Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2024

Ein perfider Plan aus Washington
von Gilbert Achcar

Ende Mai verkündete US-Präsident Joe Biden einen Vorschlag für einen Waffenstillstand in Gaza, den er »Israel« zuschrieb, ohne zu sagen, welche israelische Regierungsstelle ihn gebilligt hatte. Kommentatoren in den Medien fanden es eher seltsam, dass ein israelischer Vorschlag vom US-Präsidenten verkündet wurde statt von offiziellen isra­elischen Quellen.

Israels Ministerpräsident Netan­yahu schien sich sogar von dem Vorschlag distanzieren zu wollen, indem er darauf beharrte, die Offensive werde so lange fortgesetzt, bis die militärischen und politischen Fähigkeiten der Hamas vollständig ausgeschaltet und die israelische Kontrolle über den gesamten Gazastreifen gewährleistet sei.

Das scheinbare Durcheinander spiegelt eine echte Zwickmühle, hauptsächlich für Netanyahu selbst. Er sitzt nämlich zwischen zwei Stühlen: zwischen dem Druck, der von den USA, der israelischen Opposition und einer Gruppe innerhalb seiner eigenen Partei unter der Führung des »Verteidigungs«ministers Gallant ausgeübt wird, und dem entgegengesetzten Druck, der von Netanyahus Verbündeten auf der extremen zionistischen Rechten ausgeübt wird. Welcher Art ist dieser gegensätzliche Druck?
Beginnen wir mit den beiden »Neonazi«-Blöcken, mit denen sich Netan­yahu vor anderthalb Jahren verbündet hat, um eine Mehrheit in der Knesset zu erlangen, die ihm die Rückkehr an die Macht ermöglichen sollte. Bekanntlich sind beide der ­Ansicht, dass es keinen Sinn macht, mit der Hamas auch nur vorübergehend ein Abkommen zu schließen, und dass das Ziel des laufenden Krieges darin bestehen muss, den gesamten Gazastreifen einzunehmen, um ihn als Teil von »Eretz Israel« zwischen dem Fluss und dem Meer dem israelischen Territorium anzugliedern. (Auf dieses Ziel ist die zionistische extreme Rechte eingeschwenkt, nachdem sie hinnehmen musste, dass ihr »Groß-Israel« am Sinai im Süden und am Jordan im Osten Halt machen musste, während sie im Norden weiterhin die Golanhöhen und einen Teil des Südlibanons beansprucht.)
Die extreme zionistische Rechte will die Gaza-Bewohner aus dem Gazastreifen vertreiben – oder sie dazu zu bringen, ihn »freiwillig« zu verlassen – und sie durch jüdische Siedler ersetzen. Sie hält dieses Ziel für wichtiger als das Leben der verbleibenden Geiseln in den Händen der Hamas und anderer palästinensischer Fraktionen in Gaza.
Die beiden wichtigsten Parteien des US-Imperialismus sind demgegenüber der Ansicht, dass es im Interesse ihres Staates liegt, eine regionale Militärallianz zu bilden, die den zionistischen Staat wie auch Washingtons arabische Verbündete umfasst, also vom Ozean bis zum Golf reicht: das Königreich Marokko, Ägypten, das Königreich Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und andere Monarchien des Golfkooperationsrats sowie das Haschemitische Königreich Jordanien.
Für dieses Projekt hat Donald Trump während seiner Zeit im Weißen Haus große Anstrengungen unternommen. Sein Nachfolger Biden hat sie fortgesetzt, seine Politik in bezug auf den »Großen Mittleren Osten« ist kaum von der seines Vorgängers zu unterscheiden. Die Verwirklichung des Projekts erfordert jedoch eine »Lösung« der Palästinafrage, die auf der Schaffung eines »palästinensischen Staates« beruht, der diese »Lösung« absegnen würde, um die arabische Öffentlichkeit zu täuschen (so hoffen zumindest die entsprechenden Regierungen).

Der Plan
Das Schicksal des Gazastreifens würde diesem Ansatz zufolge durch eine Rückkehr zum Rahmen des Oslo-Abkommens geregelt, d.h. es würde eine Palästinensische Autonomiebehörde mit der Verwaltung dicht besiedelter palästinensischer Gebiete betraut, während die zionistische Armee diese Gebiete umzingelt und neben dieser Behörde für die Sicherheit sorgt.
Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass eine mit der Besatzung kooperierende Palästinensische Autonomiebehörde nicht in der Lage ist, den Volkswiderstand unter Kontrolle zu halten. Die US-Beamten und ihre arabischen Verbündeten stimmen auch darin überein, dass die derzeitige Behörde mit Sitz in Ramallah nicht in der Lage ist, die Hamas daran zu hindern, die Kontrolle über Gaza wiederzuerlangen, wenn sich die zionistische Armee aus den bevölkerten Gebieten der Enklave zurückzieht. Sie sind daher der Ansicht, die ideale Lösung bestehe darin, eine arabische »Friedenstruppe« in die bevölkerten Gebiete zu entsenden, auf die sich die mit der Besatzung kollaborierende Palästinensische Autonomiebehörde stützen könnte, um die Bevölkerung zu kontrollieren.
Unter Berufung auf westliche Quellen enthüllte die Financial Times, drei arabische Staaten hätten ihre Bereitschaft bekundet, eine Truppe nach Gaza zu entsenden: Ägypten, Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate.
Biden braucht einen Waffenstillstand, von dem er sagen kann, er sei durch die Bemühungen seiner Regierung zustande gekommen, um die Wahlverluste, die er in bestimmten Kreisen zu erleiden droht, in Grenzen zu halten.
Seine Regierung hat erhebliche Anstrengungen unternommen, um das israelische Kriegskabinett davon zu überzeugen, dem Entwurf für eine zweite Waffenruhe zuzustimmen, die aus drei Phasen besteht: Die erste Phase wäre ein sechswöchiger Waffenstillstand, in dem eine Reihe israelischer Gefangener und eine größere Zahl palästinensischer Gefangener freigelassen würden, parallel zum Rückzug der zionistischen Armee aus den dicht besiedelten Gebieten des Gazastreifens (wie im Oslo-Abkommen festgelegt).
Der Entwurf sieht sodann eine zweite Phase vor, in der die verbleibenden israelischen Gefangenen und eine zusätzliche Gruppe palästinensischer Gefangener freigelassen werden sollen. Netanyahu hat allerdings öffentlich bestritten, in dieser zweiten Phase einen vollständigen israelischen Rückzug aus Gaza versprochen zu haben, und betont, die zionistische Armee werde den Krieg erst dann beenden, wenn sie die vollständige Ausschaltung des Hamas-Potenzials im Gazastreifen erreicht habe.
Was Biden und die Mitglieder des zionistischen Kriegskabinetts jedoch wirklich wollen, ist nichts anderes als einen vorübergehenden Waffenstillstand, der zur Freilassung aller israelischen Gefangenen mit Ausnahme der männlichen Soldaten führt, damit sie vor der Öffentlichkeit behaupten können, dass sie alles getan haben, um diejenigen zu retten, die gerettet werden konnten. Die anderen werden als Teil des normalen Kriegsopfers betrachtet, das Soldaten zu zahlen bereit sind, wenn sie den Streitkräften beitreten.
Die Mitglieder des israelischen Kriegskabinetts wissen, dass die Vollendung ihrer Besetzung der Region Rafah wahrscheinlich den Tod der Gefangenen mit sich bringen wird – das ist die letzte Karte, die die Hamas-Führung in Gaza dann in den Händen hält. Sie wollen daher die Zahl dieser Gefangenen auf ein Maß reduzieren, das die israelische Öffentlichkeit verkraften könnte.

Das Kalkül
Die zweite und die dritte Phase des Projekts (Wiederaufbau des Gazastreifens) werden nicht zustande kommen, weil der Waffenstillstand nicht über die erste Phase hinausgehen wird. Das hat Netanyahu davon überzeugt, das Projekt überhaupt erst zu akzeptieren – wenn auch nur widerwillig, da er wusste, dass seine rechtsextremen Verbündeten es ablehnen würden.
Das ist der Grund für die Verwirrung: Netanyahu versucht, seine Verbündeten davon zu überzeugen, dass sie dem Projekt zustimmen und dennoch das Bündnis mit ihm nicht aufkündigen. Widrigenfalls wäre er gezwungen, sich auf die Opposition zu stützen – auf die Partei von Gantz und von Lapid.
Beide Parteien haben ihre Bereitschaft zum Ausdruck gebracht, Ne­tan­yahus Verbleib im Amt bis zu den nächsten Parlamentswahlen zu unterstützen, wenn er den Waffenstillstand und den Entwurf einer Regelung akzeptiert, die auf einer gemeinsamen arabisch-zionistischen Sicherheitskontrolle des Gazastreifens beruht.
Netanyahu steht also vor einer schwierigen Entscheidung. Die Hamasführer im Gazastreifen stehen allerdings vor einer noch schwierigeren Entscheidung, da von ihnen verlangt wird, auf die letzte Karte zu verzichten, die sie haben, um ihr Überleben zu sichern – im Austausch gegen einige Wochen Waffenruhe und einen massiven Zufluss an Hilfsgütern, um den Tod einer weiteren großen Zahl von Gaza-Bewohnern, insbesondere von Kindern, zu verhindern.

  1. Juni 2024

Gilbert Achcar lehrt an der School of Oriental and ­African Studies (SOAS), ­University of London
Quelle: https://blogs.mediapart.fr/gilbert-achcar/blog/050624/la-­treve-gaza-et-les-dilemmes-de-netanyahu-et-du-hamas

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