von Fabian Lehr
Spätestens seit Beginn des Ukrainekriegs 2022 und der daraufhin verkündeten "Zeitenwende" war es allgemein erwartet worden, nun ist es soweit: Die bürgerliche Politik der BRD wendet sich in Richtung Wiedereinführung der Wehrpflicht. Zuerst die Union, dann sprach sich, davon offensichtlich beflügelt, auch Lars Klingbeil für die SPD für die Rückkehr zur Wehrpflicht aus, wenn auch verbrämt mit Floskeln von einem „Gesellschaftsjahr“.
Dieser sich abzeichnende Schwenk zurück zur Wehrpflicht ist offenkundig eine Vorbereitung für die Möglichkeit eines Weltkriegs gegen Russland, für den eine Massenarmee notwendig wäre – die CDU spricht diese Tatsache auch ziemlich offen aus. Eine solche Massenarmee war die Bundeswehr während des gesamten Kalten Krieges tatsächlich gewesen. In einem dritten Weltkrieg zwischen NATO und Warschauer Pakt wäre Deutschland wahrscheinlich das Hauptschlachtfeld gewesen, die BRD hätte die erste Linie im Kampf mit der Roten Armee gebildet. Dementsprechend sahen Umfang und Ausrüstung der Bundeswehr aus. 1989 umfasste die Bundeswehr 735.000 Mann, die bei Kriegsgefahr durch Einziehung von Reservisten in kürzester Zeit auf 1,3 Millionen erweitert worden wären.
Mit dem Kollaps der Sowjetunion, der Annexion der DDR, der Verwandlung einstiger Sowjetrepubliken in NATO-Staaten und der unumschränkten Vorherrschaft des NATO-Blocks über Europa war das Szenario eines großen Landkrieges vorläufig gebannt. Die europäischen NATO-Staaten im allgemeinen und die BRD im besonderen hatten auf dem europäischen Kontinent keinen relevanten Gegner mehr, solange das postsowjetische Russland sich in den Krämpfen der kapitalistischen Restauration wand und als internationaler Machtfaktor praktisch ausfiel. Kriege mussten der NATO-Block und der deutsche Imperialismus erst einmal nur noch außerhalb Europas im globalen Süden gegen Gegner führen, die ökonomisch und militärisch so dramatisch unterlegen waren, dass diese Interventionen eher den Charakter von Polizeieinsätzen denn von Kriegen trugen.
Für Neokolonialkriege dieser Art gegen massiv unterlegene Armeen des globalen Südens braucht man aber keine Massenheere, riesige Panzerflotten und Geschützarsenale, sondern nur eine relativ kleine Zahl hochspezialisierter professioneller KriegstechnikerInnen, ausgestattet mit einer relativ kleinen Menge technologisch weit fortgeschrittener Hightech-Waffensysteme, mit einem besonderen Fokus auf die Luftwaffe, der die Armeen kleiner armer Staaten und erst recht irreguläre Milizen so gut wie nichts entgegenzusetzen haben.
Es war also ein logischer Schritt, dass immer mehr westliche Staaten zur Abschaffung der Wehrpflicht und zur starken Verkleinerung ihrer Streitkräfte übergingen – damit ließ sich sehr viel Geld sparen, und für die noch anfallenden kleinen Imperialkriege im globalen Süden reichten kleine, professionelle Söldnerarmeen völlig aus. Bei der Bundeswehr sank die Personalstärke nach 1989 von etwa 735.000 auf etwa 260.000. Die Zahl der aktiven Kampfpanzer sank von etwa 3.700 auf unter 300, ähnlich sieht es bei vielen anderen schweren Waffensystemen aus.
Die Lage des westlichen Imperialismus begann sich ab den 2000er Jahren aber zu verändern – einerseits mit der inneren Konsolidierung Russlands unter Putin, andererseits mit dem steilen Aufstieg Chinas. Die in den 90er und frühen 2000er Jahren unangefochtene absolute Dominanz des NATO-Blocks begann zu bröckeln. Russland und China wurden nun wieder zu ernstzunehmenden Großmächten und geopolitischen wie ökonomischen Rivalen. Und damit stand wieder die Möglichkeit eines direkten Großkrieges zwischen rivalisierenden imperialistischen Großmächten am Horizont.
In Europa wurde spätestens ab 2014 die Vorbereitung auf einen möglichen künftigen Weltkrieg mit Russland um die Vorherrschaft in Osteuropa zu einem immer relevanteren Anliegen der herrschenden Klasse und der Eliten der bürgerlichen Politik. Einen solchen großen Krieg gegen einen Riesenstaat mit 150 Millionen Einwohnern und einer der größten und fortgeschrittensten Rüstungsindustrien der Welt kann man aber nicht mit einer kleinen Söldnerarmee führen, sondern nur mit genau den Massenheeren mit einer Flut von Panzern und Geschützen, von denen man sich in den 90er Jahren verabschiedet hatte.
Die Dimensionen des Ukrainekrieges seit 2022 beweisen das eindringlich. In diesem Krieg stehen sich momentan etwa 1,5 Millionen Soldaten gegenüber. Jeden Tag in diesem nun fast zweieinhalbjährigen Krieg gibt es hunderte Tote und Verwundete. Beide Seiten haben eine vierstellige Zahl von Panzern und Geschützen verloren, und manchmal werden mehrere Dutzend Fahrzeuge an einem Tag zerstört. In einem solchen Abnutzungskrieg zwischen großen staatlichen Armeen würden die drastisch reduzierten Bestände der meisten westeuropäischen Armeen innerhalb von maximal ein paar Monaten aufgerieben werden, die hochgezüchteten westlichen Hightech-Luftwaffen können zwar Shock and Awe-Taktiken gegenüber wehrlosen Milizen des globalen Südens vollführen, sind aber wenig wirksam gegenüber einer Großmacht, die selbst eine große moderne Luftwaffe und dazu ein riesiges, dichtes Luftabwehrnetz am Boden hat. Den russischen und potenziell später den chinesischen Konkurrenten kann man militärisch nur in die Knie zwingen, wenn man selbst ein Massenheer mit riesigen Waffenbeständen hat, um in einem Abnutzungskrieg länger durchzuhalten und die Oberhand zu gewinnen.
Vorzüge einer Wehrpflichtigenarmee
In diesem Kontext stehen die aktuellen Initiativen zur Wiedereinführung der Wehrpflicht. Vor allem die CDU spricht dabei relativ offen aus, dass es dabei um die Rekrutierung von Kanonenfutter für einen möglichen direkten Krieg mit Russland geht. Es ist verständlich, dass die Linke im weitesten Sinne darauf allgemein mit Entsetzen reagiert. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht wäre klar Weltkriegsvorbereitung. Die Frage, wie ein Übergang von der Söldner- zur Wehrpflichtigenarmee aus linker Sicht zu beurteilen wäre, ist aber trotzdem nicht ganz so einfach zu beantworten.
Historisch waren die meisten Sozialist:innen immer entschiedene Gegner:innen von Berufsarmeen und Befürworter:innen einer Wehrpflichtigenarmee, und zwar auch innerhalb bürgerlich-kapitalistischer Staaten. Der Hauptgrund dafür ist innenpolitischer Natur. Eine Berufs- bzw. Söldnerarmee besteht, einerseits, aus einer gefilterten Auslese der Bevölkerung. Berufssoldaten eines bürgerlichen Staates werden im allgemeinen fast nur konservativ bis extrem rechts orientierte Menschen, die sich mit dem herrschenden Gesellschaftssystem und der nationalistischen Ideologie ihres Staates stark identifizieren.
Wenn die bewaffnete Macht aber vollständig in den Händen von Rechten liegt, die alles Linke und Revolutionäre hassen und verabscheuen, dann sehen die Chancen einer sozialistischen Revolution sehr düster aus. Revolutionen siegen praktisch niemals dadurch, dass die Volksmassen die Armee des bisherigen Staates militärisch besiegen, sondern dadurch, dass ein großer Teil der Streitkräfte selbst mit den Anliegen der Revolutionäre zu sympathisieren beginnt und sich auf ihre Seite stellt. Solange die Armee durchweg loyal auf seiner Seite steht, hat kein Staatsapparat von revolutionärem Unmut viel zu befürchten. Eine realistische Chance, dass die Streitkräfte in einer revolutionären Situation auf die Seite des Aufstands überlaufen, besteht aber eigentlich nur bei einer Wehrpflichtigenarmee, die einen Querschnitt der gesamten Gesellschaft darstellt, die aus lauter Menschen besteht, die aus ihren normalen, vielfältigen Lebenswelten nur kurzzeitig und gezwungenermaßen herausgerissen wurden und unter denen sich darum die Massenstimmungen der allgemeinen Bevölkerung auch viel stärker und direkter spiegeln als in einer Armee von Söldnern, die erstens diesen Beruf freiwillig und dauerhaft gewählt haben und die zweitens im Militär in einer vom Rest der Gesellschaft abgetrennten Parallelwelt leben.
Das wird, andererseits, dadurch verstärkt, dass Berufssoldat:innen bzw. Söldner:innen viel weniger als Wehrpflichtige das Gefühl haben werden, dass es sich bei der Armee um eine der restlichen Gesellschaft gegenüber verantwortliche Institution handelt. Die Idealisierung der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie als vermeintlicher Vertretung "der Gesellschaft" statt ihrer herrschenden Klasse mag von vorne bis hinten falsch sein, aber dieses Idealbild führt doch dazu, dass Menschen, die in einer Wehrpflichtigenarmee unter parlamentarischer Kontrolle dienen, eher das Gefühl haben werden, in ihrer zeitweisen Rolle als Soldat im Dienst "der Gesellschaft" zu stehen und Befehle verweigern zu können, die mit diesem angenommenen Interesse "der Gesellschaft" in Widerspruch steht. Wohingegen Söldner:innen, die ihr ganzes Leben als oft hochbezahlte Dienstleute des Staatsapparates verbringen, sich viel eher auch nur diesen ihren Auftraggebern verpflichtet fühlen werden.
Berufsarmeen sind eine unkompliziertere Basis staatlicher Macht als große, heterogene Wehrpflichtigenarmeen. Auch sind völkerrechtswidrige und in der Bevölkerung selbst unpopuläre Auslandseinsätze mit einer Söldnerarmee viel leichter durchführbar als mit einer Wehrpflichtigenarmee, deren Einsatz für imperialistische Abenteuer im globalen Süden massiven Widerstand in der Bevölkerung auslösen kann, wie es bspw. die USA im Vietnamkrieg erfahren mussten.
Eine Frage der Perspektive
Aus all diesen Gründen sind bürgerlichen Regimen Söldnerarmeen im allgemeinen deutlich lieber als Wehrpflichtigenarmeen, sofern man die riesigen Truppenstärken einer großen Wehrpflichtigenarmee nicht unbedingt braucht. Dass der deutsche Imperialismus jetzt wieder in Richtung Wehrpflicht schielt, ist Ausdruck der Tatsache, dass sein Ansatz einer kleinen, hochtechnisierten Söldnerarmee, wie er in den letzten 30 Jahren verwirklicht wurde, in eine Sackgasse geraten ist angesichts der Konkurrenz mit neuen Großmächten, die man möglicherweise in Form eines offenen Großkrieges bezwingen muss, um seine bisherige Machtstellung zu erhalten.
Wie Linke die Folgen dieser Kehrtwende beurteilen, hängt im wesentlichen davon ab, wie optimistisch oder pessimistisch ihre mittel- bis langfristige Perspektive auf die Entwicklung der deutschen Gesellschaft aussieht. Wenn man tief pessimistisch ist und die Entstehung einer vielversprechenden revolutionären Situation in Deutschland auf Generationen hinaus für praktisch ausgeschlossen hält, dann ist die Rückkehr zur Wehrpflicht rein negativ. Mit einer großen Wehrpflichtigenarmee wird das Führen eines für ganz Europa existenzbedrohenden neuen Weltkrieges erst potenziell möglich, und selbst wenn es zu diesem worst case-Szenario nicht kommt, wird eine große Wehrpflichtigenarmee mindestens zu einer weiteren drastischen Erhöhung der Militärausgaben führen, die zweifellos durch weitere Kürzungen bei Sozialleistungen und Infrastruktur und Massenbesteuerung finanziert werden.
Wenn man dagegen einen optimistischeren Blick auf die Zukunft hat und davon ausgeht, dass es auch in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten revolutionäre Situationen geben wird, in denen Sozialist:innen die Führung übernehmen könnten, dann wird eine Wehrpflichtigenarmee die Wahrscheinlichkeit drastisch senken, dass eine solche Massenbewegung schnell und unkompliziert erstickt wird.
Durch die Wehrpflicht werden Armeen aus linker Perspektive von einem geschlossenen feindlichen Block zu einem heterogenen Feld, auf das man einwirken, in dem man sich bewegen und das man zumindest teilweise auf seine Seite ziehen kann. Die russische Revolution hätte niemals stattfinden können, wenn die zaristische Armee durchgehend aus konservativen bis rechtsradikalen Söldnern bestanden hätte statt aus Millionen in Uniform gepressten Arbeiter- und Bauernsöhnen, die mit den armen Massen auf der Straße viel mehr Sympathie und Verbundenheit empfanden als mit den Generälen und Ministern.
Die Linke im weiteren Sinne wird die Entscheidung über eine Rückkehr zur Wehrpflicht heute nur wenig beeinflussen können, wenn darüber quasi in der gesamten bürgerlichen Politik Einigkeit herrscht angesichts des heranziehenden Entscheidungskampfes mit dem Nationalfeind im Osten. Aber so bedrückend die Rahmenbedingungen, in denen das geschieht auch sind, und so schrecklich die Perspektive für heutige Teenager auch sein mag, in einem neuen Massenheer als Kanonenfutter nach Osteuropa geschickt zu werden, sollten Linke sich daran erinnern, dass der Übergang zur Wehrpflichtigenarmee, zu dem der deutsche Imperialismus sich gezwungen sehen könnte, auch ein Möglichkeitsfenster für Revolutionäre öffnet. Die Frage, ob es gelingt, dieses Fenster zu nutzen, ist freilich wieder eine andere.
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