Das Tiefbahnhofprojekt verspricht einen gigantischen Zugstau und steuert auf neue Rekordausgaben zu
von Klaus Gietinger
Der Kampf um einen zukunftsfähigen Hauptbahnhof in Stuttgart tritt in die entscheidende Phase. Bekommt die Landeshauptstadt einen brandgefährlichen Flaschenhals? Wird die Gäubahn abgehängt? Werden weitere Milliarden in neue zusätzliche Tunnelprojekte mit massenhaftem CO2-Ausstoß vergraben? Oder werden endlich Alternativen ins Auge gefasst?
S21 werde der erste digitale Bahnknoten Deutschlands, versprechen uns DB und das Land Baden-Wü?rttemberg. SMA, die Schweizer Firma für Integrale Taktfahrpläne, versprach 2023 mit Hilfe der Digitalisierung 59,5 Züge pro Stunde im Tiefbahnhof.
Bei einem Belegungsgrad über 60 Prozent gilt ein Bahnhof bislang als stark überlastet. Köln z.B. hat 65 Prozent, deshalb sind dort zwei weitere Gleise/Bahnsteigkanten geplant. Auch Hannover (57 Prozent) und Augsburg (53 Prozent im Jahr 2017) bekommen bzw. bekamen zwei weitere Gleise. Die »Väter« von Stuttgart 21, die Professoren Heimerl und Schwanhäußer, hatten sich 1997 auf 32 Züge pro Stunde festgelegt und damit einen Auslastungsgrad des S21-Bahnhofs von 46 Prozent errechnet. 59,5 Zu?ge bedeuten, selbst auf Basis der von den Planern unrealistisch kurz angesetzten Einfahrgeschwindigkeit, 83 Prozent Auslastung. Geht man von realistischen Einfahrten aus, kommt man auf über 90 Prozent. Beides ist unmöglich fahrbar.
Zurecht sagte Winfried Herrmann (Grüne), seit knapp 13 Jahren Verkehrsminister von Baden-Württemberg, dem Autor im Mai 2022 im Interview, der Bahnhof sei weder redundant noch resilient [weder großzügig ausgelegt noch anpassungsfähig]. Deswegen kam er auf die Idee, einen mehrgleisigen Kopf-Tiefbahnhof als Ergänzungsstation vorzuschlagen, der es 2021 in den Koalitionsvertrag der grün-schwarzen Landesregierung schaffte. Die oberirdisch abgerissenen Kopfbahnhofgleise sollten unterirdisch wieder »auferstehen«.
Wunder durch Digitalisierung?
Doch 2023 war dies schon wieder Makulatur. Jetzt sollte der geplante digitale Knoten Wunder vollbringen und dem Tunneltiefbahnhof S21 sogar 59,5 Züge in der Stunde ermöglichen. Zustandebringen soll dies die digitale Zugsteuerung ETCS. Doch nach Fachmeinung bringt diese signallose Zugsteuerung nur auf der freien Strecke einen Kapazitätsgewinn. In Bahnhöfen bringt sie nichts, eher sogar einen Kapazitätsverlust, weil sie mit einer flacheren Bremskurve arbeitet.
S21 ist so gesehen eine kapitale Kapazitätsreduktion gegenüber dem Kopfbahnhof. Sollten die Gleise des Kopfbahnhofs gänzlich abgerissen werden, kommt es alternativlos zum gigantischen Zugstau. Allein, dass man diese Überlastung hinnimmt und sich um die tatsächliche Leistungsfähigkeit nicht kümmert, belegt, dass es sich um ein Immobilienprojekt bzw. Tunnelbauprojekt und nicht um das Projekt eines Bahnhofs der Zukunft handelt. Der kürzlich verstorbene Hauptinitiator von S21, Heinz Dürr, bestätigte mir im Interview 2022, dass es ihm als damaligem Bahnchef nur um die freiwerdende Immobilienfläche ging.
1971 fuhren im Kopfbahnhof 46 Züge pro Stunde. Mit heutigem Zugmaterial wa?ren 50 Züge pro Stunde möglich gewesen, und das ohne Ausbau.
Katastrophaler Brandschutz
Bislang waren für das Projekt S21 rund 60 Kilometer Tunnelröhren geplant und die wurden auch gebaut. Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Stuttgarter Landgericht a.D., bezeichnete den Brandschutz in den Tunneln und im Bahnhof als kriminell. Die Tunnel
– sind im Querschnitt viel kleiner als normale Eisenbahntunnel,
– haben viel größere Steigungen als übliche Fernbahntunnel,
– haben für die Rettungsquerschläge 500 Meter Abstand statt der üblichen 300 Meter,
– haben in der Breite halbierte Rettungswege,
– werden von Doppelstockzügen durchfahren, die in Vierfachtraktion bis zu 3681 Personen pro Zug befördern können.
Zusammen sind diese Tunnel 16mal schlechter als etwa der Katzenbergtunnel (Rheintalstrecke). Im Brandfall ist im worst case eine Selbstrettung nicht möglich und mit aberhunderten Opfern zu rechnen. Die Tunnel dürfen nicht genehmigt werden.
Das verschwiegene ›S21-2‹ und die Gäubahn
Relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit werden aus Kapazitätsnot neue Tunnel geplant. So soll der Flughafen Stuttgart nicht wie ursprünglich durch eine störanfällige Mischstrecke von S-Bahn und ICE von Sü?dwesten her angefahren werden, sondern durch einen 13 Kilometer langen neu geplanten Tunnel, den sog. Pfaffensteigtunnel. Das ist der Gipfel der Ressourcenverschwendung, da er nicht nur hunderttausende Tonnen CO2 freisetzen würde, sondern nach Auskunft der Bahn nur für ganz wenige, 70–100 Passagiere gebaut würde, die täglich von der Gäubahn kommend zum Flughafen wollen (!). Ein weiterer Tunnel im Nordwesten, der sog. Nordzulauf soll den Verkehr nach Mannheim beschleunigen, außerdem ist eine sogenannte P-Option, eine weitere komplexe Tunnelkurve geplant.
Zusammengenommen kämen hier nochmals mindestens 40 Kilometer Tunnelröhren dazu, die nach den Berechnungen von Karlheinz Rößler zusätzlich mindestens 5 Milliarden Euro Kosten verursachen würden. Das würde den CO2-Ausstoß des ganzen Projekts auf etwa 7 Millionen Tonnen und die Kosten des Gesamtprojekts auf vermutlich 20 Milliarden erhöhen – und die Brandgefahr nochmals erheblich steigern. Als Scheinargument wird vorgebracht, dies sei für den Deutschlandtakt notwendig. Dabei ist von vornherein klar: S21 ist für einen integralen Taktverkehr völlig ungeeignet.
Bis aber der Pfaffensteigtunnel fertig gebaut wäre, würde noch viel Wasser den Nesenbach hinabfließen. Man darf von einer Fertigstellung etwa 2040 ausgehen. So lange wäre die Gäubahn nicht an den Tiefbahnhof angebunden. Sie soll 2025 planfeststellungswidrig in Stuttgart-Vaihingen weit südlich von Stuttgart gekappt werden, Menschen, die zum Hauptbahnhof wollen, sollen in S-Bahnen bzw. Stadtbahnen umsteigen. »Alternativ« wird der Bau eines nicht an S21 angebundenen »Nordhalts« angestrebt, wo man von Mailand, Zürich oder vom Bodensee kommend nach Stuttgart umsteigen soll. Ein Teil der Fernzüge würde zudem über diese neuen Knoten an S21 vorbeifahren. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) klagt mit guten Aussichten gegen die Gäubahn-Kappung.
S21-1 fährt inzwischen auf Kosten von 12 Milliarden Euro zu. Mit den Zusatztunneln S21-2 geht es in Richtung 18 Milliarden, die Inflation eingerechnet kommt man auf 20 Milliarden.
Flächenbahn oder Spekluationsbahn?
S21 ist nicht singulär und nicht regional isoliert, sondern repräsentativ für eine ganze Gruppe von zerstörerischen Bahnprojekten, die wegen ihrer skalischen, politischen und planerischen Monopolisierungswirkung die Flächenbahn mit ihrer klimapolitischen Dringlichkeit verhindern.
Genannt seien hier nur die besonders eklatanten Projekte der Korridor- und Spekulationsbahn: Zerstörung des Bahnhofs Altona, Verbindungsbahnentlastungstunnel Hamburg, Neu- und Ausbaustrecke Hannover–Bielefeld, Neu- und Ausbaustrecke Hannover–Hamburg, Fernbahntunnel Frankfurt, Neu- und Ausbaustrecke Würzburg–Nürnberg, Brennerzulaufstrecke bei Rosenheim.
Zählt man das derzeit absehbare skalische Projektvolumen zusammen, kommt man auf mindestens 90 Milliarden Euro. Die Reaktivierung einer Strecke kostet im Schnitt 30 Millionen Euro. Alle anstehenden Reaktivierungen und bestandsorientierten Netzausbauten und -wiedereinbauten von Weichen und Reaktivierung von Güterbahnhöfen könnte man damit umsetzen. Das Land wäre überall angeschlossen, Auto und Lkw hätten als Mobilitätsgarant ausgedient. Aus einem Auto- und Stauland würde wieder ein Bahnland werden.
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