Der Aufschwung der extremen Rechten in Frankreich
von Olivier Besancenot
Der Wahlerfolg des Rassemblement National (RN) bei den Europawahlen macht es möglich, dass Marine Le Pen die nächste Staatspräsidentin von Frankreich wird. Und das Angebot des Vorsitzenden der Republikanischen Partei (die Konservativen) an Le Pen, ein gemeinsames Wahlbündnis zu bilden, zeigt, dass die Brandmauer gegen rechts bröckelt (der Vorsitzende ist inzwischen geschasste worden).
Olivier Besancenot (NPA) sprach auf der Ökosozialistischen Konferenz der ISO am 1. Juni über die Rechtsentwicklung in Frankreich und wie sie aufzuhalten ist.
Für den Wahlerfolg Le Pens (31,9 Prozent) gibt es Gründe, die für Frankreich spezifisch sind, und solche, die mit der allgemeinen internationalen Situation zusammenhängen.
Zu den französischen Besonderheiten gehört die Leugnung der Tatsache, dass es einen französischen Faschismus gibt. Das vorherrschende Narrativ ist, das Regime Vichy habe im Zweiten Weltkrieg, bedingt durch die deutsche Besatzung, mit den Nazis kollaboriert, es sei aber kein Faschismus gewesen. Es gibt aber sehr wohl einen französischen Faschismus, und der hat mehrere Wurzeln:
– Zum einen wurzelt sie in der autoritären französischen Rechten, die dem Totalitarismus zuneigt, gegen den Geist der Aufklärung und vor allem gegen die Französische Revolution ist – sie ist zutiefst konterrevolutionär. Das ist die Rechte der Vendée, des bewaffneten Kampfes der royalistisch-katholisch gesinnten Landbevölkerung 1793–96.
– Die zweite Wurzel, die komplett ausgeblendet wird, ist der politische Antisemitismus, der in Frankreich entstanden ist. Die Affäre Dreyfus, ein Justizskandal um einen jüdischen Artilleriehauptmann im Jahr 1894, war die Geburtsstunde einer sich als stockkatholisch, antisemitisch und oft royalistisch verstehenden Rechten.
– Die dritte Wurzel liegt im französischen Kolonialismus. Frankreich war das erste Land, das im Zuge der kolonialen Eroberungen die Theorie von der Ungleichheit der menschlichen Rassen entwickelte; Arthur de Gobineau hat den Kolonialismus theoretisch untermauert. Das jüngste Trauma, das der französische Kolonialismus hervorgebracht hat, war der Algerienkrieg in den 1950er Jahren. Die Arabophobie, die sich damals entwickelte, tritt heute im Gewand der Islamophobie auf.
In Frankreich herrscht die Auffassung vor, der Faschismus sei etwas dem Lande Äußerliches, dabei hat er hier eigene Wurzeln.
Vom Großkapital hofiert
Darüber hinaus teilt Frankreich den Aufschwung rechtspopulistischer bis faschistischer Strömungen mit vielen anderen Ländern – von Lateinamerika bis Europa. Dabei wird der Graben zwischen der konservativen Rechten und der extremen Rechten immer mehr zugeschüttet, weil es mehr und mehr Berührungspunkte zwischen beiden gibt. Und es gibt auch im Neoliberalismus eine autoritäre Strömung, das zeigt sich weltweit. Das hat zu tun mit dem politischen Epochenwechsel, mit dem wir alle konfrontiert sind.
Die autoritäre Wendung des Neoliberalismus wurde bereits in den 1970er Jahren angedacht. Es gibt ein Buch von Grégoire Chamayou, das nennt sich »Die unregierbare Gesellschaft«. Er entwickelt darin die Auffassung, dass die Liberalen den Staat brauchen – einen Staat, der stark ist mit den Schwachen und schwach mit den Starken. Entlang derselben Idee hat Friedrich von Hayek die Diktatur von Pinochet in Chile unterstützt.
Ein Teil des Kapitals setzt auf autoritäre bis totalitäre Strömungen, um mit der neuen Vielfalt seiner Krisen fertig zu werden. Wir sind nicht in den 1930er Jahren, so einfach wiederholt sich Geschichte nicht, aber hauptsächlich deswegen, weil es heute keinen revolutionären Aufschwung der Arbeiterbewegung gibt. Gefahren lauern vor allem von der Unordnung, die das kapitalistische System selbst hervorbringt.
Die neoliberale Globalisierung der letzten 30 bis 40 Jahre hat dem internationalen Kapital zeitweise erlaubt, seine Widersprüche durch Ausweitung des Weltmarkt und Erschließung eines neuen Arbeitskräftepotenzials zu überwinden. Dieses Akkumulationsmodell ist jetzt aber an Grenzen gestoßen, die dem Kapitalismus immanenten Widersprüche treten erneut und massiver und gewaltsamer zutage. In dieser neuen Phase verschärft sich die innenimperialistische Konkurrenz, der Protektionismus kehrt zurück, Ansprüche auf imperiale Vorherrschaft werden offener artikuliert.
Inmitten dieser Unordnung stellt sich jetzt ein Teil des französischen Großkapitals ganz offen hinter die extreme Rechte. Und die politische Rechte läuft der extremen Rechten hinterher, so öffnen sich die Tore…
Der Großkapitalist Bolloré, ein französischer Mischkonzern, macht offen Werbung für die extreme Rechte. Und da er viel Geld hat, hat er eine Zeitung, einen Radiosender und einen TV-Sender gekauft: Europe 1, Journal de Dimanche, CNews. Der Vorsitzende des RN, Jordan Bardella, hat sich ganz offiziell mit dem Präsidenten des Unternehmerverbands Medef getroffen. Man spürt richtig, wie ein Teil des Kapitals auf die extreme Rechte setzt.
Wir müssen die Sache aber als einen politischen Prozess sehen: Hinter dem RN gibt es eine andere Strömung, die von Eric Zemmour, die noch faschistischer ist, wenn man das sagen kann.
In Italien hat es geheißen, wenn Giorgia Meloni die Regierungsgeschäfte führt, wird sie sich anpassen müssen. Das stimmt aber nur zum Teil. Sie kann vielleicht im Amt nicht so extremistisch reden wie in der Opposition. Aber hinter ihr stehen ganz andere politische Kräfte, die heute schon den römischen Gruß zeigen. Und die bekommen Auftrieb, gewinnen an Selbstbewusstsein.
In Frankreich ist es das gleiche. Es gibt Mikrostrukturen bei den sog. Ordnungskräften, die im Fall einer Präsidentschaft Le Pens auch außerhalb des institutionellen Rahmens handeln würden. Man muss den ganzen Prozess sehen, nicht nur die einzelne Situation.
Angst vor Unordnung
Man darf den Aufschwung der extremen Rechten auch nicht nur als Prozess von oben betrachten, er ist auch ein Prozess von unten. Die Stärke der extremen Rechten in Frankreich ist die Schwäche der Arbeiterbewegung und der sozialen und politischen Linken. Die extreme Rechte hat eine soziale Basis, jenseits von Themen wie Unsicherheit, Migration, Rassismus. Nicht nur die Flüchtlinge werden als Schreckgespenst aufgebaut, Zielscheibe sind vor allem Linke und Muslime, aber auch Homosexuelle und Transpersonen.
Ein gemeinsamer Beweggrund für die Attraktivität der extremen Rechten ist in vielen Ländern die Angst vor Unordnung: Es ist, als wäre die ganze Welt im Schleudergang und würde sich immer schneller drehen. Wir sagen: Wir müssen das Waschprogramm ändern. Die extreme Rechte aber sagt: Wir müssen auf Stop drücken. In einer Situation zunehmender Fragmentierung und Individualisierung zieht das. Bei Hannah Arendt kann man nachlesen, warum und wie ein totalitärer Diskurs unten verfängt.
Lange Zeit hat man bei uns geglaubt: die rechte Gefahr, das ist Marine Le Pen im Elysée-Palast. Als würde der Siegeszug der extremen Rechten mit einem Mal vom Himmel fallen. Es ist aber ein politischer Prozess. Als vor 20 Jahren Vater Le Pen, Jean-Marie, in den zweiten Wahlgang kam, waren mehr als eine Million Menschen auf der Straße. Heute ist ein Teil seines Programms bereits in die Tat umgesetzt, noch bevor seine Tochter Präsidentin ist.
Einheitsfront
Wir müssen wieder auf Elemente unserer Tradition zurückgreifen und für die aktuelle Situation fruchtbar machen. Eines davon ist die Arbeitereinheitsfront – diesen Gedanken gilt es, wieder stark zu machen. Die französische Linke erstickt an ihrem Sektierertum. Unsere Strömung aber versteht, dass es jenseits auch tiefer Meinungsverschiedenheiten möglich und notwendig ist, sich zusammenzuschließen. Das hat schon die Kommunistische Internationale verstanden, als die revolutionäre Welle in den frühen 20er Jahren abebbte und es notwendig war, politische Bündnisse einzugehen, selbst mit den Mördern von Rosa Luxemburg.
Gegen den Aufschwung der extremen Rechte hilft nur die breiteste Mobilisierung. Die größte Massenbewegung gegen die extreme Rechte war die Bewegung gegen die Rentenreform vor einem Jahr, als vier bis fünf Millionen Menschen auf der Straße waren. Da waren zum erstenmal wieder gewerkschaftliche und politische Strömungen der Sozialdemokratie dabei, die man lange nicht mehr auf der Straße gesehen hatte. Ein Teil der radikalen Linken wollte sie verprügeln und aus den Demos ausschließen. Dem haben wir uns widersetzt und gesagt: Ihre Beteiligung stärkt uns, wir müssen zusammengehen.
Es geht darum, die Einheit zu suchen, dabei aber politisch unabhängig zu bleiben. Das ist eine Grundlehre aus unserer Geschichte. Politische Unabhängigkeit braucht es in bezug auf strategische Fragen: den Stellenwert der Arbeit, die Arbeitszeitverkürzung, die Eigentumsfrage, die Gemeingüter – für diese Forderungen kämpfen wir, um sie herum versuchen wir, eine politische Hegemonie zu erringen. Mit einer Aktionsstrategie, die uns ermöglicht, Erfolge zu erzielen und unser Selbstvertrauen zu stärken. Es braucht eine breite Einheitsfront im Widerstand gegen die extreme Rechte, aber es braucht auch einen unabhängigen antikapitalistischen Pol darin.
Der Fehler damals war, dass nicht alles getan wurde, um zu gewinnen. Hätten wir das Land ein paar Tage länger lahmgelegt, hätten wir ein anderes Kräfteverhältnis herstellen können. Es gab die breiteste Einheit, aber die linken Kräfte waren zu sehr von rechten Gewerkschaftsverbänden abhängig und konnten innerhalb des Streiks kaum Ansätze der Selbstorganisation entfalten. Auf den Demos waren viele, auf den Streikversammlungen aber wenige. Unsere Antwort auf die Sozialdemokratie ist nicht die Denunziation, sondern die Stärkung der Kräfte der Selbstorganisation.
Es gibt auch Hoffnung. Es gibt Erneuerung bei den Gewerkschaften, es gibt die Frauenbewegung, die Schwarzwesten (eine Bewegung von Migrant:innen), die Bewegung von Antifa-Gruppen. Hoffnung kommt vom Internationalismus: An den Palästinademos nehmen sehr viele junge Menschen teil.
Es wird wieder große Mobilisierungen geben und die Frage wird sein, welche Perspektive sie verfolgen. Die Linke muss sich mit den Bewegungen verbinden. Dann kann die politische Situation jederzeit kippen. Und wenn die Angst das Lager wechselt, geht alles sehr schnell.
Eine »Volksfront« aus sieben Organisationen hat am 10.Juni ein Wahlbündnis für die vorgezogenen Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli geschlossen. La France Insoumise (LFI), PCF, PS, NPA, Génération.s, Les Ecologistes u.v.a. teilen sich 577 Wahlkreise auf, die NPA wird eigene Kandidat:innen stellen. In einer Presseerklärung erklärt sie dazu: »Ein Sieg gegen die extreme Rechte und Macron ist nur möglich bei einer breiter Mobilisierung der Bevölkerung, vor allem in den Betrieben, den einfachen Stadtteilen und unter der Jugend … Mobilisierung ist die einzige Garantie, dass die Volksfront ein Programm verfolgt, das mit vier Jahrzehnten neoliberaler Politik bricht.«
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