Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2024

Miguel Urbán über seine Arbeit im Europaparlament und die kommenden EU-Wahlen
Gespräch mit Miguel Urbán

Miguel Urbán Crespo (geb. 1980) ist Europaabgeordneter (seit 2015) und Mitglied von Anticapitalistas im spanischen Staat. Seit 2013 ist er in verschiedenen Bewegungen aktiv: antikoloniale Bewegungen, für das Recht auf Wohnen, Antikriegsproteste, Occupy-Aktionen. Er war auch einer der Gründer von Podemos

Auf welche Weise hast du die Institution des Europäischen Parlaments (EP) genutzt?

Mein Team und ich haben uns nicht im Parlament eingeschlossen, indem wir vorgaben, die besten Parlamentarier zu sein. Wir haben das EP genutzt, um Dinge zu tun, von denen sie nicht wollen, dass wir sie tun – z.B. Freihandelsabkommen anprangern, dagegen Netzwerke mit den Ländern des Südens aufbauen usw. – und das alles mit Geld von der Europäischen Union. Wir wollten eine Art »trojanisches Pferd« innerhalb der Institutionen sein.
Wir haben versucht, internationalistisch zu agieren, indem wir den Raum genutzt haben, um Kämpfe im globalen Süden zu unterstützen. Wir haben auch dafür bezahlt: Ich wurde vom Mossad inhaftiert, als ich Abgeordneter war, mir wurde die Einreise in mehrere Länder wie Marokko verweigert. Auf mich wurden mehrere Anschläge an und vor den Türen des Europäischen Parlaments verübt.
Natürlich hat das alles nicht geholfen, die Richtlinien der Europäischen Union zu verbessern. Das EP ist ja aber nicht einmal ein Parlament, ohne die EU-Kommission hat es keine eigene Gesetzesinitiative. Das ist eine sehr große demokratische Lücke in diesem antidemokratischen System, das sich Europäische Union nennt. Wir haben den Raum, den wir hatten, sehr stark genutzt, vor allem haben wir unseren eigenen Raum geschaffen.

Willst du damit sagen, dass die ganze Arbeit in den Ausschüssen, den Fraktionen nicht so wichtig ist, weil man Europa eh nicht von innen heraus verändern kann?

Um ein echtes europäisches, sozialistisches, ökofeministisches Projekt aufzubauen, müssen wir die EU loswerden und nicht hoffen, sie reformieren zu können. Seit Maastricht ist die EU zum Werkzeug für die Konstitutionalisierung des Neoliberalismus geworden. Als die SYRIZA-Regierung nach dem Referendum in Griechenland 2015 über die Einführung sog. »Reformen« einknickte und das Memorandum unterzeichnete, beendete Manfred Weber, der Sprecher der Europäischen Volkspartei im EP, seine Rede mit den Worten: »Das Beispiel Griechenland zeigt, dass es nicht möglich ist, eine linke Regierung in der Europäischen Union zu haben, und das soll Podemos und Spanien eine Lehre sein.« Ich stimme ihm zu.
Ich denke, wir müssen eine linke Politik in einer internationalistischen Logik des Ungehorsams gegenüber den Verträgen der Europäischen Union und des Aufbaus eines alternativen europäischen Projekts betreiben – im Gegensatz zum identitären Rückzug, der von der extremen Rechten vorgeschlagen wird.

Wie kann man mit den EU-Institutionen brechen?

Die Institutionen werden gegen uns und unsere Interessen aufgebaut. Wir müssen einen Fuß in die Institutionen und hundert Füße auf die Straße setzen. Wir müssen den Fuß in den Institutionen nutzen, um Kämpfe und Selbstorganisation zu fördern. Im Europäischen Parlament gibt es ein Programm, das 110 Reisen pro Jahr vorsieht, um Bürgerinnen und Bürger ins EP zu bringen. Alle Tickets, das Essen, der Aufenthalt – ­alles wird bezahlt. Dann zeigen sie zwei Stunden lang das Europäische Parlament, und meist hält ein oder eine EP-Abgeordnete eine kleine Rede.
Wir haben alle diese Reisen genutzt, um Konflikte, Streiks, Gewerkschaften und unterdrückte Menschen ins EP zu bringen, damit wir es als Lautsprecher für die Kämpfe nutzen und den Beteiligten eine Medienberichterstattung bieten können. Streikende Arbeiterinnen und Arbeiter an einen Ort zu bringen, an dem sie normalerweise nicht anzutreffen sind, zieht die Medien an, es verleiht diesen Kämpfen Legitimität. Wir haben auch Extinction Rebellion einfliegen lassen, alle Genossinnen und Genossen, die in Europa kriminalisiert werden, weil sie zivilen Ungehorsam gegen das Klima praktizieren.
Wenn wir kämpfende Kollektive mitbringen, versuchen wir, sie mit anderen Ländern, anderen Gewerkschaften oder anderen europäischen Kollektiven in Verbindung zu bringen. Wir haben zum Beispiel mit türkischen Gewerkschaften zusammengearbeitet und zugleich mit Solidaritätsstrukturen in Spanien, die die Verletzung der Rechte türkischer Beschäftigter in spanischen Unternehmen anprangern, haben Kundgebungen und sogar einen Unterstützungsstreik in Spanien organisiert und die spanischen Gewerkschaften mit türkischen und kurdischen Gewerkschaften zusammengebracht.
Das bedeutet nicht, dass wir keine parlamentarische Arbeit geleistet haben. Wir wollen aber zeigen, dass dies nicht die einzige Arbeit ist, die getan werden kann, ganz im Gegenteil. Wir haben auch gestört, etwa durch die Art und Weise, wie wir uns kleideten und gegen die Kleiderordnung des Parlaments verstoßen haben. Meine erste Aktivität als Europaabgeordneter war, an den Aktionen von Occupy Frankfurt teilzunehmen, die sich gegen die Europäische Zentralbank richteten, der Ansatz hat seither unsere Aktivitäten geprägt.

Bei den Europawahlen im Juni wird ein sehr starker reaktionärer Schub nach rechts vorhergesagt, einhergehend mit Militarisierung und neuen Kriegen wie in der Ukraine oder in Palästina. Wie siehst du das?

Die Situation ist sehr schlecht, vor allem für die Arbeiterklasse, und sehr rückschrittlich für jedes antikapitalistische oder auch nur antineoliberale Projekt. Seit 2015 erleben wir einen scharfen Rechtsruck des gesamten europäischen politischen Spektrums. Wir leben in einem Moment der globalen Unordnung, stehen vor einer echten Krise des kapitalistischen Regimes, weil die Krise der neoliberalen Wirtschaftsordnung und ihre autoritären Ausprägungen mit der ökologischen Krise und der damit verbundenen Knappheit zusammenfallen.
Der Niedergang des nordamerikanischen Imperiums und das Anbrechen einer neuen Periode interimperialistischer Konflikte auf globaler Ebene um immer knapper werdende Ressourcen verstärkt darüber hinaus eine extraktivistische und neokoloniale Logik. 80 Prozent der Rohstoffe, die wir für den angeblich ökologischen Übergang zu einem »grünen Kapitalismus« in Europa brauchen, befinden sich außerhalb unseres Kontinents.
Europa, das mit interimperialistischem Wettbewerb und neuen Zusammenstößen konfrontiert ist, hat den Pfad der Wiederbewaffnung eingeschlagen. Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, hat gesagt, Europa muss in der Lage sein, die Sprache der Macht zu sprechen – nicht die Soft Power der Menschenrechte, sondern die Sprache der Waffen, die Sprache des Krieges. Um den fieberhaften merkantilistischen und handelspolitischen Druck der EU zu unterstützen, braucht man Armeen in Afrika, damit sie in Streitigkeiten eingreifen.
Der gegenwärtige Aufrüstungsprozess zielt nicht so sehr darauf ab, Russland die Ukraine streitig zu machen, er zielt vielmehr auf Afrika, denn Afrika verfügt über weitaus mehr Rohstoffe als die Ukraine. Die Ukraine dient den europäischen Eliten nur als Vorwand, um im Rahmen interimperialistischer Konflikte die eigenen Interessen zu stärken. In diesem Rahmen sind auch die Geschehnisse in Palästina zu interpretieren.
Die Krise des kapitalistischen Regimes ist auch eine Krise des liberalen Regierungsmodells, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist – alles, was den Rahmen der internationalen Menschenrechte und des Völkerrechts betrifft, ist dabei zu zerbrechen. Es gibt keinen festen Boden mehr, alles ist eine Fiktion.
Die Unterzeichnung des europäischen Migrationspakts setzt dem Recht auf Asyl ein Ende und ist Teil der Regimekrise, die Gewaltenteilung wird immer mehr in Frage gestellt. Parallel dazu wird der Autoritarismus auf globaler Ebene immer stärker, das Demonstrationsrecht wird in Frage gestellt und auf immer repressivere Instrumente zurückgegriffen.
Von der liberalen Demokratie bleiben einzig die Wahlen alle vier Jahre übrig; ansonsten haben wir zunehmend eine echte Diktatur des Marktes. Vor diesem Hintergrund wird die extreme Rechte höchstwahrscheinlich in neun Ländern der EU zur stärksten Kraft werden, mehrere davon sind zentrale Länder wie Frankreich, wo sie schon seit 2014 die stärkste Kraft bei den Europawahlen ist, und Italien, wo die Lega 2019 stärkste Kraft wurde; nun wird es Meloni sein.
Hinzu kommt, dass in diesem Jahr auf der halben Welt Wahlen stattfinden. Insbesondere die US-Wahlen werden sehr wichtig werden, denn ein Sieg Trumps kann all diese Prozesse beschleunigen.
Wir können nicht ausschließen, dass die Kette imperialistischer Konflikte auf regionaler Ebene in einen offenen globalen Konflikt abdriftet, und das wäre ein Dritter Weltkrieg mit Atomwaffen, der in ein verheerendes Szenario münden würde.

Was wäre dann unsere wichtigste Aufgabe?

Unsere Hauptaufgabe besteht darin, einen antimilitaristischen Internationalismus wieder aufzubauen, der mit allen Imperialismen bricht, dessen Basis die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse ist und der als eines der wichtigsten Elemente davon eine ökosozialistische antimilitaristische Politik vorschlägt. Wir müssen über den Zusammenhang zwischen der Klimakrise und der Zunahme von Kriegen und bewaffneten Konflikten nachdenken.
Es gibt nichts, was den Weltenbrand mehr beschleunigt als Remilitarisierung und Krieg; es gibt nichts, was den Klimakollaps mehr beschleunigt als die Investition der knappen Rohstoffressourcen in Waffen. Wir müssen den historischen Kontext, mit dem wir konfrontiert sind, angemessen verstehen: Der Hauptwiderspruch heute ist der zwischen Kapital und Leben.

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