um mehr Schienenverkehr ging.
Und auch nicht um Wohnungsbau auf dem Gleisvorfeld, schon gar nicht sozialen: Ein neues Regierungsviertel sollte entstehen: »Mitten im Zentrum, so verkehrsgünstig wie überhaupt nur möglich, wären Gewerbeflächen in Hülle und Fülle möglich«, feierte der Kommentator der Stuttgarter Zeitung (19.4.2024) den Tunnelbau. »Die Gleisanlagen blockieren … jeden Unternehmer, der vergeblich nach einem zentrumsnahen Standort sucht.«
Als in der Stadtgesellschaft statt Begeisterung der Widerstand wuchs, wurde die Jean-Claude-Juncker-Methode zum täglichen Handwerkszeug der Projektunterstützer: Tarnung, Täuschung der Öffentlichkeit und Lüge. Von einem »Immobilienprojekt« wird gar nicht mehr gesprochen, sondern in der Not alles auf die Karte »bezahlbarer Wohnungsbau« gesetzt. Denn die herbeifantasierte Leistungsfähigkeit des Tunnelbahnhofsystems ist inzwischen in sich zusammengefallen und auch nicht reparierbar. Der sichere Brandschutz: Die Bahn kann dafür heute nicht einmal eine Brandfallsimulation vorlegen. Die Kosten: Ein peinlicher Offenbarungseid jagt den nächsten, Ende nicht absehbar.
Das Totaldesaster des Projekts nach 30 Jahren ist heute Symbol für und Teil des desaströsen Zustands der Deutschen Bahn insgesamt. In dieser für Bahnreisende unzumutbaren Situation spüren die Kräfte, die den Protest für den Erhalt des Kopfbahnhofs und des direkten Gäubahnanschlusses tragen, Rückenwind. Ohne die langjährige Präsenz ihrer qualifizierten Projektkritik in der Öffentlichkeit gäbe es heute nicht einmal die Möglichkeit einer Debatte, wie der Kopfbahnhof erhalten und Bahnpolitik wieder auf ein gutes Gleis gesetzt werden kann.
Und die früheren Projektgegner von den Grünen? Ihr Verkehrsminister, Ritter von der traurigen Gestalt, nutzt nicht das aktuelle Fenster der Möglichkeiten, um einen Baustop und eine Diskussion über sinnvolle Alternativen zu forcieren. Er versucht vielmehr, dem wesentlich von der Deutschen Umwelthilfe formierten Protest der Gäubahn-Anrainergemeinden gegen die Kappung der Linie Zürich–Stuttgart den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sein Versuch wird scheitern. Seine Maxime: »Weiterbauen first, Klimaschutz second« wird vom nächsten Offenbarungseid der Bahn konterkariert werden – und so wird die außerparlamentarische Bewegung für den Erhalt des Kopfbahnhofs auch weiter auf prominente Unterstützer wie die Deutsche Umwelthilfe rechnen können.

*Als »dritte Zerstörung Stuttgarts« ordnete Roland Ostertag (1931–2018), renommierter Architekt, Stadtplaner und engagierter Tunnelbahnhofsgegner, Stuttgart 21 ein – als besonders destruktives Projekt des grassierenden neoliberalen Umbaus der Stadt.

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