Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Ob Essen, Thüringen oder international – den Rechten das Steuer entreißen
von Violetta Bock

Dunkle Schatten liegen über Europa. Vom 6. bis 9.Juni wird das Europaparlament gewählt und schon jetzt weist alles daraufhin, dass die Rechtsverschiebung der letzten Jahre sich weiter verfestigen wird. Eine europäische Entwicklung, die sich national verschieden ausformt.

Europaweit streben die Rechten ein Mitte-Rechts-Bündnis an. Le Pen aus Frankreich macht der rechtsextremen Meloni die Aufwartung, die ihrerseits bereits von Ursula von der Leyen umgarnt wird, weil die Ähnlichkeiten längst größer sind als das Kostüm.
Der CDU-Slogan »In Freiheit, in Sicherheit, in Europa« ist ernst gemeint. Es geht um den Wohlstand der Wenigen in Europa auf dem ­Rücken des globalen Südens und der Völker Europas. Was interessiert der Rest der Welt? Es ist längst Normalität geworden, dass im Mittelmeer Menschen ertrinken. Von der Brandmauer wird gesprochen, die Festung Europa mit Hochdruck weiter ausgebaut.
Weitere Asylrechtsverschärfungen werden durchgezogen, mit Schützenhilfe der Grünen. Sie haben mit dem Wahlslogan »Machen, was zählt« fast direkt den Werbespruch der Bundeswehr »Mach, was wirklich zählt« übernommen. Es passt zu dem militaristischen Kurs, den sie eingeschlagen haben, der sich nicht nur in der Ukraine zeigt, sondern täglich auch in Gaza, wo der Völkermord aus Deutschland mit Waffen befeuert wird.

Sylt
Die AfD zeigt unterdessen immer unverhohlener ihr Gesicht und welche Rechtsextremen sie sich beim Aufsammeln von allen rechts der CDU ins Boot geholt hat. Selbst der Landesverfassungsschutz in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen stuft die dortige Landes-AfD als »gesichert rechtsextreme Bestrebung« ein. Dem Spitzenkandidaten verhängt die eigene Partei ein Auftrittsverbot wegen SS-Aussagen, Spionageaffäre um einen seiner Mitarbeiter, Anfangsverdacht der Bestechlichkeit und der Geldwäsche für die Nummer 2 auf der Liste – die AfD stolpert über ihre eigenen Leute.
Die Anlehnungen an den traditionellen Faschismus gehen selbst der europäischen Fraktion »Identität und Demokratie« zu weit. Zerstören sie doch das Bild, das sich Le Pen aufgebaut hat von immer weiterer Verankerung in der »Mitte«, die inzwischen selbst nach rechts gewandert ist, aber dies leugnet.
An den Videos der grölenden Prosecco-Nazis auf Sylt schockierten so manche weniger die Parolen als der Prosecco. Unternehmensberater, Influencer, Werber und Manager – das passt nicht ins Bild der Abgehängten, auf die stetig getreten wird und denen die Aushöhlung der Demokratie gern voll in die Schuhe geschoben wird.
Den Umfragen der AfD tun all die Skandale kaum Abbruch. Bei den Kommunalwahl in Thüringen wurde es in den ersten Meldungen bereits als Erfolg gewertet, dass die AfD nicht auf Anhieb den von Höcke erwünschten Siegeszug schaffte. Die CDU konnte einige der Stimmen für sich gewinnen.

Die wirksame Bremse
Wirksamer für den Stopp des Aufwärtstrends waren die massenhaften Demonstrationen. Sie wirken nicht zuletzt auf Medien und Parteien, indem sie eine andere gesellschaftliche Stimmung sichtbar machen. Zahlreiche lokale Gegen-Rechts-Gruppen haben sich gegründet, die nun stetig aktiv sind, nach Orientierung und Strategie suchen oder schon wissen, wo sich als nächstes treffen: in Essen.
Die AfD liefert selbst den Anlass zur bundesweiten Zusammenkunft. Vom 28. bis 30.Juni will sie beim Bundesparteitag in Essen auf die Landtagswahlen im Osten einstimmen. Essen hat angekündigt, sich quer zu stellen. Vom CDU-Bürgermeister bis hin zum zivilen Ungehorsam entsteht ein bundesweiter Mobilisierungspunkt, der lokalen Gruppen eine Orientierung für die nächsten Wochen bietet. Die AfD hat den Präsenzanteil bereits gekürzt, die Delegierten müssen nun erst Samstag anreisen.
80000 Menschen werden bei den Protesten erwartet. Aufrufe zu Kundgebungen und Demonstrationen gibt es vom Bündnis um Oberbürgermeister Thomas Kufen »Allianz für Weltoffenheit und Toleranz« und von »Gemeinsam Laut«, ein Zusammenschluss aus VVN/BdA, »Aufstehen gegen Rassismus« und »Essen stellt sich quer«.
»Widersetzen« hat sich als bundesweite Mobilisierung ergänzend dazu gegründet, um mit massenhaften Aktionen zivilen Ungehorsams den AfD-Parteitag zu verhindern. Über 190 Organisationen unterstützen diesen Aufruf bereits. Es gibt ein massenhaftes Training in zivilem Ungehorsam, um zu zeigen, dass der AfD mit Worten allein nicht beizukommen ist. Es knüpft an die erfolgreichen Blockaden der großen Naziaufmärsche in Dresden vor einigen Jahren an. Vereint wollen die Initiativen der Hetze die bunte, friedliche Gesellschaft entgegenstellen.
Die migrantische Vernetzung von »Widersetzen« schreibt in ihrem Aufruf: »Wir haben Deutschland zu unserer Heimat gemacht und wir verhindern, dass die Straßen des Ruhrgebiets, die wie keine andere Region Deutschlands durch uns und unsere Familien geprägt wurde, jetzt von vom Verfassungsschutz als ›rechtsextrem‹ eingestuften Nazis eingenommen werden. Wir gucken nicht weiter zu, wie die AfD unser Zuhause und die deutsche Politik und Behörden immer weiter nach rechts verschiebt, mit dem Menschenrecht auf Asyl bricht und bei Angriffen auf unsere Community wegschaut.«

Die Wegbereiter
Damit spricht sie den zentralen Punkt an. Selbst ohne Regierungsbeteiligung ist es der AfD gelungen, die Gesellschaft weiter Schritt für Schritt nach rechts zu ziehen und immer mehr Menschen im rechten Spektrum zu radikalisieren.
Die Bündnisse, die sich in vielen Städten nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherchen gegründet haben, stellen die Demokratie und Aufklärung ins Zentrum. Doch verschließen sie allzu oft davor die Augen, dass sie es zum Teil selbst sind, die die Demokratie etwa durch Einschränkung der Versammlungsfreiheit gefährden. Sie merken ihren eigenen Rassismus nicht, der sich insbesondere antimuslimisch äußert und als Bindeglied wirkt.
Im Zuge der Eskalation in Gaza konnte sich dieser Rassismus mit dem Deckmantel des Kampfs gegen den Antisemitismus tarnen, wobei es dieselben Menschen nicht zu stören schien, dass die Zahl an Auftrittsabsagen für Jüdinnen und Juden zunahm, wenn sie nicht die veröffentlichte Meinung vertreten.
Ingar Solty beschrieb in einem Gastbeitrag der Berliner Zeitung die »innere Zeitenwende« der liberalen Deutschen: »Die vielen Artikel aus bürgerlich-liberalen Schreibstuben, die im Geiste eines ›ohnmächtigen‹ und ›hilflosen Antifaschismus‹ vor der AfD warnen oder gegen die rechtsautoritären Nationalisten den Vorwurf des ›Landesverrats‹ erheben, merken dabei augenscheinlich nicht, dass jeder ihrer mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger geschriebene Artikel den Rechtsextremen mindestens ein paar hundert neue Wähler zutreibt, weil deren sich ohnmächtig fühlende Wähler die Angst der Herrschenden spüren und zum Glauben verleitet sind, durch ein Kreuz bei der AfD sich selbst zu ermächtigen und den verhassten Eliten eins auszuwischen. Aber während sie verkennen, dass sie – mit Brecht gesprochen – doch eigentlich nur wie die Kälber sind, die der Trommel hinterhertrotten, für die sie das Fell selber liefern, verkennen die Liberalen vor allem eines: Es braucht für die Rückkehr der Gespenster der dunklen Vergangenheit keine Weidels und Höckes. Sie selbst, die Liberalen, sind es, die sie beschwören.«
In anderer Weise haben sie eine ähnliche Antwort durch Abschottung, Ausbeutung und Unterdrückung auf die Krise der kapitalistischen Ordnung und die Konkurrenz der imperialistischen Mächte entwickelt. In Ermangelung der Möglichkeit, die Krise zu lösen, verschärfen sie sie durch Spaltung innerhalb der Klasse und durch Krieg zwischen den Völkern. Eine rebellische linke und ökosozialistische Perspektive zu entwickeln, verankert vor Ort und internationalistisch verbunden, lässt nach wie vor keine Abkürzungen zu.

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