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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2024

Die Campus-Bewegung für Gaza in den USA
von Ivan Drury Zarin

Sechs Monate nach Israels genozidalem Krieg in Palästina gab es Anzeichen eines Erlahmens der weltweiten Antikriegsbewegung. Doch mit den Unibesetzungen hat sie wieder Fahrt aufgenommen.

Kundgebungen und Märsche hatten seit Oktober jede Woche in Hunderten von Städten in den USA und Kanada die Straßen gefüllt, blockierten Solidaritätsaktivisten Bahnlinien, Autobahnen, Häfen, Brücken und alle Arten von Straßen. Einmal wurde sogar die Auslieferung der New York Times blockiert.

Kampagnen zur Ausweitung der Boykott-Divestment-Sanctions-Bewegung (BDS) entstanden in Gewerkschaften, Rathäusern und Verlagshäusern. Aktivist:innen intervenierten sogar in den Wahlkampf, von dem normalerweise jegliche Erwähnung von Palästinasolidarität ferngehalten wird, und spalteten die Demokratische Partei mit ihrer erfolgreichen Initiative, bei den Vorwahlen mit »nicht engagiert« zu stimmen.
Nach zwei Dutzend Wochen ununterbrochener Aktivität nahmen die Demonstrationen nicht mehr zu, einige Aktive begannen, über Routine zu klagen. Ein Gefühl von Ohnmacht und Frustration machte sich breit. Dann kamen die Zeltlager auf dem Campus der Universitäten und veränderten alles.

Ein Schritt der Radikalisierung
Die große Errungenschaft der Camps ist die Radikalisierung der Bewegung für Gaza. Vor den Camps drückte sich der Konsens der Bewegung in der zentralen Parole »Waffenstillstand jetzt« aus. Deren Stärke bestand darin, dass sie sich auf die dringendste und unbestreitbare Aufgabe konzentrierte, Israels Massaker an der palästinensischen Bevölkerung zu stoppen. Als Israels Völkermord immer sichtbarer und schrecklicher wurde, begannen Regierungen, die Israel bewaffnen, finanzieren und ihm »zur Seite stehen«, an Netanyahus Kriegspolitik zu rütteln und selber eine »Feuerpause« zu fordern.
An der Columbia University, wo das erste Protestcamp stattfand, forderte die Campus-Bewegung, die Universität solle sich von israelischen Unternehmen trennen. Die Forderung verankert die Gaza-Solidaritätsbewegung zugleich lokal und international, sie überbrückt die große räumliche Distanz zwischen der Universität und Gaza durch die kurzen Wege der globalen Kapitalzirkulation.
Israel erhält Milliarden Dollar US-Hilfe und wegen seiner besonderen Beziehung zu den USA kann es alle Hilfsgelder, die es erhält, an das Militär weiterleiten. Besonders im Bereich der intellektuellen und technologischen Güter gibt es eine außerordentlich dichte gegenseitige Durchdringung zwischen den USA und Israel. Hightech-Leute pendeln alle zwei Wochen vom Silicon Valley nach Israel und zurück.
Die Divestmentforderung legt die enge Verflechtung zwischen den USA und Israel offen und wie sehr lokale Strukturen der US-Macht in Israels Völkermord an den Palästinensern verwickelt sind. Das ist radikal, weil die Auswirkungen ins alltägliche soziale Leben hineinreichen und ein internationales Programm für kollektives Handeln gegen die israelische Apartheid und den völkermörderischen Krieg erforderlich machen.
Wenn die Parole »Divestment« allerdings der Campusbewegung entrissen und in ein politisches Problem verwandelt wird, das am besten von Bürokraten behandelt wird, dann wird die Bewegung neutralisiert; an einigen Universitäten ist diese Dynamik bereits im Gange.

Die Reaktion
Die erste Reaktion der Verwaltung der Columbia University auf die Campusbewegung war brutale Unterdrückung. Es dauerte nur dreißig Stunden, bis der Präsident die Polizei einschaltete und das erste Gaza-Solidaritätscamp zerschlug. Die Studenten reagierten, indem sie die Hamilton Hall besetzten und sie in Hind’s Hall umbenannten – zu Ehren von Hind Rajab, einem sechsjährigen palästinensischen Mädchen, das von israelischen Raketen ermordet wurde, während es in einem Auto gefangen war und »in ein Handy um Hilfe flehte, umgeben von toten Familienmitgliedern«, wie die Besetzer in einer Erklärung schrieben. Weiter schrieben sie: »Indem wir uns vom Rasen wegbewegten und ein Universitätsgebäude befreiten, haben wir unsere Taktik eskaliert, um größeren Druck auf die Verwaltung auszuüben und andere zu mutigen Aktionen zu inspirieren.«
Die Taktik hatte zwei Ziele im Visier: die Univerwaltung, die sich geweigert hatte, den Forderungen des Camps nachzukommen, und den Rest der Gaza-Solidaritätsbewegung in den USA. Wieder schickte die Univerwaltung die Polizei, um dreihundert Menschen brutal zu verhaften. Der Bericht darüber ist erschreckend:
»Die Strategic Response Group des NYPD verhaftete gewaltsam diejenigen, die uns vor dem Gebäude verteidigten, schleuderte einen Demonstranten die Treppe hinunter und ließ ihn bewusstlos zurück, andere wurden weggeschleift, als sie versuchten zu helfen. In Hind’s Hall wurden wir mit Betäubungsgranaten, einem Schuss eines schießwütigen Schweins, Schlagstöcken und Kreissägen, Schlägen ins Gesicht, Kopfverletzungen, Knochenbrüchen, Verstauchungen, Schnittwunden und Prellungen konfrontiert. Sobald wir in Polizeigewahrsam waren, stahlen sie die Hijabs von den Köpfen muslimischer Frauen, belästigten unsere geschlechtlich marginalisierten Genoss:innen sexuell, bedrohten und verhöhnten uns.«
Als die Besetzung von Hind’s Hall durch Polizeigewalt zerschlagen wurde, reagierten Studierende mit Zeltlagern auf Dutzenden anderer Universitätsgeländer in den USA, Kanada, Europa und Mexiko.

Warum die Gewalt?
Dass die Studierenden mit solch offener Gewalt angegriffen wurden, überrascht ein wenig. Warum hat man nicht mit ihnen verhandelt, einige symbolische Abfindungen angeboten und gewartet, dass sich die Bewegung nach Ende des Semesters auflöst? Ein Argument lautet, das habe mit der Neoliberalisierung der Universitäten zu tun. Die Privatisierungen der letzten zwei Jahrzehnte hätten sich auf demokratische Prinzipien und Praktiken »katastrophal« ausgewirkt, für Studierende, die obszöne Studiengebühren zahlen müssen, ebenso wie für Lehrkräfte, die ihre Arbeitsplatzsicherheit verloren haben – zwei Drittel der Lehrkräfte in den USA haben keine Festanstellung mehr.
Dies und die Verbindung der privatisierten Universitäten mit dem US-amerikanischen und dem israelischen Militär, die eng miteinander verflochten sind, erklärt zum großen Teil, warum die Universitätspräsidenten keiner Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit mehr unterliegen. Sie erklärt jedoch nicht, warum sie sich für den Einsatz von Gewalt statt für eine Verhandlungslösung entschieden haben.
Die Univerwaltungen entschieden sich für Gewalt, weil sie die politische Diskussionsebene der Gaza-Solidaritätscamps unerträglich fanden. An privatisierten Universitäten ist die erste Aufgabe von Universitätspräsidenten die Verwaltung von Finanzanlagen und die Beschaffung von Geldmitteln und nicht etwas, das mit Wissenschaft zu tun hat. Und natürlich weigern sie sich, ihre Investmentportfolios unter der Aufsicht von Studierenden und den Augen der Öffentlichkeit überprüfen zu lassen. Das ist die wirtschaftliche und materielle Herausforderung, die sich aus der Divestmentforderung ergibt.
Die Forderung richtet sich aber auch gegen die herrschende Ideologie und die Lügen über das imperialistische Weltsystem, die die Universitäten verbreiten.
Die Divestmentforderung legt die enge Verquickung der liberalen zivilgesellschaftlichen Institutionen mit dem Militär- und Polizeistaat in den USA und Israel offen. Sie treibt einen diskursiven Keil in die etablierte zionistische Behauptung, Kritik an Israel sei antijüdisch.
Das Engagement der jüdischen Studenten auf den Camps war ein wichtiger Teil der Herausforderung, und das, wovor sich die Verwaltungen fürchten, ist bereits eingetreten: Die ideologische Verbindung zwischen Israel und dem jüdischen Volk in den USA ist zerbrochen. Jeder Schlag mit einem Polizeiknüppel, der im Namen des Zionismus geführt wird, zeigt wie künstlich die Verbindung zwischen der Sicherheit der jüdischen Menschen in der Welt und dem »Recht Israels, sich selbst zu verteidigen« ist. Er zeigt, dass das zionistische Projekt ein Staatsanliegen ist, nicht der Ausdruck einer Nation; ein Zwangsapparat des euroamerikanischen Imperialismus, kein organischer Impuls der jüdischen Geschichte.
Die massive Gewalt gegen Studierende will signalisieren, dass sie jenseits dessen stehen, was man sagen darf. Dieser Terror wird sogar in Recht und Gesetz gegossen: Die Durchführungsverordnung des texanischen Gouverneurs Greg Abbott vom 27.März etwa verlangt von Universitäten, Studenten zu bestrafen, die sich gegen Zionismus aussprechen.

Wie weiter?
Ein halbes Dutzend Gaza-Solidaritätscamps haben Vereinbarungen mit Universitäten unterzeichnet, sie wurden meist unzutreffend als Divestmentvereinbarungen bzw. als Siege für die BDS-Kampagne bezeichnet. Die meisten dieser Vereinbarungen verpflichten die Hochschulbewegung, zu demobilisieren, zu deeskalieren, ihre Camps aufzulösen. Die Verpflichtungen der meisten Universitätsverwaltungen sind weit weniger klar. Der Elefant in diesen Verhandlungsräumen muss die Polizeigewalt an der Columbia und anderen Universitäten gewesen sein.
Wie es weitergeht, ist unklar. Einige Camps wurden von der Verwaltung in von ihr kontrollierte Unterausschüsse gelenkt, die über politische Reformen reden sollen – was mit dem Krieg gegen Gaza zu beenden oder der Befreiung Palästinas nichts zu tun hat.
Einige haben zur »Eskalation« aufgerufen, um sich der Routine zu verweigern und weiter für die Verteidigung von Gaza zu kämpfen. Die Camps sind ein wichtiger Ausgangspunkt dafür. Es waren die Camps, die die Bewegung stark gemacht haben – der gleichzeitig lokale und internationalistische Fokus, die praktische und programmatische Divestmentforderung mit einem klaren lokalen Ziel, das den palästinensischen Kampf nie aus den Augen verlor. An diesen Prinzipien wird sich die nächste Phase der Bewegung orientieren müssen, um weiter Druck gegen die israelisch-amerikanische Kriegsmaschinerie aufzubauen.

Der Autor unterrichtet Geschichte und Studien der Arbeitswelt an der Simon Fraser University in British Columbia, Kanada. Er lebt auf den Territorien der Musqueam, Squamish und Tsleil Waututh in Vancouver und ist Mitglied der Busfahrergewerkschaft ATU.

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