Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2024

Literat – Pazifist – Anarchist
von Volker Brauch

Das literarische und politische Schaffen von Erich Mühsam ist geprägt durch die unbedingte Aufrichtigkeit und Kompromisslosigkeit, seinen Traum von einem selbstbestimmten, freien Menschen zu verwirklichen. Er bezahlte ihn mit Anfeindungen, Niederlagen, Gefängnisaufenthalten, Folter und letztlich mit dem Tod. Seine Parteinahme galt immer den Ausgestoßenen, Entrechteten und Ausgebeuteten, denen er sich mit tiefem menschlichem Gefühl verbunden fühlte. Bis heute zeigt sein Lebenswerk eine große Strahlkraft. Der 10. Juli, 90.Jahrestag seines Todes, ist ein Anlass, an ihn zu erinnern.

Am 6. April 1878 in Berlin geboren, wächst Erich Mühsam in Lübeck im Haus des jüdischen Apothekers Siegfried Seligmann und seiner Frau Rosalie auf. Seligmann ist ihm ein mit dem Rohrstock prügelnder Vater. Wegen »sozialistischer Umtriebe« wird Mühsam vom Gymnasium verwiesen, wegen der Weitergabe von schulinternen Vorgängen an eine sozialdemokratische Zeitung. Er beginnt eine Apothekerlehre, arbeitet danach als Apothekergehilfe in Lübeck, Blomberg und Berlin.
Schon früh wird sein literarisches Talent erkannt. Es gibt erste Veröffentlichungen in anarchistischen Zeitungen. Er wird freier Schriftsteller, schließt sich der Dichtergruppe »Neue Gemeinschaft« an und bleibt mit Gustav Landauer bis zu dessen gewaltsamem Tod 1919 in enger Freundschaft verbunden; Lan­dauer macht ihn mit der kommunistisch-anarchistischen Bewegung bekannt.
In dieser Lebensphase neigt Mühsam nach eigenem Bekunden zu einem theoretisch kaum reflektierten »Gefühlsanarchismus«, ­eine Phase starker romantisierender Hoffnungen. Er veröffentlicht in verschiedenen Zeitungen, u.a. in der satirischen Wochenzeitschrift Simplicissimus, und kritisiert scharf bürgerliche Normen und Autoritäten wie auch bürgerliche Tendenzen und den Reformismus der damaligen SPD. Den Marxismus lehnt er wegen autoritärer Züge ab und sympathisiert mit der »Revolte des Subproletariats«.
In der Zeit zwischen 1904 und 1908 unternimmt er ausgedehnte Reisen nach Zürich, Ascona, Norditalien, München, Wien, Paris. In München gründet er die Gruppe »Tat« zur Agitation des Subproletariats und wird zu einer Zentralfigur der Schwabinger Bohème; er fällt als Bürgerschreck mit entsprechendem Lebenswandel auf. In dieser Zeit entsteht sein bekanntestes Gedicht »Der Revoluzzer« mit dem Untertitel: »Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet«, die ihm das sehr übel genommen hat. Das Gedicht wird in der Folgezeit unzählige Male vertont und aufgeführt.

Der Revoluzzer
Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet

War einmal ein Revoluzzer,
Im Zivilstand Lampenputzer;
Ging im Revoluzzerschritt
Mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: »Ich revolüzze!«
Und die Revoluzzermütze
Schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
Mitten in der Straßen Mitten,
Wo er sonsten unverdrutzt
Alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
Rupfte man die Gaslaternen
Aus dem Straßenpflaster aus,
Zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
Schrie: »Ich bin der Lampenputzer
Dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehen,
Kann kein Bürger nichts mehr sehen,
Laßt die Lampen stehn, ich bitt!
Denn sonst spiel’ ich nicht mehr mit!«

Doch die Revoluzzer lachten,
Und die Gaslaternen krachten,
Und der Lampenputzer schlich
Fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zuhaus geblieben
Und hat dort ein Buch geschrieben:
Nämlich, wie man revoluzzt
Und dabei doch Lampen putzt.

Ab 1911 veröffentlicht er die anarchistische Zeitung Kain – Zeitschrift für Menschlichkeit, eine Kampfschrift gegen Krieg, kapitalistische Ausbeutung und staatliche Bevormundung. Sie erscheint neun Jahre. Im Kain ruft er zur Verbrüderung des Subproletariats von »Verbrechern, Landstreichern, Huren und Künstlern« auf.

Pazifist…
In der März-Ausgabe von 1913 schreibt er einen kritischen Beitrag über die damalige Suffragettenbewegung und bezieht eine positive Stellung zur Frauenbewegung. Seiner Meinung nach ist die Unterdrückung der Frauen ein »Verbrechen der von Männern inszenierten Weltwirtschaft«.
Während des Ersten Weltkriegs versucht er erfolglos einen internationalen Bund der Kriegsgegner zu gründen. Seine Rebellion gegen Krieg und Kapitalismus und seine antimilitaristische, pazifistische Gesinnung bleiben allerdings weitgehend wirkungslos. Viele leidenschaftliche Gedichte und Zeitungsbeiträge aus der Zeit belegen seine politische Einstellung. Er ruft Soldaten auf, Drill und Gehorsam zu verweigern, die Herrschaft des Militarismus abzuschütteln, er ruft zum Generalstreik auf und proklamiert eine Friedenssehnsucht über alle Gräben hinweg. In dieser Zeit heiratet er seine Lebenspartnerin Kreszentia »Zenzl« Elfinger, die ihn bis 1962 überlebt.
Gegen Ende des Ersten Weltkriegs wird Mühsam wegen seiner Weigerung, am »Vaterländischen Hilfsdienst« teilzunehmen, verhaftet und zu sechs Monaten Festungshaft verurteilt.

… und Revolutionär
Als einer der ersten Initiatoren der bayrischen Novemberrevolution tritt er, zusammen mit Ernst Toller und Gustav Landauer, dem Revolutionären Zentralrat bei und ruft den Freistaat Bayern als demokratischen Räterepublik aus.
Durch den sog. »Palmsonntagputsch« republikanischer Schutztruppen, der Reichswehr und nationalistischer Freikorpsverbände wird das sozialistische Experiment der Münchner Räterepublik beendet. Erich Mühsam wird zusammen mit anderen Inhaftierten aus der Zeit der Räterepublik 1919 erst in der Festung Ansbach, später bis 1924 im Gefängnis Niederschönenfeld inhaftiert. Das Urteil beläuft sich auf 15 Jahre Festungshaft, er kommt aber nach fünf Jahren, im Zuge einer Amnestie, frei.
Direkt nach seiner Entlassung zieht er nach Berlin und gibt die anarchistische Zeitschrift Fanal heraus; er betätigt sich weiterhin unermüdlich als Aktivist.

Anarchie und Kommunismus
Das Zusammengehen aller revolutionären Kräfte ist für Mühsam eine politische Notwendigkeit und eine Herzensangelegenheit. Zwischen diesen beiden Polen positioniert er sein politisches Weltbild, überall sitzt er zwischen allen Stühlen. Für ihn muss die Ablösung des Kapitalismus der Sozialismus sein. »Nur die ideale Forderung in ihrem weitesten Umfang schafft Fortschritt im engen Kreise. Die Utopie ist die Vorbedingung jeder Entwicklung«, schreibt er im Idealistischen Manifest.
1919 tritt Mühsam kurzzeitig der KPD bei, ruft zur Unterstützung der Russischen Revolution auf, verlässt die Partei jedoch bereits ein Jahr später.
Von 1925 bis 1929 engagiert er sich unermüdlich mit programmatischen Schriften und Vorträgen für die Gefangenenhilfsorganisation Rote Hilfe Deutschland, um inhaftierte Genossen in der Haft zu unterstützen. Aus diesem Grund wird er aus der Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands (FKAD) ausgeschlossen, die ihm eine zu große Nähe zur KPD vorwirft. Aber auch aus der Roten Hilfe tritt er 1929 aus, da sie entschieden hat, ausschließlich KPD-Genossen zu unterstützen und ihre Überparteilichkeit aufgibt – eine politische Entwicklung, die die zunehmende Stalinisierung der KPD zur Ursache hat.
Zu Beginn der 30er Jahre wird er Mitglied in der anarchosyndikalistischen FAUD, was ihn aber nicht davon abhält, auch politisch-satirische Beträge unter dem Pseudonym »Tobias« in bürgerlichen Organen wie dem Ulk und dem Berliner Tageblatt zu veröffentlichen.
Früh erkennt Mühsam die Gefahr des her­aufziehenden Faschismus und warnt als einer der Ersten vor dem Erstarken des Nationalsozialismus.
In der Nacht auf den 28.Februar 1933 wird er von der SA verhaftet und nach mehr als 16 Monaten »Schutzhaft« von der SS ermordet. Als Rätesozialist, anarchistischer Publizist, Jude, Antimilitarist und Rebell gegen den Untertanengeist ist er den Nationalsozialisten besonders verhasst. Unzählige Male geprügelt und misshandelt, die Finger gebrochen, um ihn am Schreiben zu hindern, wird er mit einer Giftspritze getötet und, um einen Suizid vorzutäuschen, in der Toilette aufgehängt. In der Nacht vor seinem Tod bekennt er einem Mitgefangenen, dass er niemals in den Freitod gehen werde – eine letzte Form seines Widerstands.
Beerdigt liegt Erich Mühsam zusammen mit seiner Frau Zenzl auf dem Berliner Waldfriedhof in Dahlem, ein Ehrengrab der Stadt Berlin. Gedenksteine für ihn wurden auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Oranienburg errichtet, dem Ort seines Todes. Zahlreiche Straßen und Plätze tragen seinen Namen. Die Erich-Mühsam-Gesellschaft verleiht alle drei Jahre den Erich-Mühsam-Preis.
Sein lebenslanger Kampf galt dem würdigen Menschsein ohne Unterdrückung und für Gerechtigkeit unter gleichen Individuen. Moralisch aufrichtig, charismatisch, integer und ein unbeirrbarer Fundamentalkritiker – alles das war Erich Mühsam. Er starb in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1934.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.