Netanyahus neueste Strategie zur Vermeidung eines Waffenstillstands
von Qassam Muadd
Nicht die Hamas blockiert einen Waffenstillstand in Gaza, sondern Israel. Netanjahu hat die Verhandlungen systematisch auf Schritt und Tritt sabotiert, und seine aktuellen Forderungen nach militärischer Kontrolle über den Gazastreifen stellen sicher, dass sie scheitern werden. Seit Anfang der Woche sind zwei Meldungen über die jüngsten Waffenstillstandsverhandlungen aufgetaucht, die einander zu widersprechen scheinen.
weiterlesenEin Marionettenregime für Gaza
Israel prüft Vorschlag zur Errichtung eines "moderaten muslimischen" Marionettenregimes in Gaza
von Yaniv Cogan
Der Plan, den israelische Beamte als "brillant" bezeichnet haben, sieht vor, die Palästinenser umzuerziehen, das Hilfswerk UNRWA zu zerstören und die Flüchtlingslager niederzureißen.
weiterlesenIGH bestätigt Rückkehrrecht der Palästinenser:innen
von David Kattenburg
In einem historischen Urteil erklärt der IGH die israelische Besatzung des Westjordanlands und Ostjerusalems für rechtswidrig, fordert die Räumung der Siedlungen und die Entschädigung der Palästinenser, die auf ihr Land zurückkehren dürfen.
In einem vernichtenden Gutachten, das die juristischen Daumenschrauben für Israel anziehen und seine westlichen Verbündeten in große Schwierigkeiten bringen wird, erklärte der Internationale Gerichtshof heute, dass Israels 57jährige Besetzung und Besiedlung des Westjordanlands und Ostjerusalems rechtswidrig sind, dass beides beendet werden muss, dass die Siedlungen geräumt werden müssen und dass die Palästinenser - denen ihr unveräußerliches Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird - für ihre Verluste entschädigt werden und in ihr Land zurückkehren dürfen.
„Wenn die Menschen nicht mehr an eine Zukunft für ihren Staat glauben, kann sich die politische Realität sehr schnell ändern“
Shir Hever erläutert, wie die Boykott-Bewegung gegen Israel wirkt
Der nachstehende Beitrag fußt auf einem Interview, das der Koordinator der Militärkampagne von BDS, Shir Hever, dem Online-Portal Bad Faith Ende Juni gegeben hat, https://www.youtube.com/watch?v=YbyW3nFE-GA, von der Redaktion leicht gekürzt und bearbeitet
Die Bewegung Boykott, Divestment, Sanktionen (BDS) wurde 2005 von Organisationen der palästinensischen Gesellschaft mit dem Ziel ins Leben gerufen, Druck auszuüben, damit Völkerrecht und Menschenrechte zur Anwendung kommen. Es geht nicht nur darum, unsere Empörung zum Ausdruck zu bringen, sondern die Realität zu verändern, indem wir diesen Druck ausüben.
Die Idee ist, eine ganze Reihe von Kampagnen verschiedenster Art durchzuführen – akademische Boykotte, kulturelle Boykotte, Verbraucherboykotte… Sie alle werden von Basisgruppen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivist:innen aus verschiedenen Kreisen organisiert – von Studierendengruppen, Gewerkschaften, Kirchen… Sie haben klare Forderungen und klare Taktiken um zu erreichen, dass bestimmte Institutionen boykottiert, Investitionen zurückgezogen (desinvestiert), Sanktionen verhängt werden; das sind die Worte, die das Akronym BDS bilden.
Eine dieser Kampagnen ist die für ein Militärembargo gegen Israel. Das ist meine kleine Ecke, die ich koordiniere. Sie wird von Menschen geführt, die sicherstellen wollen, dass ihr Land, ihr Staat, ihre Universität nicht an der Bewaffnung Israels und seinem Völkermord an den Palästinensern beteiligt ist; sie versuchen, Waffenlieferungen zu stoppen und zu verhindern, dass Rüstungsunternehmen am Völkermord und an Apartheid verdienen. Diese Kampagne hat in den letzten Monaten einige dramatische Teilerfolge erzielt, aber ich denke, einen wirklichen Erfolg haben wir erst, wenn das Töten ein Ende nimmt.
Welche Teilerfolge sind das?
Einige Staaten haben bereits beschlossen, das Militärembargo zu respektieren und durchzusetzen. Natürlich sind die Staaten des globalen Südens die ersten, die sich gegen Apartheid, Rassismus und Imperialismus erheben – Kolumbien, Brasilien in gewissem Maße, Chile, Südafrika natürlich. Aber wir haben auch Aktivist:innen in Malaysia, die versuchen, Schiffe zu stoppen, die Waffen nach Israel transportieren, wir haben Aktivist:innen im Mittelmeerraum, die das tun, und auch Staaten im globalen Norden haben angefangen, aufgrund des öffentlichen Drucks keine Waffen an Israel mehr zu verkaufen, das haben wir von Italien und von Kanada gehört. Auch Spanien hat ein Gesetz für ein Waffenembargo erlassen.
Die USA allerdings nutzen ein Schlupfloch und schicken Frachtflugzeuge voller Waffen nach Israel; dabei landen sie illegal in Irland, indem sie behaupten: Das ist eine Notlandung, das Flugzeug ist voll mit Bomben und wir wollen nicht, dass es abstürzt, bitte macht für uns eine Ausnahme, dass wir auf eurem Flughafen landen können. Jetzt sagen die irischen Gesetzgeber:innen, wenn es sich um einen Notfall handelt und wir das Flugzeug landen lassen, beschlagnahmen wir die Waffen.
Itochu in Japan ist eines der größten Unternehmen der Welt, sein Umsatz so groß wie das Bruttoinlandsprodukt eines kleinen Landes. Der Konzern hat beschlossen, die Zusammenarbeit mit israelischen Rüstungsunternehmen bei der Entwicklung von Drohnen einzustellen, weil es sich nicht an diesen Verbrechen beteiligen will. Das sind die ersten Erfolge, die wir in verschiedenen Ländern sehen.
Die große Mehrheit der Waffen kommt aus den USA, aber sie müssen andere Länder passieren, um nach Israel zu gelangen. Außerdem gibt es eine Kategorie, die als Dual-Use-Güter bezeichnet wird: Güter mit doppeltem Verwendungszweck werden selbst nicht als Waffen definiert, können aber als Waffen verwendet werden, z.B. Sprengstoffe, die für zivile wie für militärische Zwecke taugen. Indien verkauft eine Menge Sprengstoff an Israel, aber damit dieser von Indien nach Israel gelangt, muss er auf einem Schiff den gesamten afrikanischen Kontinent umrunden, denn derzeit können Schiffe nicht das Rote Meer und den Suez-Kanal passieren. Wenn es nun Beweise oder Unterlagen gibt, dass das Schiff Waffen oder Waffenteile aus Indien oder anderen Ländern nach Israel transportiert, muss es durchsucht werden. Die USA benutzen Marineschiffe, um Waffen zu transportieren, was es für uns schwieriger macht, die Schiffe festzuhalten und zu durchsuchen. Aber wir haben Hafenarbeiter in Zypern, Griechenland, Portugal und Spanien, die darüber besorgt sind und sagen: Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun um zu verhindern, dass diese Schiffe vorbeifahren und Waffen bringen, weil sie am Ende Zivilisten und Kinder töten.
Meine Aufgabe ist es, all diese Menschen zu koordinieren und mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Einige von ihnen bitten darum, als anonyme Informanten aufzutreten, da sie sich schützen wollen. Aber es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen den Staaten des globalen Nordens und denen des globalen Südens. In vielen Ländern, die keine Demokratien sind, in denen es nicht viel Meinungs- und Arbeitsfreiheit, Streikrecht usw. gibt, können die Hafenarbeiter nicht wirklich etwas unternehmen. Wir werden niemals von ihnen verlangen, dass sie ihre Freiheit und ihren Lebensunterhalt für die Sache opfern. Jeder und jede muss genau wissen, was er/sie für Palästina und für die Gerechtigkeit in Palästina zu tun bereit ist, und er/sie muss es im voraus wissen, damit er/sie seine/ihre Zusage zu helfen nicht am Ende bereut.
In Europa ist es anders, hier gibt es starke Gewerkschaften und mehr etablierte Rechte. Hier sagen die Arbeiter:innen, dass es nach EU-Recht illegal ist, Waffen an Staaten zu liefern, die schwere Kriegsverbrechen und Völkermord begehen, selbst der Verdacht auf Völkermord reicht aus. Der Internationale Gerichtshof hat ja noch nicht abschließend geurteilt, aber er sagt, es ist plausibel, dass ein Völkermord begangen wird. Das reicht aus, um die Bedingung zu erfüllen, dass Waffenlieferungen rechtlich gestoppt werden können. Diese Aktivisten:innen können sagen: Wir kommen nicht ins Gefängnis, wir werden unseren Job behalten. Wenn das Unternehmen uns auffordert, etwas Illegales zu tun, dann trägt das Unternehmen das Risiko, nicht wir. Wir haben also vielfach Menschen aus dem globalen Süden, die nicht selber eingreifen können, aber sie können uns Informationen geben, Hinweise auf bestimmte Schiffe, die evtl. Waffen nach Israel transportieren, und dann treten wir an die Arbeiter:innen im globalen Norden heran und bitten sie, das Schiff zu durchsuchen.
In den USA ist ein sehr ausgeprägter Aktivismus jüdischer Gruppen zu beobachten. Die Jewish Voice for Peace ist zur führenden Organisation für BDS und das Militärembargo geworden. Und als Jude kann ich wirklich verstehen, woher das kommt. Ich kann verstehen, warum diese Leute sich bei Sit-ins in die vorderste Reihe setzen und warten, bis sie verhaftet werden. Hunderte von jüdischen Aktivist:innen wurden verhaftet, man könnte meinen, die Polizei würde absichtlich nur Jüdinnen und Juden verhaften. Der Grund aber, warum sie sich in die erste Reihe setzen ist, dass sie sich später in den Spiegel oder in die Augen ihrer Kinder schauen wollen und sagen können, wo sie waren. Das ist sehr bewegend, und ich weiß nicht genau, was Biden sich dabei gedacht hat, einen Völkermord bedingungslos zu unterstützen, und wie er denken konnte, das würde auf eine Art und Weise enden, die für ihn politisch vorteilhaft wäre.
Es wurden bereits rechtliche Schritte gegen ihn eingeleitet. Das Center for Constitutional Rights (CCR) hat gegen Biden Klage wegen Völkermords eingereicht und das Gericht hat gesagt, es hält die Klage für gerechtfertigt und ist der Meinung, dass hier tatsächlich Völkermord vorliegt, aber es ist nicht zuständig, das CCR muss den richtigen Rechtsweg beschreiten.
Ich bin Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Deutschland, der Schwesterorganisation von Jewish Voice for Peace. Die Jüdinnen und Juden in den USA werden alles in ihrer Macht Stehende tun, um einen Waffenstillstand zu erreichen und den Völkermord und das System der Unterdrückung in Palästina zu stoppen. Die Palästinenser:innen brauchen ihnen dafür nicht dankbar zu sein, wir tun es nicht für sie, sondern für uns selbst.
Wenn Israelis nun sehen, was in den USA passiert, und sie sehen diesen Streit zwischen Netanjahu und Biden wegen der Waffenlieferungen, dann sagen sie, das ist wirklich das Ende. Netanyahu macht es Trump vielleicht leichter, die Wahlen zu gewinnen, aber es wäre das Ende für die Beziehungen zwischen den USA und Israel. Einer der größten Milliardäre Israels hat gesagt: Es gibt viel Ähnlichkeit mit dem, was in Afghanistan passiert ist. Wer will schon in Afghanistan investieren? Die USA haben so viel Geld ausgegeben und so viel Blut vergossen, um das Karsai-Regime als Stellvertreter des US-Imperialismus in der Region zu halten, bis Biden sagte, ok, ich habe genug. Am nächsten Tag waren sie alle weg und die Taliban haben die Macht übernommen.
Israel geht langsam die Puste aus
Es gibt einen Unterschied zwischen der Art der militärischen Finanzierung, die die USA Israel jahrzehntelang haben zukommen lassen, insbesondere seit dem Krieg von 1973, und der militärischen Finanzierung, die wir jetzt erleben. Der derzeitige israelische Finanzminister, Bezalel Smotrich, einer der rabiatesten Siedler, der als Faschist und Homophober bezeichnet wird, wird von seinen eigenen Mitarbeitern gehasst. Sie haben ein Dokument auf Hebräisch verfasst – ich konnte es nicht glauben, als ich es gelesen habe – und es online veröffentlicht, bevor der Minister es lesen konnte. Darin werden die Lücken aufgelistet zwischen dem Staatshaushalt, wie er gemäß den Haushaltsbüchern veranschlagt wurde, und dem, was tatsächlich ausgegeben wurde. Normalerweise ist das ein einseitiges Dokument, der Minister ist verpflichtet, es zu veröffentlichen, dieses Mal haben sie ein 400 Seiten dickes Buch veröffentlicht, in dem sie im Grunde genommen den Waffendeal durchgehen und sagen: Schaut, das ist eine Waffenlieferung aus den USA, wir haben dafür das und das bezahlt, sie war nicht umsonst. Das ist der Unterschied, zu früher, es ist nicht mehr umsonst.
Auch das große Paket, an dem Biden so hart gearbeitet hat, in dem 14 Milliarden Dollar für Israel vorgesehen sind: Diese 14 Milliarden sind nicht wirklich für Israel, es sind Exportgenehmigungen für Waffen, die Israel bezahlen muss, und Israel geht das Geld aus. Die Rüstungsindustrie in den USA, der militärisch-industrielle Komplex, der eine starke Lobby hat, viel größer als die israelische Lobby, will natürlich, dass Israel weiterhin all diese Waffen kauft, weil es so teuer ist und sie so viele Milliarden dafür bekommen. Aber wenn Israel nicht mehr in der Lage ist zu zahlen, stellt sich die Frage, wer dafür bezahlen wird. Wenn Trump Präsident ist, wird er nicht dafür bezahlen.
Warum bin ich zuversichtlich, dass Trump Israel nicht finanzieren wird?
Weil er zwei Dinge bereits getan hat, als er Präsident war, die sehr aufschlussreich sind.
Obama hatte am Ende seiner Amtszeit eine Absichtserklärung mit Israel unterzeichnet, um die Militärfinanzierung zu ändern. Darüber wurde viel berichtet und es wurde so getan, als hätte Obama die Militärfinanzierung für Israel auf 3,8 Milliarden Dollar pro Jahr erhöht, aber in Wirklichkeit hat er sie verringert. Nominell hat er sie zwar erhöht, aber er hat sie nicht mehr an die Inflation angepasst. Über einen Zeitraum von zehn Jahren ist das weniger Geld.
Er hat aber auch ein Privileg abgeschafft, das israelische Rüstungsunternehmen hatten, nämlich dass sie einen Teil der Finanzierung nach eigenem Gutdünken ausgeben konnten – kein anderes Land hat dieses Privileg. 20 Prozent der militärischen Unterstützung konnten zuvor an israelische Rüstungsunternehmen mit Tochtergesellschaften in den USA gezahlt werden, die dafür Waffen nach Israel schickten; das hat Obama eingestellt. Israel war das einzige Land in der Welt, das diese Art von Militärfinanzierung erhalten hat.
Als Trump gefragt wurde, ob er die Absichtserklärung rückgängig machen wolle, sagte er: "Nein, ich bin damit zufrieden." So sind die 3,8 Milliarden Dollar also nicht für Israel, die israelische Regierung sieht nicht einen Cent davon, sie sind nur für US-Rüstungsfirmen, die vom US-Steuerzahler dafür bezahlt werden, dass sie Waffen nach Israel schicken.
Zweitens hat Trump die US-Botschaft nach Jerusalem verlegt, das war ein aggressiver und völkerrechtswidriger Akt. Am Tag der Verlegung der Botschaft töteten israelische Soldaten 56 palästinensische Zivilisten in Gaza, die dort unbewaffnet protestierten. Trump entschied sich erst für die Verlegung der Botschaft, als Sheldon Adelson, der amerikanisch-israelische Medienmogul ihm sagte, dass er das bezahlen würde. Das Gebäude und alle Kosten für den Umzug wurden also von einem privaten Milliardär und nicht von der US-Regierung getragen.
Diese beiden Dinge sagen mir, dass Trump Israel aus rassistischen Gründen sehr gerne unterstützt. Es gibt von ihm dieses berühmte Zitat, in dem er sagt, wir müssen von Israel lernen, wie man in den Innenstädten vorgeht, rassistische Profilerstellung und Polizeibrutalität, er sieht viel Ähnlichkeit zwischen der Art von Regime in Israel und der Art von Regime, das er gerne in den USA hätte. Aber ob er bereit ist, dafür Geld in die Hand zu nehmen, da bin ich mir nicht so sicher.
Ein Staat am Rande des Bankrotts
Israel geht das Geld aus. Seine Kreditwürdigkeit ist zusammengebrochen, seine Staatsanleihen werden schlechter bewertet als die Mexikos. Das bedeutet nicht, dass die Wirtschaft zusammengebrochen ist, es gibt Länder, die ärmer sind als Mexiko, aber immer noch stabil. Wenn ein Staat aber als eine der stabileren Volkswirtschaften gilt, ein Ansehen als Start-up-Nation hat und sich dennoch innerhalb weniger Monate am Rand des Zusammenbruchs befindet, dann laufen die Investoren davon. Die lokalen Treuhand- und Pensionsfonds haben bereits den Großteil ihrer Investitionen ins Ausland verlagert, weil sie an ihre eigene Wirtschaft nicht glauben. Warum sollten also internationale Investoren an die israelische Wirtschaft glauben? Sie ziehen ihr Geld ab, die Investitionen brechen ein.
Die israelische Währung wird von der israelischen Zentralbank gestützt, sie verkauft jeden Tag Dollarreserven, um den Schekel zu stabilisieren. Aber wenn die Reserven aufgebraucht sind, ist der Schekel weniger wert als das Papier, auf dem er draufsteht.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass stabile Länder zusammenbrechen. Ostdeutschland galt als ein sehr starker und stabiler Staat, bis es innerhalb weniger Tage zusammenbrach. Denn die Menschen glaubten nicht mehr an eine Zukunft für diesen Staat. Und das ist der springende Punkt. Wenn die Menschen nicht mehr an eine Zukunft für ihr politisches Projekt glauben, dann kann sich die politische Realität sehr schnell ändern.
Zukunftsaussichten
Südafrika ist das beste Beispiel für das, was in Palästina passieren kann, denn in Palästina herrscht heute Apartheid, und auch in Südafrika herrschte Apartheid. Die weiße Bevölkerung dort verfügte über mehr Waffen, mehr Geld, mehr Unterdrückungstechniken, internationale Komplizenschaft, und dennoch kam der Moment, wo sie sagte: So können wir nicht weitermachen, wir müssen allgemeine Wahlen abhalten. Innerhalb eines Tages änderte sich nicht nur das gesamte politische System, sondern auch die Mentalität der Menschen. Die Menschen änderten ihre Sicht auf die Realität. Mehr als 90 Prozent der Weißen unterstützten die Apartheid bis zur letzten Minute, und als sie dann zusammenbrach, sagten sie, wir waren immer dagegen. Ich denke, dass wir genau das auch von den Israelis hören werden, wo jetzt eine große Mehrheit die Regierung noch unterstützt und den Völkermord befürwortet.
Vor kurzem wurde eine Umfrage nur unter Juden durchgeführt. 4 Prozent von ihnen sagten, dass Israel im Gazastreifen zu weit gegangen ist, das bedeutet, dass 96 Prozent nicht denken, dass Israel zu weit gegangen ist. Ich denke, wenn sich die politische Situation ändert, wird man diese 96 Prozent nicht mehr finden können. Kapitalistische Wirtschaften basieren auf einem Zukunftsglauben, man kann nicht investieren, wenn man nicht glaubt, dass die Investition in der Zukunft einen Gewinn abwirft.
Die Tatsache, dass Israel so viele Menschen tötet, ist kein Zeichen von Stärke. Die israelische Armee führt gleichzeitig Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen und gegen die Hisbollah im Norden. Aber sie fährt keine strategischen Erfolge ein, sie hat keinen Plan und sie verliert sogar Territorium, was in der Geschichte Israels beispiellos ist.
Wie wirkt das auf die Soldaten?
Es gibt ein Video von einem Reservisten, der sagt, wir sind seit acht Monaten hier und wir wissen, dass unsere Jobs in Israel weg sind, unsere Familie uns wahrscheinlich nicht mehr mag, wir haben unsere sozialen Kontakte verloren, wir können nirgendwo hin zurück. Wir werden bleiben und so viele Menschen töten, wie wir können. Und wenn die Regierung uns sagt, wir sollen uns zurückziehen, werden wir uns dem Befehl widersetzen.
Dieses Video ist unter den Israelis viral gegangen, weil es zeigt, was wirklich passiert: Völkermord heißt nicht, die Regierung finanziert eine Militärstrategie, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen; das Militär gerät einfach außer Kontrolle und die Regierung unternimmt aus populistischen Gründen nichts dagegen und versucht, sie mit genügend Munition zu versorgen, damit die Armee weitermachen kann. Denn wenn es einmal nicht mehr geht, gibt es keine Zukunft mehr für die Soldaten, all diese Reservist:innen haben keinen Job und kein Leben mehr.
Die Wehrpflicht in Israel ist ein Schwindel. Das war schon in der Generation meiner Eltern so. Weil es eine Kolonialgesellschaft ist, sind dem Militär Grenzen gezogen, denn es geht auch um Prestige. Junge Israelis wollen nicht zur Armee gehen, sie dazu zu zwingen, widerspricht der Idee einer überlegenen Klasse von Menschen, der jüdischen Vorherrschaft in der Region. Ich bin nicht zum Militär gegangen, es war leicht für mich, in meiner Generation waren es fast 50 Prozent. Später fiel die Wehrpflichtquote noch tiefer. Die zur Armee gehen, sind diejenigen, die gehen wollen. Ich habe so getan, als wäre ich verrückt, das tun viele Menschen. Der Psychiater muss das entscheiden und er weiß, dass ich vielleicht nur so tue, aber wenn er mich zwingt, trotzdem zu gehen und ich Selbstmord begehe, wird man ihn fragen, warum haben Sie diese Person eingezogen? Wenn er mich aber gehen lässt, wird niemand eine Frage stellen, also ist das das Einfachste.
Viele Israelis, die aus unteren wirtschaftlichen Schichten kommen, haben keine Familie, die sie in der Zeit des Militärdienstes unterstützt. Sie sagen, wenn ich zur Armee gehe, muss die mir eine Wohnung mieten und meine Wäsche am Wochenende waschen, etwas, was die Familie tun würde. Das ist nicht üblich für Armeen in modernen Ländern. Dann würde die Armee sagen, wir verwenden unsere Ressourcen lieber für etwas anderes, und dann werden die Reservist:innen aus sozialen Gründen vom Dienst befreit. Das ist also möglich.
Reservist:innen können während ihres Militärdienstes nicht entlassen werden. Dieses Gesetz entspringt genau der gleichen sozialen Idee wie der Mutterschaftsurlaub für Frauen. Aber natürlich wurde das Gesetz für einen Reservistendienst geschrieben, der bis zu einem Monat pro Jahr dauert, nicht mehr, danach muss der Staat das Gehalt dieses Arbeitnehmers zahlen und auch den Arbeitgeber unterstützen, weil der einen Angestellten verloren hat. Jetzt aber sprechen wir von Hunderttausenden Soldat:innen, die bereits acht Monate, einige von ihnen ununterbrochen, im Reservistendienst sind. Ihre Arbeitgeber können sie nicht rechtmäßig entlassen, selbst nach acht Monaten nicht, aber das Unternehmen geht darüber bankrott. Der Staat sagt einfach, wir werden nichts für Unternehmen tun, die ihre Arbeitskräfte verloren haben.
Dieser Sachverhalt liegt auch der Entscheidung von Intel zugrunde, einem der größten Unternehmen der Welt, das eine Fabrik für 25 Milliarden Dollar in Israel bauen will. Diese Investition wurde verhindert – das ist vielleicht unser größter Sieg. Intel hat gesehen, dass die israelische Wirtschaft zusammenbricht und die Arbeitskräfte gar nicht zur Arbeit erscheinen. Sie sind in Gaza, zehn Prozent der Arbeitskräfte sind dort. Warum sollte Intel eine Fabrik bauen, die keine Aussicht hat produzieren zu können? Warum sollte es in eine Wirtschaft investieren, die bald zusammenbrechen wird, und warum sollte es sich einer internationalen Boykottkampagne wegen Mitschuld am Völkermord aussetzen? Das ist ein Schneeballeffekt.
Leben in der Blase
Netanjahu tut alles, was in seiner Macht steht, um die Illusion aufrechtzuerhalten, es sei alles in Ordnung, auch wenn das bedeutet, dass die Wirtschaft auf lange Sicht dadurch ruiniert wird. Letztes Wochenende gab es eine Hitzewelle in Israel, viele Leute schalteten ihre Klimaanlagen ein und verbrauchten eine Menge Strom, und die Elektrizitätsgesellschaft sah, dass das Netz zusammenbrechen würde, weil es nicht genug Strom für alle Klimaanlagen gibt. Also beschloss die Regierung, ihre Notreserven an Diesel zu verbrennen, damit die Leute die Klimaanlagen übers Wochenende einschalten konnten.
Der Diesel muss aber aus strategischen Gründen vorhanden sein und darf nicht verbraucht werden. Außerdem ist sein Verbrennen eine Katastrophe für die Umwelt. Nun hat Kolumbien aber beschlossen, keine Kohle mehr an Israel zu verkaufen. Israel braucht Kohle hauptsächlich zur Stromerzeugung. Die nächstgrößeren Länder, die Kohle an Israel liefern, sind Südafrika und Russland. Die Israelis wissen also nicht, ob sie sich noch lange auf ihre Kohleimporte verlassen können. So haben sie sich überlegt, dass sie ihre Stromerzeugung ohnehin auf Erdgas umstellen möchten, denn es gibt Erdgas vor der Küste im Mittelmeer. Dafür müssen die Kraftwerke umgerüstet werden, dafür brauchen sie Zement und Stahl, der aus der Türkei importiert wird, die Türkei aber sagt Nein, wir erlauben keine Exporte von Zement und Stahl nach Israel, bis die Menschen in Gaza Lebensmittel und Medikamente bekommen.
An diesem Beispiel kann man sehen, wie die Israelis in einer Blase leben, sie können ihre Klimaanlage einschalten und alles ist in Ordnung, aber außerhalb dieser Blase bricht das ganze System zusammen. Die Solidaritätsbewegung zeigt also Wirkung.
Eine politische Kampagne, kein Aufruf zum Völkerhass
Die BDS-Bewegung muss strategisch vorgehen. Wenn wir etwa eine Fastfoodkette boykottieren wollen, dann rufen wir die Leute nicht auf, das individuell zu tun. Wir wollen kollektiv handeln. Und wir boykottieren ein Unternehmen nicht einfach, weil wir es nicht mögen, sondern weil wir einen guten Grund dafür haben und eine klare Kampagne in der Sache führen. Wir erwarten eine Reaktion von dem Unternehmen, dann beenden wir den Druck.
Es gibt eine eindeutige Liste von Unternehmen, die boykottiert werden sollten. Dazu gehört auch McDonalds. Die Kette hat kostenlos Mahlzeiten an Soldat:innen ausgegeben. Wenn sie nun sagen würde, es tut uns leid, wir werden das nicht wieder tun, wir wollen keinen Völkermord unterstützen, dann würde das die Dinge ändern. Stattdessen hat sie gesagt, wir werden unsere Niederlassung in Israel wie eine Tochtergesellschaft mit etwas anderen Eigentumsverhältnissen behandeln, so dass wir uns davon distanzieren können. Der nächste Schritt wird also sein, diese Verbindung zu kappen, dann hat die Bewegung ein Ende. Das zeigt, dass eine effektive und koordinierte Kampagne gegen McDonald's funktioniert.
BDS macht sehr deutlich, dass es gegen Antisemitismus ist. Selbst Menschen, die Meinungen äußern, sagen wir Universitätsprofessoren, die zionistische oder rassistische Meinungen äußern, sollen nicht wegen ihrer Meinungen boykottiert werden, das ist nicht der Punkt, es geht nur um die Institutionen. BDS ist keine Bewegung, um Juden zu boykottieren, es ist eine Bewegung, um Institutionen zu boykottieren, die an Unterdrückung und Diskriminierung und Mithilfe zum Völkermord mitschuldig sind. Wenn wir das kollektiv tun, hat das eine Bedeutung und eine Wirkung.
Es ist gut, mit einem größeren Ganzen verbunden zu sein und nicht individuell zu handeln. BDS ist eine globale Bewegung mit einer Webseite, mit Aktivist:innen und Koordinator:innen auf der ganzen Welt, die in der Lage sind, zu helfen und Informationen zu verifizieren, damit wir unsere Energie nicht an der falschen Stelle verschwenden.
www.bdsmovement.net
Palästina-Solidaritätsverein in Duisburg verboten
von Hermann Dierkes
Die Angriffe auf demokratische Rechte und Freiheiten nehmen massiv zu. Die weltweite Solidarität mit den Palästinensern gegen koloniale Unterdrückung und Landraub durch Israel sowie gegen den laufenden Völkermord in Gaza steht im Mittelpunkt staatlicher Einschränkung von demokratischen Rechten und Freiheiten. Völkerrechtswidrige Politik des angeblich ”wertebasierten” Westens, Komplizenschaft mit massivem Unrecht, schmutzige Ziele, Kriegshysterie und ein desaströses ”Weiter so” in Sachen Umweltvernichtung ziehen immer offensichtlicher staatliche Willkür und Gewalt nach sich.
weiterlesenEs sind die Spender – Biden riskiert seine Wiederwahl wegen Gaza
von Philip Weiss
Eine Gruppe von Milliardären arbeitet hinter den Kulissen daran, den Krieg um die öffentliche Meinung für Israel zu gewinnen, indem sie u.a. Beamte und Schulleiter anspricht, berichtet die Washington Post.
weiterlesen76 Jahre Nakba – und kein Ende?
von Hermann Dierkes
76 Jahre ist es her, dass der Staat Israel – geleitet von der vorherrschenden zionistischen Ideologie – buchstäblich auf den Knochen des palästinensischen Volkes entstanden ist. Etwa 750.000 Menschen wurden vertrieben, über 400 Dörfer durch Armee und Siedler zerstört. Die Westmächte der damaligen Zeit und sogar die ehemalige Sowjetunion waren Komplizen.
weiterlesenZur Entscheidung des IGH im Prozess Nikaragua gegen Deutschland vom 30.April 2024
von Ivesa Lübben
In einer mit Spannung erwarteten Erstentscheidung erklärte der Internationale Gerichtshof (IGH) am 30.April in Den Haag zur Enttäuschung vieler Palästinenser:innen, dass er keine Maßnahmen gegen Deutschland anordnen würde.
weiterlesenSoldaten machen den Weg für die Siedler frei. Pogrome im Westjordanland
von Oren Ziv
Bewaffnete israelische Siedler überfielen Mitte April mehr als ein Dutzend palästinensische Gemeinden unter dem Schutz der Armee und hinterließen eine Spur von Tod und Zerstörung.
„Es war, als würde ich mein Herz aus der Erde ziehen“
Zeugenaussagen aus dem Massengrab im Nasser-Krankenhaus
Während die Teams des Zivilschutzes weiterhin Hunderte von Leichen aus den im Nasser-Krankenhaus entdeckten Massengräbern ausgraben, strömen Palästinenser auf der Suche nach ihren vermissten Angehörigen zu dem medizinischen Komplex.
von Tareq S. Hajjaj, 25. April 2024
Gaza: Massenmorde in Krankenhäusern
von Hermann Dierkes
Der Feldzug von israelischen Bodentruppen und Luftwaffe gegen den Gazastreifen und seine 2,3 Millionen Menschen seit Oktober letzten Jahres verschont buchstäblich nichts. Bis Ende April sind 34.305 Tote zu beklagen und über doppelt so viele Verletzte, davon sehr viele schwer. Die grosse Mehrheit der Toten und Verletzten sind Frauen und Kinder. Die Traumatisierung durch die ständigen Luftangriffe, Artilleriebeschuss und das rücksichtslose Vorgehen der Armee selbst gegen Hilfesuchende und Hungernde ist quantitativ nicht mehr zu erfassen. Die Infrastruktur ist völlig zerstört, die Wohnbebauung zu über 70 Prozent. Hunderte von Schulen, davon viele UN-Schulen, und sämtliche Universitäten sind zerbombt oder mutwillig gesprengt; Moscheen, Kirchen und Kultureinrichtungen liegen in Trümmern. 1,5 Millionen Menschen – 80 Prozent der Bevölkerung – sind vertrieben worden und konzentrieren sich im Südzipfel bei der Stadt Rafah, die meisten in behelfsmässigen Zelten ohne feste und ausreichende Versorgungseinrichtungen, bei Toiletten angefangen. Der Weg nach Ägypten ist versperrt.
weiterlesenVerbot und Auflösung des Berliner „Palästina Kongresses – Wir klagen an!“
Erklärung des Anwält*innenKollektivs
Wir sind ein Kollektiv von Anwältinnen in Berlin, die die Veranstalter des „PalästinaKongress - Wir klagen an!“ vorbereitend sowie aktuell beraten und vertreten. Angemeldet wurde der Kongress von dem Verein Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost – EJJP Deutschland e.V. Der Vorstand war und ist durchgängig Ansprechperson der Polizei Berlin. Es handelte sich dabei um eine Versammlung nicht unter freiem Himmel, also in geschlossenen Räumen.
I. Die Veranstaltung
Die Veranstalter planten in Kooperation mit einer Vielzahl politischer Initiativen, NGOs, Bürgerrechtsvereinigungen und Einzelpersonen den Palästina Kongress 2024 als Forum des politischen Austauschs zum Zwecke der Teilhabe an der politischen Meinungsbildung und - kundgabe. Damit sollten die militärischen Angriffe der israelischen Streitkräfte thematisiert werden, die als Folge der Anschläge von Hamas-Kämpfern auf das Leben von über 1.200 israelischen und anderen Staatsbürgerinnen am 7. Oktober 2023 in Gaza durchgeführt werden und dem völkerrechtliche Vorwurf eines Verstoßes gegen die UN-Völkermordkonvention vom IGH für plausibel eingestuft worden ist. Die Veranstalter wollten an die mehr als 32.000 Palästinenserinnen erinnern, die in Folge dieser militärischen Intervention im Gazastreifen ihr Leben lassen mussten, an die zerstörten Familien, die vernichtete Infrastruktur, die verlorenen Kulturgüter und die 1,9 Millionen Vertriebenen, die mit der flächendeckenden Bombardierung überwiegend ziviler Einrichtungen zu beklagen sind. Sie wollten in diesem Zusammenhang auch die Frage erörtern, in welcher Weise und in welchem Ausmaß die Politik der Bundesrepublik hierzu Beihilfe leistet.
Der Anmelder wollte damit zugleich erreichen, dass die von den Ereignissen betroffenen Menschen aus dem Gefühl politischer Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit heraustreten, sich vernetzen und politisch tätig werden können, um dem gemeinsamen Ziel der Erreichung eines Schweigens der Waffen, der Versorgung der hilfsbedürftigen Menschen, der Freilassung von Geiseln und politischen Gefangenen, der Herstellung eines völkerrechtskonformen Zustandes in Nahost sowie der Sicherung eines dauerhaften Friedens auf der Grundlage eines gleichberechtigten Gesellschaftsmodells zu dienen.
II. Vorangegangene Sicherheitsgespräche nach dem Kooperationsgebot
Im Vorfeld gab es mehrfache Sicherheitsgespräche zwischen dem Anmelder, dem AnwältinnenKollektiv und der Polizei, mit dem Ziel die Veranstaltung zu schützen, wie rechtlich vorgesehen, und die Veranstaltung störungsfrei abzuhalten. Diese Gespräche sind sehr gut verlaufen, wir hatten zu keinem Zeitpunkt Anlass von Verbots- oder Beschränkungsabsichten auszugehen und das trotz des Drucks aus Politik und Medien.
Noch am Morgen des Kongresses am 12.4.2024 wurde das Programm und die darin vorgesehenen Rednerinnen mit der Polizei besprochen und bestätigt. Die polizeilichen Maßnahmen die dann während des Kongresses angeordnet worden sind, glichen daher einer Überrumpelung und stehen im Widerspruch zum Kooperationsgebot. Das Kooperationsgebot ist im Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz verankert und Grundlage aller Gespräche zwischen Anmelder, Anwaltschaft und Polizei.
III. Polizeiliche Maßnahmen zu Beginn des Palästina Kongresses
Während des laufenden Programms wurde wenige Minuten nach Beginn des Abspielens einer im Programm bekannt gemachten Video-Botschaft von Dr. Salman Abu Sitta (Kartograph) der Versammlungssaal von Einsatzkräften der Bereitschaftspolizei Duisburg betreten, die sich sogleich vor der Bühne aufbauten und die Unterbrechung des Videos verlangten. Zur Begründung wurde mitgeteilt, dass der Redner ein Betätigungsverbot in Berlin erhalten habe. Dieses Betätigungsverbot war dem Anmelder zuvor weder bekannt gemacht worden noch sonst bekannt gewesen. Es war nach dem Bekunden der Einsatzkräfte auch diesen gerade erst mitgeteilt worden. Nachdem zunächst die Tonspur weiterlief, wurde ohne Inanspruchnahme des hierfür mehrfach angebotenen Schlüssels im Wege der Selbstvornahme die Tür zum Betriebsraum mit Zwang geöffnet und der Strom abgeschaltet.
Trotz dieses eskalativen Polizeivorgehens – der Veranstalter hätte in Kenntnis des polizeilichen Begehrens das Programm angepasst – blieb die Lage vor Ort ruhig, wurde von den Ordnerinnen beruhigend auf die Teilnehmerinnen eingewirkt und kam es zu keinerlei körperlichen Auseinandersetzungen. Mit dem Kontaktbeamten der in Amtshilfe tätigen Polizeikräfte aus Nordrhein-Westfalen wurden Kooperationsgespräche geführt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass bereits gerichtlich geklärt sei, dass ein Betätigungsverbot nicht für das Abspielen von Videos von im Ausland befindlichen Personen zur Anwendung komme. Es wurde zugesagt, dass dies geprüft werde. Dem Vernehmen nach haben weder Polizei noch der anwesende Vertreter der Staatsanwaltschaft in den angespielten Äußerungen einen strafbaren Inhalt feststellen können. Als der Anmelder gleichwohl anbot, auf das Abspielen des Videos zu verzichten, wurde problematisiert, dass der Live-Stream womöglich strafbare Äußerungen in die ganze Welt transportiere, was den Kreis der Wahrnehmenden unwägbar erweitere. Daraufhin bot der Anmelder an – unter Protest gegen die Anordnung –, vorläufig auf die Schaltung des Livestreams zu verzichten, um die Veranstaltung fortsetzen zu können. Dies schien ein gangbarer Kompromiss.
Gleichwohl entschied der Gesamteinsatzleiter, dass die Versammlung aufzulösen sei und der Kongress nicht stattfinden könne. Er begründete dies gegenüber einem Mitglied des AnwältinnenKollektivs damit, dass eine Video-Botschaft einer Person gezeigt wurde, gegen die ein Betätigungsverbot ergangen sei, was wiederum auf Äußerungsdelikte dieser Person gestützt worden sei. Dies (allein) gebe ihm hinreichenden Anlass zu der Vermutung, dass bei Fortsetzung des Kongresses strafbare Äußerungen erfolgen werden, die jenen entsprächen, deretwegen das Betätigungsverbot gegen Dr. Salman Abu Sitta ergangen sei. Dass es im bisherigen Verlauf der Versammlung zu solchen strafbaren Äußerungen nicht gekommen ist, dass das Betätigungsverbot gegen Dr. Salman Abu Sitta den Veranstalterinnen nicht bekannt gewesen ist und diese kooperationsbereit sind, ändere nichts an seinem Entschluss, was er mit der besonderen Schwere des Schutzgutes rechtfertigen könne, dem die Beschränkung der Meinungsfreiheit diene. Er werde, so der Polizeidirektor im Gespräch mit der Anwaltschaft, nicht abwarten, bis eine strafbare Meinungsäußerung erfolge.
Grundsätzlich können Versammlungen in geschlossenen Räumen gemäß § 22 Nr 3 VersFG Berlin aufgelöst oder verboten werden, wenn 1. eine unmittelbare Gefahr eines unfriedlichen Verlaufs zu befürchten ist, oder 2. eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben von Personen, oder 3. die unmittelbare Gefahr besteht, dass in der Versammlung Äußerungen erfolgen, die ein Verbrechen oder ein von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen darstellen. Nichts von dem liegt hier vor. Es gab keine unmittelbare Gefahr für einen unfriedlichen Verlauf, oder für Leib und Leben, oder für Äußerungsdelikte.
IV. Rechtlicher Maßstab für Auflösung und Verbot
In der ständigen Rechtsprechung wird der Auflösungstatbestand des § 22 Nr. 3 VersFG BE bzw. Art. 5 Versammlungsgesetz Bund dahingehend ausgelegt, dass „zum einen die darin erfassten Meinungsäußerungsdelikte von beträchtlichem Gewicht sein, sowie zur Unfriedlichkeit führen müssen, und zum anderen die das Verbot tragenden Tatsachen mit einer vernünftige Zweifel ausschließenden Sicherheit festgestellt sein müssen, damit die zusätzlich erforderliche Prognose des Verhaltens des Veranstalters oder seines Anhangs eine tragfähige Grundlage hat (vgl. Senatsbeschluss vom 25.04.1998 - 1 S 1143/98 - VBlBW 1998, 426). Nur wenn erkennbare Umstände darauf schließen lassen, dass das Vertreten strafbarer Ansichten bzw. das Dulden strafbarer Äußerungen das maßgebende Anliegen der Versammlung ist, kommt ein Totalverbot in Frage. Lässt eine gesicherte Gefahrenprognose diesen Schluss nicht zu, sind nur weniger einschneidende Beschränkungen zulässig (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O. § 5 Rn. 33). Weil bloße Beschränkungen gegenüber dem Verbot geringere Eingriffe sind, darf in Anwendung des Grundsatzes der Erforderlichkeit ein Schluss von der Verbotsermächtigung auf die Ermächtigung zum Erlass verbotsvermeidender aber gleichwohl zwecktauglicher Maßnahmen gezogen werden (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O. § 5 Rn. 43 m.w.N.).“ (VGH Mannheim, Urteil vom 12. Juli 2010 – 1 S 349/10 –, juris 45) Nach diesen Maßstäben entbehrt die angegriffene Verfügung jeglicher tatsächlichen Grundlage. Wie der Gesamteinsatzleiter dem AnwältinnenKollektiv gegenüber selbst eingeräumt hat, hatte der Anmelder keinerlei Kenntnis über bestehende Betätigungsverbote nicht anwesender Personen. Es sind auch im Verlauf der Versammlung keine strafbaren Äußerungen festgestellt worden, die ihrer Art und Schwere nach als Verbrechen oder von Amts wegen zu verfolgendes Vergehen zu verfolgen wären. Auf solche Feststellungen wurde die Auflösungsverfügung auch gar nicht gestützt.
Erst recht waren Äußerungen – ihre Strafbarkeit unterstellt – nicht darauf gerichtet oder geeignet, zu Unfriedlichkeit zu führen – weder in der Versammlung selbst noch über diese hinausgehend. Ein solches Anliegen hat der Veranstalter auch gar nicht verfolgt. Das gesamte Szenario der Orchestrierung polizeilicher Maßnahmen haben dazu auch gar keine Gelegenheit gegeben. Die Versammlungsteilnehmenden hatten eher das Gefühl, sich auf einer Versammlung der Polizei zu befinden als dass sich die Polizei auf einer selbstbestimmt durchgeführten Versammlung befunden hätte.
Für die Polizei war vor Ort ersichtlich, dass weder eine strafbare Äußerung vor Ort getätigt wurde, noch der Verlauf der Veranstaltung als Versammlung nicht unter freiem Himmel unfriedlich war. Die Maßnahmen wurden also auf einer bewusst falschen Tatsachengrundlage gestützt, wie Videoaufzeichnungen in den sozialen Medien zeigen.
In Ermangelung konkreter Anknüpfungspunkte fehlt es schon an der erforderlichen Gefahrenprognose. Erst recht trägt die Annahme nicht, dass aufgrund des Verhaltens des Veranstalters oder der Teilnehmenden davon ausgegangen werden könne, dass die für die Auflösung am 12. April 2024 und das weitere Verbot der folgenden Veranstaltungstage bis einschließlich 14. April 2024 herangezogenen Tatsachen mit einer vernünftige Zweifel ausschließenden Sicherheit festgestellt worden sind.
Dieser Befund wird noch durch den Umstand gestützt, dass der Veranstalter auch nicht gegen das Betätigungsverbot verstößt – von dem er keine Kenntnis hatte –, wenn er das Video eines Drittstaatsangehörigen in Deutschland vorführt, der sich im Ausland befindet. Dies folgt bereits aus der Systematik und dem Regelungsgegenstand der das Betätigungsverbots, das lediglich ein Verhalten im Inland unter der Voraussetzung persönlicher Anwesenheit erfasst. Maßnahmen in einem ähnlich gelagerten Fall des politischen Betätigungsverbots wurden erst letztes Jahr für rechtswidrig vom VG Berlin erklärt (VG Berlin, Urteil v. 22.03.2023, VG 24 K 256.19). Hier weigert sich die Polizei Rechtsprechung zur Kenntnis zu nehmen und umsetzen.
V. Mildere Maßnahmen als die Auflösung waren ersichtlich möglich.
Es wären nach § 22 Abs. 2 VersFG BE mildere Maßnahmen zu treffen gewesen, namentlich ein Aufführungs- bzw. Abspielverbot bestimmter Videobotschaften oder ein Redeverbot für persönlich Anwesende. Hiervon hat jedoch weder die Versammlungsbehörde in ihrem Bescheid Gebrauch gemacht, noch wurden vor Ort entsprechende Anordnungen getroffen. Die Tatsache, dass Dr. Salman Abu Sitta eine Grußbotschaft an den Kongress senden werde, war allgemein bekannt. Es war im Informationsaustausch mit der Polizei am 8. April 2024 auch mitgeteilt worden, dass abgespielte Beiträge auf mögliche strafbare Inhalte vorab durchgesehen und alle Rednerinnen über die Rechtslage in der Bundesrepublik aufgeklärt würden. Dies wurde auch gegenüber dem Gesamteinsatzleiter wiederholt. Ebenso wurde angeboten, der Polizei die Videobeiträge zur Begutachtung zur Verfügung zu stellen. Auch hierauf wurde sich nicht eingelassen. Damit hat die Polizei ein völlig unverhältnismäßiges und grundgesetzwidriges Verhalten an den Tag gelegt. Die vielen und gravierenden rechtliche Bedenken und Argumente, die vom Anwältinnenkollektiv vorgetragen wurden, wurden außer Acht gelassen.
Im Anschluss wurde der Saal geräumt, wobei es mindestens 3 Festnahmen gegeben hat. Berichtet wurde zudem, dass ehemalige Teilnehmende und Journalistinnen auf dem Nachhauseweg von der Polizei verfolgt, beobachtet, festgestellt, und durchsucht wurden.
VI. Weitere politische Betätigungsverbote und Kontaktverbote
Bereits vor Beginn der Veranstaltung wurde bekannt, dass einem aus Großbritannien einreisenden Redner, Dr. Ghassan Abu Sittah (Rektor der Universität Glasgow und Mediziner) von der Bundespolizei ein Einreiseverbot erteilt, dieser im Terminalbereich festgehalten und seines Passes entledigt wurde, bis er nach längerer Befragung nach London zurückkehrte. Auch ist ihm untersagt worden, seinen Redebeitrag online zu halten. Am 13.4.2024 wurde bekannt, dass gegen Yannis Varoufakis (ehemaliger Finanzminister Griechenlands und Vorsitzender der Partei Diem25) ebenfalls auf mündliche Anordnung der Polizei ein „Betätigungsverbot“ erlassen wurde. Die Verfügung erging durch die Bundespolizei im Auftrag des Bundesministeriums des Inneren. Die Rechtsgrundlage wurde nicht mitgeteilt. Aus unserer Mandantschaft sind zudem in mindestens zwei Fällen weitere Kontakt- und Betätigungsverbote bekannt geworden. Verboten wurde jeglicher Kontakt oder die Beherbergung von Teilnehmenden oder Veranstaltenden des Palästina Kongresses.
VII. Einschüchterungen im Vorfeld
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass das Verbot des Palästina Kongresses sich einreiht in verschiedene schikanierende Vorgänge im Vorfeld. Dazu gehört u.a. die Sperrung des Kontos der Jüdischen Stimme e.V., auf dem Spenden für den Kongress gesammelt wurden. Dazu gehören auch die „Sicherheitswarnungen“ der Polizei gegen das Cafe MadaMe, wo ein Spendenabend für den Palästina Kongress stattfinden sollte, und unter Druck abgesagt wurde. Dazu gehören auch die Einschüchterungsversuche gegen den Vermieter des Saals für den Palästina Kongress: hierzu wurden verschiedene Behörden eingeschaltet, um angebliche Mängel des Brandschutzes und der Nutzungserlaubnis zu finden.
VIII. Fazit: Das AnwältinnenKollektiv Berlin bleibt im Angesicht dieser Entwicklungen erschüttert
Jegliche rechtsstaatlichen Versuche, die Versammlung und die Versammlungsteilnehmenden zu schützen und für störungsfreien und rechtmäßigen Ablauf zu sorgen, wurden von der Polizei torpediert. Der Eindruck wurde geschaffen, dass hier jenseits aller bewährten versammlungsrechtlichen Erfahrungen, Rechtsprechung und verfassungrechtlicher Verankerung, Rechtsschutz verkürzt werden sollte. Es erhärtet sich auch der Eindruck, dass die Polizei politischem Druck ausgesetzt war, der sie dazu veranlasste, wissentlich rechtswidrig tätig zu werden. Uns wird hier eine rechtsstaatliche Entgegnung nicht nur erschwert, sondern ist so kaum mehr möglich: Ein vorheriges Verbot – wie dies in Politik und Medien gefordert wurde - hätte man nicht rechtssicher erlassen können; hiergegen hätten sich die Veranstalter erfolgreich im Wege des Eilrechtsschutzes wehren können. Das Verbot vor Ort hat den Rechtsschutz maximal verkürzt.
Wir können nur davon ausgehen, dass das Thema Palästina und die Diskussion um den dort stattfindenden Genozid, trotz mehrfacher einstweiliger Anordnungen des IGHs mundtot gemacht werden sollen. Und dies trotz der deutschen Beteiligung am Genozid, die derzeit in Den Haag verhandelt wird. Mit der nationalen und internationalen Aufmerksamkeit für die Repression gegen den Palästina-Kongress ist jetzt wohl das Gegenteil eingetreten.