Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online 24. Januar 2024

Freedom and Democracy 2024

von Thies Gleiss

„Freiheit:
Wir wollen die demokratische Willensbildung
wiederbeleben, demokratische Mitbestimmung
ausweiten und persönliche Freiheit
schützen. Rechtsextreme, rassistische und
gewaltbereite Ideologien jeder Art lehnen
wir ab. Cancel Culture, Konformitätsdruck
und die zunehmende Verengung des
Meinungsspektrums sind unvereinbar mit
den Grundsätzen einer freien Gesellschaft.
Das Gleiche gilt für den neuen politischen
Autoritarismus, der sich anmaßt, Menschen zu
erziehen und ihren Lebensstil oder ihre Sprache
zu reglementieren. Wir verurteilen Versuche zur
umfassenden Überwachung und Manipulation
der Menschen durch Konzerne, Geheimdienste
und Regierungen.“

Das ist ungekürzt der Programmteil zu Demokratie und Freiheit beim neuesten Stern am deutschen Parteienhimmel, der Partei Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Über die anderen Programmpunkte wurde sich schon an anderer Stelle genügend geärgert, dazu deshalb nur in Kürze:

Die Berufung auf eine „wirtschaftliche Vernunft“, die Grundlage der Politik werden soll, führt in einer Klassengesellschaft, deren Hauptinteressengruppen sehr unterschiedliche Vorstellungen haben, was „Vernunft“ ist, nicht sehr weit. Genau genommen sind es sich antagonistisch (unauflöslich) gegenüberstehende Interessen, die dazu führen, dass einzelne Akteure im Kapitalismus sehr planvoll, „vernünftig“, sogar demokratisch ihre Interessen und Politik verfolgen, das Gesamtergebnis „kapitalistische Gesellschaft“ aber hochgradig irrational, voller Fehlentscheidungen für die Gesamtheit und voller Verschwendung von Ressourcen ist.

Der tiefe Glaube des BSW-Programms, dass es einen vernünftigen, sozial gerechten und ohne Gier und Misswirtschaft lebenden Kapitalismus geben kann, ist deshalb bestenfalls naiv, eher grob irreführend. Die Kritik an der Rüstungs- und Kriegspolitik der Bundesregierung und der EU gehört sicherlich zum Besten beim BSW, insbesondere die konkreten Forderungen nach Waffenstillstand, Verhandlungen und Rüstungsbeschränkungen. Aber auch hier gibt es als politische Erklärung nur die Feststellung, die Kriegspolitik wäre unvernünftig und schade dem deutschen Wirtschaftsstandort.

Sind das wirklich die Bezugspunkte für eine fortschrittliche und demokratische – ich sage ausdrücklich nicht links, weil das BSW ja nicht mehr „links“ sein möchte – Politikalternative? Beim BSW wehen an dieser Stelle in der Online-Präsentation des Programms nicht zufällig die Deutschlandfahnen vor dem Reichstagsgebäude von Berlin. Und jetzt also noch die Rettung der Demokratie. Die Demokratie wäre durch Cancel Culture, Konformitätsdruck und Verengung des Meinungsspektrums gefährdet. Man könne nicht mehr frei sagen, was man sagen will – so heißt es nicht nur beim BSW, sondern auch – fast wie abgesprochen – in den diversen Austrittserklärungen aus der LINKEN von Freundinnen und Freunden des BSW.

Cancel Culture ist häufig tatsächlich ärgerlich und eine kuriose Umdrehung von Ursache und Wirkung. Gesellschaftlich zerstörerische Prozesse und Formen der Klassenherrschaft werden zu individuellen Charaktereigenschaften reduziert und verharmlost. Die freiwillige Selbstzensur in den Redaktionen der wichtigsten Medien, insbesondere zu den Themen Ukraine- und Nahostkrieg, und die Unterordnung unter eine deutsche Staatsräson, gehören zu den traurigsten Ergebnissen der Klassengesellschaft in Deutschland 2024. Aber sind das wirklich die entscheidenden Zerstörungen an „der Demokratie“?

Können Leute, wie die vom BSW (bezeichnenderweise sagen die von der „Alternative für Deutschland“ wortgleich dasselbe) nicht mehr sagen, was sie wollen? Es ist doch eher so, dass dieses Land an einer unglaublichen Geschwätzigkeit leidet. Im Rahmen der deutschen Staatsräson und wenn er oder sie Biodeutsche/r ist, darf jede und jeder überall sagen, was er oder sie meint. Wer es nicht in eine Talkshow schafft, der produziert wenigstens seinen eigenen Podcast. Und die ganz Unterbemittelten toben sich in den digitalen Kommentarformaten aus. Freilich: Für Migrant:innen und Kritiker:innen der deutschen Leitkultur gilt das nicht bzw. nur eingeschränkt.

Was das BSW betrifft, müsste doch zunächst festgehalten werden, dass es noch niemals in der Geschichte eine derart massiv von den großen Medien erwartete, vorbereitete und ausgewalzte Parteigründung gab. Diese fremde oder externe Geburtshilfe wird für das BSW schon bald zu einem großen Problem werden. Denn es ist und bleibt ein Kunstprodukt.

Das Redenkönnen ist nicht das Problem. Manchmal, vor allem wenn das nötige Kleingeld fehlt, ist es das Hören, vor allem bei der BSW-Chefcommandantin Dr. Wagenknecht. Hier ihre Eintrittsgelder für Veranstaltungen im Februar: Düsseldorf 150 Euro, Limbach-Oberfrohna 16 Euro, Frankfurt/Oder 30 Euro, Bitterfeld-Wolfen 22 Euro. Es war schon immer etwas teurer, einer vernunftgeleiteten Partei zu lauschen.

Das alles blendet die wirkliche Zerstörung der Demokratie im Zuge der vielfältigen Krisen aus, in denen der aktuelle Kapitalismus steckt. Autoritäre Formierungen der Staaten und der Regierungspolitik gibt es nicht nur in den einschlägig verdächtigen Ländern Russland, China, Türkei, Ungarn, USA oder in den diversen postkolonialen, mehr oder weniger „failed states“ in Afrika und Asien. Auch in der Europäischen Union und in Deutschland wird die Demokratie systematisch zerstört – nicht so sehr die individuelle demokratische Bewegungsfreiheit, sondern die kollektive:

– Mitbestimmungsrechte und -gremien in den Betrieben werden immer mehr ausgetrickst, mit Mobbing und Unionbusting überzogen, das Streikrecht wird weiter eingeschränkt;
– soziale Oppositionsbewegungen werden kriminalisiert und durch polizeiliche Willkür schikaniert;
– neue Versammlungs- und Polizeigesetze werden in den Bundesländern erlassen – egal, wer dort die Regierung stellt, neue Bewaffnungsrichtlinien der Polizei in Kraft gesetzt;
– die gigantischen Überwachungskraken in den privaten Internetkonzernen werden nicht etwa gestoppt und entmachtet, sondern ihr Wirken wird an allen Ecken und Enden noch erleichtert, vor dem Angriff durch neue KI-Technologien wird heute schon kapituliert.

Gleichzeitig wachsen die Begehrlichkeiten der Regierung und anderer Exekutivbehörden, der privaten Überwachung eine stetig verbesserte staatliche Überwachung überzustülpen. Die formale parlamentarische Demokratie – die selbst diverse strukturelle Mängel hat – wird mit alledem zunehmend entmachtet, die Gesetzgebungsprozesse aus dem Parlament heraus verlagert, die Macht von „Expert:innen“ und Lobbyverbänden gestärkt.

Zu alldem schweigt das neugegründete BSW. Ein Schweigen, das allerdings viel sagt über die Zukunft dieses Ladens und wo er gesellschaftspolitisch einzuordnen ist. Das Ärgerlichste kommt zum Schluss
Der Entstehungsprozess des BSW ist selber ein ausgemachtes Beispiel für Fehlen jeglicher Demokratie. Vermutlich würde selbst eine der modernen Werbeagenturen einen Proteststurm bei ihren eignen Leuten ernten, wenn eine so militärisch von oben, konspirativ und undemokratisch geplante und geführte Kampagne für ein neues Produkt durchgeboxt würde wie die Gründung des BSW. Aber die Meute schweigt und schwenkt still auf den neu verordneten Kurs ein.

Dass es nicht nur der Gründungsprozess ist, sondern so weitergehen soll, zeigt ein Blick auf die Statuten des BSW. Dieses Parteiprojekt fürchtet offenkundig weniger die demokratischen Beschränkungen des Kapitalismus und die Angriffe der politischen Gegner:innen als die eigenen und potentiell eigenen Mitglieder. So sad.

1. Januar 2024

›Nah bei den Leuten und gemeinsam was anpacken‹

Ines Schwerdtner auf Tour durch die Ostverbände der LINKEN
Interview mit Ines Schwerdtner

Ines Schwerdtner ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin. Sie war bis zum Sommer 2023 Chefredakteurin der deutschsprachigen Ausgabe des Magazins Jacobin. Das Interview führte Angela Klein

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1. Dezember 2023

Für die Europäische Union und auch dagegen

Der Europaparteitag der Partei Die LINKE
von Thies Gleiss

Vom 17. bis 19.November fanden in Augsburg der Parteitag der Partei Die LINKE zur Verabschiedung eines Programms zur Europawahl 2024 und die anschließende Vertreter:innenversammlung zur Wahl einer Kandidat:innenliste statt.

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1. November 2023

Ein großer Streitpunkt wurde endlich geklärt

Die LINKE nach den Wahlen in Hessen und Bayern
von Violetta Bock

Die Landtagswahlen in Hessen und Bayern waren Denkzettelwahlen und verfestigten die Rechtsverschiebung.

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1. November 2023

Die Linke muss zur Klassenpolitik zurückkehren

Eine innerparteiliche Auseinandersetzung
Andrej Hunko im Gespräch mit Matthias Becker

Andrej Hunko (Aachen) sitzt für Die LINKE im Bundestag. Er gehört dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) an.

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1. November 2023

Die Linke braucht Angriffslust …

... keine braven Schwiegersöhne
Ingar Solty im Gespräch mit Gerhard Klas

Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

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1. Juni 2023

Wahlergebnisse in Bremen

Es ist nicht alles Gold, was glänzt
von Thies Gleiss

Der Wahlerfolg der LINKEN in Bremen hat viele innerhalb und außerhalb der Partei zu einer falschen Euphorie veranlasst. Folgende Ergebnisse werden dabei übersehen:

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1. April 2023

Mitmischen, massiv und mit eigenen Positionen

Stellungnahme des Bundessprecher:innenrates der Antikapitalistischen Linken (AKL) in der LINKEN zum »Manifest für den Frieden«
dokumentiert

Mehr als eine halbe Million Menschen* haben via Internet-Unterschrift das »Manifest für den Frieden« unterschrieben, das von Alice Schwarzer initiiert und dann von Sahra Wagenknecht für eine gemeinsame Initiative aufgegriffen wurde.

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1. April 2023

Berliner Wiederholungswahl

Für die Berliner LINKE wäre viel mehr drin gewesen
von Lucy Redler und Hermann Nehls

Der Ausgang der Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen ist in vielerlei Hinsicht beachtenswert.

Zunächst: Die Berliner LINKE ist mit einem blauen Auge davongekommen. Sie erreichte 12,2 Prozent der abgegebenen Stimmen.

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1. April 2023

OB-Wahl in Kassel

9,2 Prozent für linke Kandidatin
dokumentiert

Am 12.3. fanden in Kassel die Oberbürgermeisterwahlen statt. Für Die LINKE trat Violetta Bock an. In SoZ 3/23 hatte sie im Gespräch mit der SoZ beschrieben, wie sie den Wahlkampf führte. Mit 9,2 holte sie über 5400 Stimmen und damit deutlich mehr als derzeitige Sonntagsumfragen zur LINKEN bundesweit hergeben. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 41 Prozent etwas höher als bei der letzten OB-Wahl in Kassel.

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1. März 2023

›Erfolg ist, wenn wir danach besser organisiert sind‹

Die SoZ-Redakteurin Violetta Bock ist Kandidatin der LINKEN zur OB-Wahl in Kassel
Gespräch mit Violetta Bock

Violetta Bock ist 35 Jahre alt, seit 2016 im Stadtparlament, seit 2021 Co-Fraktionsvorsitzende
(www.violetta-bock.de). Das Gespräch mit ihre führte Angela Klein.

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1. März 2023

Kater und Aufbruchstimmung

Die LINKE nach der Wiederwahl in Berlin
von Hermann Nehls

Bei aller Erleichterung, dass die Berliner LINKE mit einem blauen Auge davongekommen ist, dürfen die eklatanten Schwächen, die das Wahlergebnis zeigt, nicht übersehen werden. 70000 Stimmen hat die Berliner LINKE im Vergleich zur Wahl 2021 verloren, das ergab ein Minus von 1,6 Prozentpunkten. Die Ost-Bezirke sind nicht mehr das Kraftzentrum, das die Spitzenwerte sichert.

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