Thomas Malthus und David Ricardo: Die Entdeckung des Klassenkampfs
von Ingo Schmidt
Zur Erinnerung: Adam Smith betrachtete Arbeiter, Unternehmer und Grundeigentümer als Angehörige von Einkommensklassen, als Bezieher von Lohn, Profit bzw. Grundrente. Er interessierte sich aber nicht für die Frage, warum Arbeiter außer ihrer Arbeitskraft nichts, andere dagegen Unternehmen und Grundeigentum besaßen. Statt Interessengegensätzen zwischen diesen Klassen sah er die Möglichkeit wachsenden Wohlstands für die ganze Nation. Sofern die Politik dem freien Handel Raum ließe, würde die Verfolgung eigener Geschäftsinteressen zu größeren Märkten, einer produktivitätssteigernden Vertiefung der Arbeitsteilung und damit steigenden Einkommen für alle führen.
Smiths Philosophie des »Miteinander der Klassen zum Wohle aller« war ein Produkt der schottischen Aufklärung. Und sie stieß auf Widerspruch: bei Thomas Malthus (1766–1834), Pfarrer und Professor an einem College, das die East India Company eingerichtet hatte. Und bei David Ricardo (1772–1823), der als Börsianer genug Geld verdient hatte, um sich als freischwebender Intellektueller ganz seinen ökonomischen Studien zu widmen und gegen Ende seines Lebens als Abgeordneter für die Abschaffung von Getreidezöllen zu werben.
Malthus’ »Bevölkerungsgesetz« (An Essay on the Principle of Population) erschien 1798, knapp ein Jahrzehnt nach der Französischen Revolution und inmitten der enclosures, der Einzäunungen von Bauernland durch Grundbesitzer, die in England Bauern in arme, eigentumslose Proletarier verwandelten. Mit den Sansculotten, in gewisser Hinsicht eine französische Variante der englischen Diggers, war das Gespenst eines Aufstands der Armen zurückgekehrt.
Für alle reicht es nicht
Malthus entwickelte eine Theorie, derzufolge den Armen leider nicht zu helfen sei. Sie seien zur Armut verdammt. Obwohl die Industrialisierung zu Malthus’ Lebzeiten noch nicht allzuweit vorangeschritten war, erkannte er die Möglichkeit einer Überproduktion von Waren, die sich die Arbeiter wegen ihrer Armut nicht leisten konnten und die Unternehmer nicht leisten wollten, da ihre Konsumbedürfnisse bereits befriedigt waren. Malthus’ Vorschlag zur Verhinderung von Überproduktionskrisen: Die Grundeigentümer könnten sich die anderweitig nicht absetzbaren Waren leisten, würden mit ihrem Luxuskonsum aber nicht zum Aufbau weiterer Produktionskapazitäten beitragen. Damit sprach er offen aus, was liberale Gleichheitsapostel leugnen: Wie im Feudalismus sind auch im Kapitalismus nicht alle gleich. Oder zugespitzt: Für alle reicht es nicht.
Ricardo teilte Malthus’ Ansicht, dass die Arbeiter zu einem Leben in Armut verdammt seien, hielt Überproduktionskrisen aber für unmöglich. Seine »Grundsätze der politischen Ökonomie« (On the Principles of Political Economy and Taxation) erschienen 1817. Zwei Jahre nach dem Wiener Kongress, der dem Spuk der gegebenenfalls mit Waffengewalt in Europa verbreiteten, daher aber auch arg entstellten Ideen der Französischen Revolution ein Ende bereitet hatte, konsolidierte sich die Monarchenherrschaft in Europa, was der Entwicklung des Kapitalismus keinen Abbruch tat.
Waren Malthus’ Ideen noch stark vom Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus geprägt, ging es Ricardo um die ganze ökonomische Macht des Kapitals. Dafür mussten nicht nur die Arbeitslöhne, sondern auch die Grundrente so niedrig wie möglich gehalten werden. Stellten sie doch einen Abzug vom Akkumulationsfonds der Kapitalisten dar. Und der konnte gar nicht groß genug sein, bestimmte er doch die Menge der wert- und vor allem profitbildend eingesetzten Arbeit. Die Vergrößerung des Akkumulationsfonds erforderte den Kampf des Kapitals gegen Arbeiter und Grundbesitzer. Der Klassenkampf als Mittel kapitalistischer Bereicherung war entdeckt.
Armut als Naturgesetz?
Aber wieso müssen die Arbeiter in Armut leben? Und wie lässt sich die Grundrente beschränken? Malthus antwortete auf die erste Frage mit der Behauptung, steigende Löhne würden Arbeiter dazu verführen, mehr Kinder zu machen. Mehr Essen, mehr Sex, mehr Kinder. Das Bevölkerungswachstum entspreche einer geometrischen Reihe: 2, 4, 8, 16. Die Produktion von Nahrungsmitteln komme da nicht mit. Denn das Wachstum der Agrarproduktion folge einer arithmetischen Reihe: 2, 4, 6, 8. Die gewachsene Bevölkerung könne nicht ernährt werden. Hunger würde Bevölkerungsniveau und Löhne auf ihr ursprüngliches Niveau zurückführen. Weniger Essen, weniger Sex, weniger Kinder.
Deshalb lehnte er die Armenfürsorge ab. Guten Absichten zum Trotz könne sie die Arbeiter nicht aus der Armut führen. Ganz auf der Linie dieser Theorie – und wohl auch seiner moralischen Ansichten als Pfarrer – lag auch seine Empfehlung für sexuelle Enthaltsamkeit.
Charles Darwin bestritt die Annahme des arithmetischen Wachstums in der Tier- und Pflanzenwelt, obwohl sein Denken stark von Malthus beeinflusst war. Malthus hatte dieses arithmetische Wachstum, ebenso wie das geometrische Bevölkerungswachstum, postuliert, sich aber nicht um empirische Belege bemüht. Das hinderte Ricardo nicht daran, Malthus’ Lohntheorie zu übernehmen. Ebenso wie später Ferdinand Lassalle, der sie unter dem Namen »ehernes Lohngesetz« in der entstehenden deutschen Arbeiterbewegung verbreitete.
Ausweg Importe
Trotz der Annahme, Löhne könnten nicht über ein physiologisches Existenzminimum steigen, sah Ricardo Grenzen der Kapitalakkumulation. Um die mit fortschreitender Akkumulation beschäftigten Arbeiter zu ernähren, müssten mehr Böden kultiviert werden. Diese seien aber weniger fruchtbar als die bereits beackerten Böden. Der Aufwand zur Erzeugung einer zusätzlichen Einheit an Lebensmitteln erfordere daher einen überproportionalen Einsatz an Arbeitskraft pro Hektar Land. Es sei aber der Ertrag des letzten, und am wenigsten fruchtbaren Hektars Land, der die Grundrente bestimme. Die fruchtbareren Flächen, die eine Einheit Lebensmittel mit weniger Arbeitsaufwand zu produzieren erlauben, würden eine höhere, eine Differentialrente abwerfen. Diese steige aufgrund abnehmender Grenzerträge des Bodens mit fortschreitender Akkumulation immer weiter an, bereichere die Grundeigentümer, treibe die Kapitalisten aber in eine Profitklemme, trotz konstanter und minimaler Löhne.
Das führte Ricardo zu der Frage, wie sich die Grundrente beschränken lasse. Seine Antwort: Freihandel und technischer Fortschritt. Würden Lebensmittel, zu Ricardos Zeiten vor allem Getreide, aus Ländern eingeführt, in denen sie billiger herzustellen sind als in Großbritannien, könne der Geldlohn der Arbeiter gesenkt, die Profitrate entsprechend erhöht werden, ohne den Reallohn zu senken. Was auch nicht möglich war, weil er ja schon dem Subsistenzminimum entsprach. Außerdem könne die Kultivierung zusätzlicher, aber eben weniger fruchtbarer Flächen durch technischen Fortschritt in der Industrie vermieden werden. In dessen Folge werde weniger Arbeit zur Herstellung einer Produkteinheit gebraucht.
Der 3.Auflage seiner »Grundsätze« fügte Ricardo ein Kapitel »Über Maschinerie« hinzu, das die Möglichkeit technologischer Arbeitslosigkeit ins Auge fasste. Nicht vom Arbeitsangebot, sondern von der Nachfrage nach Arbeitskräften, die ihrerseits von Kapitalakkumulation und technischem Fortschritt abhängt, wird demnach das Beschäftigungsniveau bestimmt. Von da war es nur noch ein kleiner Schritt zu Marx’ Theorie der industriellen Reservearmee als eines Mechanismus, der profitbedrohende Lohnsteigerungen verhindert. Marx verstand die Theorie der Reservearmee ausdrücklich als Gegenentwurf zu Malthus’ Bevölkerungsgesetz.
Malthus und Ricardo heute
Von Ricardos Theorie des technischen Fortschritts wollten spätere Liberale nichts wissen. Zu wenig passte die Warnung vor technologischer Arbeitslosigkeit zu der Vorstellung, dass jeder der einen Job suche, auch einen finden werde. Zu groß war die Nähe zu Marx’ antikapitalistischen Theorien. Dafür beriefen sie sich in Verfolgung des Globalisierungsprojektes am Ende des 20.Jahrhunderts auf den Freihandelstheoretiker Ricardo – auch wenn es ihnen mehr um Direktinvestionen und Standortverlagerungen als um Freihandel ging.
Malthus avancierte zu einem Mahner, der den Zusammenhang von Armut und Bevölkerungswachstum früh erkannt hatte. Tatsächlich nahmen beide im 20.Jahrhundert massiv zu. Aber der von Malthus behauptete Zusammenhang von vorübergehend steigenden Einkommen und steigender Kinderzahl erwies sich als falsch. In Ländern, in denen die Einkommen dauerhaft stiegen, nahm die Kinderzahl ab.
Empirisch widerlegt, bietet Malthus eine Ideologie, mit der den Armen die Schuld an ihrem Elend zugeschoben wird. Ebenso wie die Schuld an der Erschöpfung natürlicher Ressourcen – es gibt einfach zu viele Menschen. Obwohl der Ressourcenverbrauch pro Kopf der Bevölkerung bei den Reichen viel höher ist als bei den Armen. Was wiederum daran liegt, dass der technische Fortschritt seit den Tagen Ricardos arbeitsparend, aber nicht ressourcensparend war. Mit dieser Art von technischem Fortschritt lassen sich die ökologischen Probleme der Gegenwart nicht lösen. Erst recht nicht damit, dass die Armen für die Probleme verantwortlich gemacht werden. Sie leiden darunter viel mehr als die Reichen.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.
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