Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Arbeitswelt 1. Juli 2024

Notwendiger Rückblick auf eine historische Debatte
von Angela Klein

Der Begriff der »Nation« erhält seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine doppelte Bedeutung: Zum einen bezeichnete er die Bevölkerung eines Staatsgebildes mit einem mehr oder weniger ausgebildeten Binnenmarkt, in dem die alten Zollschranken gefallen sind. In diesem Sinne benutzten Marx und Engels den Begriff »Nation« und feierten sie als einen Fortschritt. Zum anderen bezeichnete er, vor allem in ökonomisch rückständigeren Ländern, eine ethnische Gemeinschaft, die durch Sprache, Kultur und gemeinsame Geschichte miteinander verbunden ist. Für diese benutzen Marx und Engels den Begriff »Nationalität«. Sie ist nicht an eine Staatlichkeit gebunden; umgekehrt umfasst eine Nation (ein Nationalstaat) in aller Regel mehrere Nationalitäten.

Im »Kommunistischen Manifest« heißt es: »Die Arbeiter haben kein Vaterland.« Der Satz hat zu sehr verschiedenen Deutungen Anlass gegeben. Man muss sich jedoch den historischen Hintergrund vor Augen halten, vor dem er geschrieben wurde.

Den Satz prägte der Bund der Kommunisten, ein etwa 500 Mitglieder starker Verein von deutschen Handwerksgesellen im Pariser Exil, die vor Not, Repressalien und einer feudalen Ordnung geflohen waren, in der sie keinerlei Rechte hatten. Roman Rosdolsky zufolge meinte der Ausdruck »Vaterland« einen demokratischen Nationalstaat, dem Arbeiter sich zugehörig fühlen konnten. Der Staat, in dem sie lebten, hatte jedoch für sie nichts übrig. Sie hatten ihm gegenüber deshalb auch keine Loyalität zu haben, weil er nur Ausdruck der organisierten Gewalt der herrschenden Klassen war.
Der Satz hat aber nicht nur diese negative Bedeutung. Marx und Engels haben ihn offensiv gewendet: Das Vaterland der Arbeiter ist die Welt, sie stehen nicht für die nationale Borniertheit des Bürgertums, das Nationen voneinander trennt. Sie sind die wahren Erben des humanistischen und universalistischen Gedankens der Aufklärung. Das heißt nicht, dass sie »anational« seien, nur einer abstrakten kosmopolitischen Gemeinschaft zugehörig; sie sind in ihrer Kultur verwurzelt, die sie mit anderen Klassen ihrer »Nationalität« teilen. Internationalismus ist somit Einheit in der Vielfalt.

Kapitalistische Internationalisierung
Das »Kommunistische Manifest« hat die große Industrie dafür gefeiert, dass sie »eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander« schafft, nicht nur die materielle Produktion vereinigt, sondern auch das intellektuelle Leben: »Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der entsprechenden Lebensverhältnisse.«
Die zunehmende Internationalisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die Entwicklung eines Weltmarkts mit immer mehr voneinander abhängigen Bestandteilen würden also Lebenssysteme über die nationalen Grenzen hinaus verallgemeinern und homogenisieren, wodurch die Bedingungen für eine Verschmelzung der Völker zu einer universalen Gemeinschaft im Sozialismus geschaffen würden. Er werde »die Antriebe zur Assimilation der Nationen zur Vollendung bringen, die bereits im Kapitalismus wirksam sind« (Enzo Traverso).
Bekanntlich kam es anders. Was hier als eine einfache Fortschreibung einer im Kapitalismus bereits angelegten historischen Tendenz erscheint, hat sich in Wirklichkeit als ein Entwicklungspfad herausgestellt, der die rascheste Umkehr erfordert. Die »Abhängigkeit der Nationen voneinander«, die die Internationalisierung des Kapitals geschaffen hat, ist nicht deren bereichernde Verquickung auf gleichberechtigter Basis, sondern ein Verhältnis von Ausbeutung und Behinderung einer eigenständigen ökonomischen Entwicklung. Sie schafft keine »Welt der Brüderlichkeit«, sondern eine tiefster Ungleichheit. Marx hat dies übrigens später am irischen Beispiel auch durchaus so analysiert.

Kolonialismus
Die kapitalgetriebene ungleiche Entwicklung setzte bereits mit der industriellen Revolution ein. Nach dem Ende der ersten großen internationalen kapitalistischen Krise 1857, die von Marx im Kapital untersucht wird, erfuhren auch die mitteleuropäischen Kernländer einen industriellen Aufschwung. Im Habsburgerreich hatte sie eine ungleiche Entwicklung zwischen den industriell und den landwirtschaftlich-handwerklich geprägten Gebieten zur Folge. Sie führte zu einer inneren Kolonisation, die vornehmlich die slawischen Bevölkerungsteile benachteiligte, da diese den Hauptteil der Bauernschaft und bestenfalls noch eine abhängige Staatsbürokratie stellten.
So entwickelten sich in den Städten der Donaumonarchie, hauptsächlich unter der Intelligenz und im Rahmen der Kirchen, national-kulturelle Bewegungen (unter den Tschechen, den Kroaten, den Ukrainern…), die den Kampf gegen ihre Unterdrückung nicht so sehr als eine soziale Aufgabe auffassten (Bauernbefreiung und Agrarreform), sondern als eine kulturelle (Freiheit der Sprache, der Religion, Bildungs- und damit Aufstiegschancen) und dann auch eine als politische: Einbehaltung der Steuern, Wahlrecht, Eigenstaatlichkeit. Die aufstrebende bürgerliche Klasse klagte ihren Anteil am wirtschaftlichen Fortschritt ein, war allerdings in den meisten Fällen weder bereit noch in der Lage, ein Programm für die Bauernbefreiung zu entwickeln. So ergab sich in Polen, später auch in der Ukraine die Situation, dass sozialistische Intellektuelle aus den Städten zeitweise einen Massenanhang aufbauen konnten und damit zur Trägerin der »nationalen Idee« wurden.

Proletarischer Internationalismus
Dies lief nun dem Geschichtsbild der II.Internationale völlig zuwider. Sie hing mehrheitlich der Vorstellung an, die wirtschaftlich rückständigen Länder Europas müssten die bürgerliche Entwicklung Westeuropas nachholen, denn nur die kapitalistische Entwicklung schaffe die Arbeiterklasse, die deren Widersprüche dann überwinden könne.
Ganz ausgeprägt hat diesen Standpunkt Rosa Luxemburg in bezug auf das russisch besetzte Polen vertreten, was sie dazu verleitete, die Notwendigkeit einer polnischen Unabhängigkeit rundweg zu bestreiten. Lenin hat das Etappendenken über Bord geworfen, wonach eine bürgerlich-kapitalistische Phase das notwendige Durchgangsstadium zum Sozialismus sei. Und er hat, als schärfster Kritiker des großrussischen Chauvinismus, das politische Recht auf nationale Selbstbestimmung, also das Recht auf Bildung eines eigenen Staates, zu einem Grundprinzip der sowjetischen Herrschaft gemacht, d.h. er war bereit, Gebiete des Zarenreichs aufzugeben, wozu die Austromarxisten und auch die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie nicht bereit waren.
Die unbedingte Unterstützung der polnischen Unabhängigkeit, die der Internationalen Arbeiterassoziation so am Herzen gelegen hatte, hatte in der II.Internationale nicht mehr denselben Rückhalt, sie hoffte für den Sturz des Zarismus auf die erwachende Arbeiterbewegung in Russland. Die II.Internationale verabschiedete 1896 auf ihrem Londoner Kongress eine Resolution, in der sie das Recht auf nationale Selbstbestimmung in sehr allgemeinen Worten betonte, womit die Differenzen nur verkleistert wurden.
Blindheit bis Hilflosigkeit bedeutender Führer der II.Internationale wie Rosa Luxemburg gegenüber dem nationalen Aufbruch unter den slawischen Völkern ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit. Denn in einem anderen Punkt hatte sie unbedingt recht: Sie pochte auf einen internationalistischen Ansatz, auf die Zusammenarbeit der polnischen mit der russischen Arbeiterklasse, um den Zaren zu stürzen, während die Polnische Sozialistische Partei (PPS), ihre Kontrahentin in der Auseinandersetzung, ein unabhängiges Polen als europäisches Bollwerk gegen das Zarenreich konzipierte und von der II.Internationale verlangte, sie müsse sich die antirussische Perspektive zu eigen machen.
Luxemburg war da ganz im Einklang mit Lenin, der 1916 schrieb: »[D]ie Sozialisten der unterdrückten Nationen [müssen] auf die vollständige und bedingungslose, auch organisatorische Einheit der Arbeiter der unterdrückten Nation mit denen der unterdrückenden Nation besonders bestehen und sie ins Leben rufen. Ohne dies ist es unmöglich, auf der selbständigen Politik des Proletariats sowie auf seiner Klassensolidarität mit dem Proletariat der andern Länder … zu bestehen.«
Die Position der PPS führte zur Bejahung des Krieges gegen Russland, die internationalistische Position Lenins und Luxemburgs zu dessen schärfster Ablehnung.

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