Wo bleibt die Linke?
von Miguel Urbán
Die vergangenen Europawahlen haben Wachstum und Stärke der extremen Rechten erneut bestätigt. Ihre derzeitige Aufsplitterung auf drei Fraktionen im Europaparlament trübt das Bild ein wenig, aber mit knapp über 20 Prozent ist sie nun die zweitstärkste Kraft in Europa – noch vor den Sozialdemokraten.
Seit Beginn des Jahrhunderts nimmt die extreme Rechte stetig zu, innerhalb eines Jahrzehnts hat sie ihren Wahlanteil verdoppelt. Sie entwickelt sich zu einer Kraft, die in der nächsten Legislaturperiode parlamentarische Mehrheiten bestimmen könnte. Dem Rassemblement National (RN) in Frankreich ist es nicht nur gelungen, zum dritten Mal in Folge die Europawahlen zu gewinnen, er ist jetzt auch die Partei mit den meisten Abgeordneten im Europäischen Parlament. Das hat in Frankreich ein wahres Erdbeben ausgelöst, Staatspräsident Macron war gezwungen, eine Neuwahl des Parlaments auszurufen.
Enttäuschte Erwartungen
Die Linke hingegen bildet die kleinste Fraktion im neuen Europaparlament. Sie steckt in einer existenziellen Krise und muss sich fragen, was sie falsch gemacht hat, warum sie aufgehört hat, ein Ventil für Unzufriedenheit und Protest gegen das Establishment zu sein und diese Rolle an die extreme Rechte abgegeben hat. Wie kann sie wieder eins werden?
Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt gewann das radikale Linksbündnis SYRIZA die Europawahlen in Griechenland. Es war der Auftakt zu ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen ein Jahr später, als zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kraft links von der Sozialdemokratie die Regierung eines EU-Landes übernahm.
Erst vor zehn Jahren zog mit Podemos eine neue politische Kraft in das Europäische Parlament ein, die es in etwas mehr als einem Jahr mit mehr als 5 Millionen und 21 Prozent der Stimmen fast geschafft hätte, die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) zu überholen.
Blickt man auf diese Jahre zurück, kommt man nicht umhin, sich an Walter Benjamins klassische These zu erinnern: »Jeder Aufstieg des Faschismus zeugt von einer gescheiterten Revolution.« Wenn wir die Aussage nicht wörtlich nehmen, ist sie auch heute noch relevant. Sie hilft, die Risiken von Linksregierungen zu verstehen, die sich mäßigen und die Hoffnungen der Mehrheit der Bevölkerung auf einen Wechsel nicht erfüllen. Wenn Erwartungen enttäuscht werden, entstehen Unzufriedenheit und Frust, und es setzt sich die Stimmung durch: »Es geht nicht«, »Sie sind alle gleich«. Eine neoliberale Antipolitik macht sich breit, die dunkle Leidenschaften nährt, auf denen die reaktionäre Internationale aufbaut.
Zwangsjacke EU
Die Mehrheit der institutionellen europäischen Linken hat noch nicht die Lehren aus der Niederlage der Syriza-Regierung gezogen. Sie sieht nicht, dass es keinen Spielraum für Reformen gibt, wenn wir es mit einer Systemkrise zu tun haben. Sie versteht nicht, dass die EU der konzentrierte Ausdruck der neoliberalen Verfasstheit des Marktes ist, bei der die so genannten Gemeinschaftsregeln Vorrang vor nationalem Recht und damit vor der Volkssouveränität haben – das haben das griechische Referendum gegen die Sparpolitik im Juli 2015 und die Durchsetzung des Sparmemorandums durch die Troika deutlich gezeigt.
Wenn die Linke keine Alternative zum Chaos, zur Klimakrise, zur sozialen Unsicherheit, zum Umgang mit Migrant:innen und zur wachsenden Ungleichheit anbietet, werden diese Räume von der extremen Rechten besetzt – dann aber aus der Perspektive der Ausgrenzung und Kriminalisierung derer, die anders und schwächer sind. Wir müssen die Systemkrise verstehen, in der wir uns befinden: Die Bereiche der Gesellschaft, in denen die Unzufriedenheit wächst, werden immer mehr. Die Linke aber wird vielfach als Teil des Systems und somit als Teil des Problems wahrgenommen.
Die Linke hat viel Anlass, über sich selbst nachdenken. Das darf sie aber auf keinen Fall dazu verführen, einer gewissen Faszination für die von der extremen Rechten aufgeworfenen Themen zu erliegen: Protektionismus, ausgrenzende Souveränität, Antieinwanderungspolitik. Das wäre ein sehr gefährlicher Weg.
Linke müssen die gesellschaftlichen und politischen Probleme im Rahmen des Wiederaufbaus eines Projekts angehen, das auf der autonomen Selbstorganisation der Arbeiterklasse basiert und Vorschläge für eine ökosozialistische und feministische Gesellschaft hat. Sonst kann es so aussehen, als laufe sie den Vorschlägen der extremen Rechten nach, in einer jener hoffnungslosen Übungen, die darin bestehen, den Gegner zu imitieren, um seine Erfolge zu »stehlen«. Diese Taktik mag für die Rechte funktionieren, wenn sie die oberflächlichsten Aspekte der Linken kopiert, die Linke aber führt sie in die totale Ohnmacht und Selbstzerstörung.
Ein solches Herangehen führt dazu, dass wir immer weniger über Demokratie, Umverteilung des Reichtums, ökologische Planung der Wirtschaft, Renationalisierung von Wirtschaftssektoren, Feminismus, die Ausweitung der Rechte und immer mehr über die von der extremen Rechten vorgebrachten Themen sprechen. Was noch schlimmer ist: Manche Linke sprechen über die Probleme, die die extreme Rechte interessieren, genauso wie die extreme Rechte.
Dieser Ansatz, der sich paradoxerweise als »arbeiterfreundlich« bezeichnet, akzeptiert das Bild, das die neue Rechte von der Arbeiterklasse aufgebaut hat: sie sei rassistisch, korporatistisch und ressentimentgeladen. Reaktionäre Strömungen innerhalb des linken Lagers, die sich pauschal unter einer Art »nationalem Arbeitertum« zusammenfassen lassen, müssen wir deshalb unmissverständlich anprangern. Sie offenbaren nur ihre eigene Orientierungslosigkeit.
Polarisierung schafft Räume
Politische Polarisierungen werden in vielen Fällen durch das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von sozialen Kämpfen bestimmt. In Ländern, in denen Mechanismen der gegenseitigen Unterstützung und des sozialen Zusammenschlusses in die Praxis umgesetzt wurden, konnten soziale Bewegungen an Bedeutung gewinnen – so die Plattform der von Hypotheken Betroffenen; die Mietervereinigungen und die Mareas zur Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen in Spanien; die solidarischen Krankenhäuser und Apotheken für die Grundversorgung, die Suppenküchen, die urbanen Gärten, der direkte Vertrieb von Erzeuger zu Verbraucher in Griechenland.
Gewerkschaftliche Zusammenschlüsse für Kämpfe wie den gegen die Erhöhung des Rentenalters in Frankreich mit zahlreichen Streiks, Mobilisierungen und Aktionen des zivilen Ungehorsams haben nicht nur Macron vollständig diskreditiert, sie bilden auch die Grundlage für den möglichen Erfolg der neuen »Volksfront« bei den Wahlen.
Die politische Polarisierung hat es in Frankreich möglich gemacht, Räume für wahlpolitische Optionen zu öffnen, die dem gesellschaftlichen Mainstream das Feld streitig machen – und zwar mit der Perspektive eines demokratischen Bruchs, nicht des fremdenfeindlichen Identitätsentzugs.
In Zeiten der Systemkrise und der zunehmenden politischen Polarisierung wird Hegemonie nicht in der Mitte, sondern an den Extremen gewonnen: in der antagonistischen Konfrontation zwischen Elite und Volk, verstanden im engsten Sinne des Klassenantagonismus.
Diese Konfrontation ist auch eine Gelegenheit, neue Formen der Demokratie zu erfinden. Sie ist ein Moment der demokratischen Erneuerung, der Neugestaltung von politischer Repräsentation und des Umsturzes aller gesellschaftlichen Regeln, die uns in diese Katastrophe geführt haben.
Die Wahrheit ist, wir haben keine Zeit mehr, pessimistisch zu sein und uns mit dem »geringeren Übel« abzufinden.
Der Autor war von 2014 bis 2024 Mitglied des Europaparlaments (siehe SoZ 6/2024).
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