Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Aufmacher Klasse 1. September 2025

Politik gegen Menschenwürde

von Matthias Becker

Mit der geplanten neuen Grundsicherung stellt die Bundesregierung das Grundrecht auf ein Existenzminimum in Frage. Das rührt an die Grundfesten einer gleichen und freien Gesellschaft.

Was sagt es über eine Regierung aus, wenn die an ihr beteiligten Parteien ausdrücklich vereinbaren, sich an die Verfassung halten zu wollen? »Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen«, heißt es im Koalitionsvertrag von SPD und CDU/CSU. »Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten.«

Wie beides zusammenpassen soll, wissen die Parteispitzen wohl selbst nicht. Denn die Verfassungsrichter haben mehrmals festgestellt, dass die sogenannten Totalsanktionen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind.

Jedem Menschen in Deutschland kommt ein Existenzminimum zu (nicht nur denen mit deutscher Staatsbürgerschaft). Dies ergibt sich aus der Garantie der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, niedergelegt in Art. 1 und Art. 20 Grundgesetz, mithin aus dem grundrechtlichen Kern der Verfassung – laut Sozialkundeunterricht 9. Klasse (und Art. 79 GG) unantastbar.

Einem Hilfsbedürftigen stehen »die materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind«, formulierten die Karlsruher Richter im Jahr 2010.

Anlass für diesen Urteilsspruch war die (verfassungswidrige, weil willkürliche) Festlegung der SGB-II- und SGB-XII-Regelsätze durch die Hartz-Gesetze. Neun Jahre später befasste sich das Gericht mit den Sanktionen der Jobcenter, wenn erwerbsfähige Menschen Mitwirkungspflichten nicht nachkamen.

Ein völliger Entzug der Leistungen widerspreche der Verfassung, lautete das Urteil. In der Begründung steht der denkwürdige Satz: »Die den Anspruch fundierende Menschenwürde steht allen zu und geht selbst durch vermeintlich ›unwürdiges‹ Verhalten nicht verloren.«

Dass das Bundesverfassungsgericht der Arbeitsmarktpolitik immer wieder grundrechtliche Grenzen gezogen hat, beeindruckt einige Politiker offenbar überhaupt nicht. »Wenn eine generelle Streichung (des Bürgergelds) durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gedeckt ist, sollten wir eben die Verfassung ändern«, kommentierte seinerzeit Jens Spahn.

Nun fordert jede Woche mindestens ein Christdemokrat, angeblichen Arbeitsverweigerern das Geld zu streichen. Damit vertrete er angeblich das Interesse der Allgemeinheit. Kanzler Friedrich Merz will im Namen einer »normalen Arbeitnehmerfamilie« Erwerbslosen weniger Wohnkosten erstatten – als wären Lohnabhängige nicht selbst von Erwerbslosigkeit und dem Verlust ihrer Wohnung bedroht.

Erwerbslose werden stigmatisiert, ausgegrenzt, für hohe Steuern und Sozialbeiträge verantwortlich gemacht. Auch bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern kommt das gut an – AfD und CDU, aber auch die SPD bedienen gleichermaßen das Ressentiment.

Je härter sich der eigene Arbeitsalltag anfühlt, umso weniger Verständnis gibt es für die Hilfsbedürftigen. »Selbst hart und unter schwierigen Bedingungen zu arbeiten, löst bei einigen Zorn und Ungerechtigkeitsgefühle aus«, heißt es in einer aktuellen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) über die Wahlerfolge der AfD. »Sie richten sich dann gegen politische Entscheidungsträger:innen, aber vor allem gegen diejenigen, die vermeintlich bevorzugt werden und angeblich nichts leisten.«

Selbst Erwerbstätige, die nur den Mindestlohn verdienen oder aufstocken müssen, grenzen sich ab von jenen, die angeblich nicht arbeiten wollen. Sozialpsychologisch nachvollziehbar: Gerade wer Sozialleistungen erhält, steht unter dem Druck, seine Hilfsbedürftigkeit herauszustellen, seine Bemühungen und prinzipielle Arbeitsbereitschaft. Dagegen hilft nur Klassenbewusstsein – und das ist gegenwärtig rar gesät.

Das rächt sich, denn wie das Existenzminimum ausgelegt und ausgestaltet wird, betrifft nicht nur diejenigen, die selbst auf Hilfe angewiesen sind. Alle Lohnabhängigen müssen ein Interesse daran haben, dass alle im Fall von Erwerbslosigkeit eine würdige Existenz führen dürfen. Je elender das staatlich garantierte Existenzminimum, umso härter wird die Konkurrenz um Arbeitsstellen ausgetragen, umso niedrigere Löhne werden bezahlt.

Nach unten scheint es kein Halten zu geben. Etwa die sogenannten Bezahlkarten, mit denen Asylbewerber statt mit Bargeld ausgestattet werden: Der ehemalige CDU-Abgeordnete Maximilian Mörseburg hat gefordert, »Totalverweigerer« unter den Bürgergeldbeziehenden damit zu versorgen; die Stadt Hamburg prüft gegenwärtig, für welche Sozialleistungen das in Frage kommt.

Der Zwang zur Lohnarbeit ist verfassungsgemäß

Laut Grundgesetz ist das Existenzminimum keine »soziale Wohltat«, kein Geschenk, sondern ein Grundrecht, das der Staat umsetzen muss. Menschenwürde kommt allen zu, nicht nur den vermeintlich Anständigen, Fleißigen, unverschuldet Hilfsbedürftigen und Dankbaren.

Das Existenzminimum umfasst (nach der geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) nicht nur die notwendigen Mittel, um nicht zu verhungern und um die eigene »physische Existenz« zu erhalten, sondern auch um »die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben« sicherzustellen.

Diese Möglichkeit ist der Kern einer demokratischen Gesellschaft der Freien und Gleichen.
Bei dieser Gesellschaft handelt es sich allerdings um eine kapitalistische. Sie kann nicht bestehen ohne die Eigentumslosigkeit der Bevölkerungsmehrheit, die ihre Arbeitskraft verkaufen muss.

Teilhabe ohne zu arbeiten muss deshalb eine Ausnahme bleiben, beschränkt auf diejenigen, die zu krank, zu jung oder zu alt sind. Auch das steht im Gesetz: »Wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann«, hat keinen Anspruch.

Die angekündigte neue Grundsicherung wird Erwerbslosen zahlreiche Verschlechterungen bringen, aber auch den Arbeitsdruck insgesamt erhöhen. Absehbar wird der sogenannte Vermittlungsvorrang zurückkehren, das bedeutet: Vermittlung in irgendwelche, selten langfristige und attraktive Jobs.

Gegenwärtig können die Jobcenter das Bürgergeld um höchstens 30 Prozent kürzen. Die Bundesregierung scheint entschlossen zu sein, die Leistungskürzungen wieder anzuheben – und das Bundesverfassungsgericht wird sich abermals mit dem Existenzminimum beschäftigen.

Wird Karlsruhe dann die bestehende Regelung wieder kassieren? Darauf sollten wir uns nicht verlassen. Das Gericht hat letztes Jahr selbst ein Fragezeichen hinter den »unverfügbaren Anspruch« gesetzt.

Verhandelt wurde der Fall von Studierenden, denen das Bafög nicht zum Leben reicht. Sie haben keinen Anspruch auf existenzsichernde staatliche Leistungen. Bemerkenswert ist die Begründung: Wegen der Schuldenbremse darf sich der Staat bekanntlich kein zusätzliches Geld leihen.

Mehr Geld eintreiben geht aber nach Ansicht der Richter ebenfalls schlecht, denn der Gesetzgeber müsse »die Bereitschaft der Steuer- und Beitragszahler zur Solidarität mit sozial Benachteiligten erhalten« – Umverteilung verboten, heißt: Grundrechte nach Kassenlage.

Recht und Gesetz sind »Produkt der materiellen Produktionsverhältnisse«, wie Marx sich ausdrückte, eine Folge politischer Kompromisse im Klassenkampf. Das gilt auch für das Grundrecht auf Teilhabe.
Der soziale Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, für den es stand, wurde längst aufgekündigt, nur der Wortlaut der Paragraphen ist weiterhin unverändert. Nun soll diese Errungenschaft abgeschafft werden.

Die Scharfmacher in CDU und CSU, voller Angst vor weiteren Wahlerfolgen der AfD, werden sich mit weniger nicht zufrieden geben, und die SPD wird es nicht verhindern. Die Gewerkschaften sollten sich darüber keine Illusion machen – und keine verbreiten.

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