Iran: Jin, Jiyan, Azadî – Frau, Leben, Freiheit
Die Charta der Mindestforderungen der unabhängigen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Iran
dokumentiert
Alle unterzeichneten Organisationen dieser Charta kämpfen im Iran seit vielen Jahren für die Rechte der Lohnabhängigen, für die Menschen- und Bürgerrechte, für die Gleichberechtigung der Frauen und gegen jegliche Form der Unterdrückung.
Vermutlich zum ersten Mal seit der iranischen Revolution 1979 wagen sich unabhängige gewerkschaftliche Organisationen über ihre unmittelbaren ökonomischen und betriebsbedingten Forderungen hinaus und stellen zusammen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen politische Forderungen auf.
Die Unterzeichneten grenzen sich von der rechten Opposition und restaurativ-monarchistischen Kräften ab, die unter konstitutionalistisch-liberalen Parolen und mit säkularer Rhetorik die alte Pahlavi-Dynastie (das Schah-Regime) wieder herstellen wollen. Drittens erteilt die Charta autoritären Politikformen von oben wie auch stellvertretenden Politikformen durch Parteien eine Absage. Sie plädiert stattdessen für eine selbstbestimmte, diverse und dezentrale Politik von unten und vertritt somit eine basisdemokratische Perspektive.
Den Unterzeichneten ist bewusst, dass die Verwirklichung dieser Forderungen mit dem Fortbestand der bestehenden Machtverhältnisse im Iran nicht zu vereinbaren ist. Vielmehr scheint es darum zu gehen, einen allgemeinen Rahmen zu skizzieren, der die Gemeinsamkeiten in den politischen Forderungen der progressiven Kräfte betont und somit die Weichen für einen revolutionären Ausgang aus der strukturellen Krise des Irans stellt.
Die Charta bietet damit linken und progressiven Kräften die Möglichkeit zu einer kollektiven gesellschaftsumwälzenden Praxis. Bis jetzt wurde die Charta von vielen linken und progressiven Organisationen, Aktivist:innen, Frauenrechtler:innen, Intellektuellen und Akademiker:innen usw. mit emphatischen und kämpferischen Worten begrüßt. Wann diesen Worten Taten folgen, wird sich zeigen.
Dem rechtschaffenen und freiheitsliebenden Volk des Iran!
Am 44.Jahrestag der iranischen Revolution von 1979 ist das ökonomische, politische und soziale Fundament des Landes so tief im Strudel der Krise und des Zerfalls versunken, dass im Rahmen der bestehenden politischen Verfassung keine Perspektive zur Überwindung dieses Zustands vorstellbar ist. Deswegen haben das unterdrückte Volk des Iran, die Frauen und die freiheits- und gleichheitsliebende Jugend mit beispielloser Selbstaufopferung und zur Beendigung dieses menschenfeindlichen Zustands landesweit Straßen und Städte in ein historisches Kampffeld verwandelt. Trotz der blutigen Niederschlagung der Proteste geben sie seit fünf Monaten keine Sekunde Ruhe.
Die Fahne dieser radikalen Proteste wird heute von Frauen, Schüler:innen, Lehrer:innen, Arbeiter:innen, Kläger:innen, Künstler:innen, Schriftsteller:innen durch alle unterdrückten Schichten der iranischen Bevölkerung hindurch an vielen Orten des Landes – von Kurdistan bis Belutschistan – getragen. Sie erfährt eine bis dato kaum vergleichbare internationale Unterstützung, steht für den Protest gegen Frauenfeindlichkeit und Geschlechterdiskriminierung, gegen die ungeheure ökonomische Unsicherheit und die Sklaverei der Lohnabhängigen, gegen das Elend und die Klassenunterdrückung, gegen die Unterdrückung aufgrund der ethnischen, nationalen und religiösen Zugehörigkeit.
Diese Proteste sind eine Revolution gegen jegliche Form des Despotismus, sei er religiös oder antireligiös begründet. Der Despotismus wurde uns – allen Teilen der iranischen Bevölkerung – mehr als ein Jahrhundert lang aufoktroyiert.
Diese aufwühlenden Proteste gehen aus den großen und neuen sozialen Bewegungen, aus dem Aufstand einer unbesiegbaren Generation hervor. Diese Generation ist fest entschlossen, sowohl der hundertjährigen Geschichte der Unterentwicklung wie auch der Unterdrückung der Vorstellungen von der Errichtung einer modernen, wohlhabenden und freien Gesellschaft ein Ende zu setzen.
Nach zwei großen Revolutionen in der zeitgenössischen Geschichte des Iran stehen die großen fortschrittlichen sozialen Bewegungen – die Arbeiter- und die Lehrerbewegung, die Frauenbewegung für die Gleichstellung der Geschlechter, die Studierenden- und Jugendbewegung, die Rentnerbewegung, die Bewegung gegen die Todesstrafe usw. – vor der historisch entscheidenden Situation, die politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen grundlegend und von unten umzugestalten.
Deswegen hat diese Bewegung entschieden, die Herausbildung einer Macht von oben für immer unmöglich zu machen. Sie versteht sich als Teil des Aufbruchs zu einer sozialen, neuen und humanen Revolution, die sich für die Emanzipation des Volkes und gegen alle Formen von Unterdrückung, Diskriminierung, Ausbeutung, Despotismus und Diktatur einsetzt.
Wir, die unterzeichneten gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, halten an der Einheit und Geschlossenheit der sozialen Bewegungen fest und legen den Fokus auf die Kämpfe zur Beendigung dieser menschenfeindlichen und zerstörerischen Zustände. Wir sind der Auffassung, dass die Verwirklichung der nachstehenden Mindestforderungen der einzige Weg zur Errichtung einer neuen, modernen und menschlichen Gesellschaft in unserem Land ist. Diese Forderungen sind, wenn man so will, die ersten Verfügungen und somit die ersten Ergebnisse der gegenwärtigen radikalen Proteste des iranischen Volkes…:
1
Sofortige und bedingungslose Freilassung aller politischen Gefangenen; Entkriminalisierung der politischen, gewerkschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten; öffentliche Prozesse gegen alle Verantwortlichen – befehlende wie ausführende Personen –, die an der Niederschlagung der Proteste beteiligt waren und sind.
2
Bedingungslose Meinungs-, Rede-, Gedanken- und Pressefreiheit; uneingeschränktes Recht auf Bildung von Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen – regional und landesweit; uneingeschränktes Recht auf Streik, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit; unbedingtes Recht auf den freien Zugang und die freie Nutzung von Audio-, Video- und sozialen Medien.
3
Unverzügliche Annullierung der Todesstrafe und des islamischen Vergeltungsgesetzes (qesas); Verbot jeglicher Form und jeglicher Art von psychischer wie physischer Folter.
4
Sofortige Gleichstellung von Frauen und Männern in allen politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und familiären Bereichen; bedingungs- und ersatzlose Aufhebung aller Gesetze und Formen von Diskriminierung gegen diverse Geschlechtsidentitäten; bedingungslose Anerkennung einer Regenbogengesellschaft LGBTQIA; Entkriminalisierung der Geschlechterdiversität; Anerkennung aller Rechte von Frauen auf ihren Körper und auf ihr Schicksal; Sanktionierung der patriarchalischen Kontrolle und Gewalt über Frauen.
5
Religion ist Privatsache der Individuen, sie darf sich weder in die politischen, ökonomischen und kulturellen Angelegenheiten des Landes einmischen noch diese mitbestimmen.
6
Gewährleistung der Arbeits- und Berufssicherheit; umgehende Lohnerhöhung für Arbeiter:innen, Lehrer:innen, Angestellte, kurzum: für alle Beschäftigten; Rentenerhöhung. Dies muss unter direkter Beteiligung der rechtmäßigen Vertreter:innen der Werktätigen an den Entscheidungsprozessen bzw. durch Mitbestimmung der rechtmäßigen Vertreter:innen in den unabhängigen Interessenvertretungen und -verbänden erfolgen.
7
Annullierung aller Gesetze und Tendenzen, die die ethnische/ nationale und religiöse Unterdrückung und Diskriminierung fördern; Schaffung von Infrastrukturen für eine gerechte Umverteilung der staatlich-öffentlichen Ressourcen zur Entwicklung der Kultur und Kunst in allen Landesteilen; Bereitstellung der notwendigen, gleich verteilten Mittel zum Lernen und Lehren in allen gebräuchlichen Sprachen unserer Gesellschaft.
8
Abschaffung aller Repressionsapparate; Einschränkung der staatlichen Befugnisse; Ermöglichung der direkten Partizipation der Bevölkerung an den gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozessen des Landes durch die regionalen und landesweiten Räte. Das Recht auf Absetzung der staatlichen sowie nichtstaatlichen Bevollmächtigten und Abgeordneten zu jeder Zeit muss als Grundrecht des Wahlvolkes anerkannt werden.
9
Enteignung der Vermögen aller rechtlichen und natürlichen Personen, der staatlichen, halbstaatlichen und privaten Institutionen, die unmittelbar oder mittelbar an der Plünderung des Eigentums und Reichtums des iranischen Volkes durch die gesetzwidrige Aneignung der staatlichen Rente beteiligt waren. Der durch diese Enteignung abgeschöpfte Reichtum muss unverzüglich für den Aufbau und die Modernisierung des Bildungswesens, der Rentenkassen und des Umweltschutzes ausgegeben werden, ebenso für den Bedarf der vernachlässigten Landesteile – also für diejenigen, die sowohl unter der Herrschaft der Islamischen Republik als auch unter der des monarchischen Regimes zuvor Not gelitten haben und kaum über materielle und soziale Ressourcen verfügten und verfügen.
10
Beendigung der Umweltzerstörung; Ausführung einer fundamental neuen Politik des Aufbaus einer Infrastruktur zum Schutz der Natur – diese Infrastruktur wurde während der letzten hundert Jahre zerstört; Teile der Natur (wie Weideland, Strände, Wälder und Gebirgsausläufer) müssen wieder zu Gemeindeeigentum erklärt werden…
11
Verbot der Kinderarbeit; soziale Sicherung und Bildungsförderung unabhängig von der ökonomischen und sozialen Lage der Familien; Anhebung des allgemeinen Wohlstands durch eine Arbeitslosenversicherung sowie eine robuste soziale Sicherung für arbeitsfähige, arbeitswillige wie arbeitsunfähige Personen; kostenlose Bildungs- und Gesundheitsdienste für alle.
12
Normalisierung der außenpolitischen Beziehungen bis zur höchsten Ebene mit allen Ländern aufgrund einer gerechten und auf gegenseitigem Respekt und Verantwortung beruhenden Beziehung; Verbot von Atomwaffen und ein starkes Engagement für den Weltfrieden.
Wir sind der Auffassung, dass unsere Mindestforderungen augenblicklich realisierbar sind, wenn wir die vorhandenen und potenziellen Naturschätze des Landes, die Leistungs- und Wissensressourcen des Volkes sowie eine Generation von Jugendlichen, die über eine hohe Motivation zur Verwirklichung eines fröhlichen, sorgenlosen und freien Lebens verfügt, in Betracht ziehen…
Koordinationsrat gewerkschaftlicher Organisationen der Lehrer:innen;
Freie Gewerkschaft der Arbeiter:innen des Iran;
Union studentischer Organisationen (Vereinigte Studierende);
Verein der Verteidiger:innen von Menschenrechten;
Syndikat der Arbeiter:innen der Zuckerrohrfabrik von Haft-Tapeh;
Rat für die Organisierung der Proteste von Werkarbeiter:innen in der Erdölindustrie;
Haus der Lehrer:innen;
Erwachte Frauen;
Stimme der Frauen des Iran;
Unabhängige Stimme der Arbeiter:innen der nationalen Stahlindustrie von (Stadt) Ahwaz;
Verein der Verteidiger:innen der Arbeiterrechte;
Gewerkschaftsverein der Metall- und Elektrizitätsarbeiter:innen von Kermanschah;
Koordinationskomitee zur Unterstützung für den Aufbau der Arbeiterorganisationen;
Vereinigung der Rentner:innen;
Rat der Rentner:innen des Iran;
Organisation progressiver Studierender;
Rat freidenkender Schüler:innen des Iran;
Syndikat der Maler:innen der Provinz Alborz;
Komitee zum Aufbau der Arbeiterorganisationen;
Rat der Rentner:innen in der Organisation sozialer Sicherung.
14.Februar 2023
Kommentar und Übersetzung aus dem Persischen von Said Hosseini; von der Redaktion leicht gekürzt.
Iran: ›Frauen, Leben, Freiheit!‹
Der Schleier ist das Symbol für Unterdrückung überhaupt
dokumentiert*
Mahsa Amini, eine 22jährige Iranerin aus Iranisch-Kurdistan, war mit ihrer Familie auf Verwandtenbesuch nach Teheran, als sie von der Sittenpolizei aufgegriffen wurde. Sie trug den vorgeschriebenen Hijab (Schleier, Kopftuch) nicht, wie das Gesetz es verlangt. Sie wurde verhaftet und geschlagen, Tage später starb sie in einem Krankenhaus in Teheran an ihren Verletzungen. Ihr Tod hat eine enorme Protestwelle ausgelöst, die durch alle sozialen Schichten, alle Ethnien geht und alle Regionen des Landes erfasst.
weiterlesen«Der Iran steht vor einer Explosion»
Protestbewegungen gegen die Diktatur
Gespräch mit Mina Khani
Mina Khani stammt aus dem Iran und lebt heute als linke Autorin, Bloggerin und Künstlerin in Berlin. Sie schreibt vor allem über soziale Bewegungen, insbesondere über die Frauenbewegung. Das nachstehende Interview mit Harald Etzbach wurde Ende Januar auf der Webseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlicht und wird hier stark gekürzt wiedergegeben.
weiterlesen«Die Expansionspolitik des Iran steckt in der Krise»
Über die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten
Gespräch mit Gilbert Achcar
Wenn es um den Nahen Osten geht, stehen hierzulande meist die USA und – in geringerem Umfang – die Rolle der EU im Vordergrund. Die Expansionsbestrebungen des Iran werden wenig analysiert. Doch sie sind es, gegen die sich die anhaltenden Massenproteste im Irak, Iran und im Libanon gleichermaßen richten.
weiterlesenKriegsherd Nahost
Ein Überblick über die Lage
von Paul Kleiser
Am Ende hat Trump nur Sanktionen verhängt und der Iran bei der Bombardierung der Militärbasis darauf geachtet, dass keine feindlichen Soldaten ums Leben kommen. Doch aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wissen wir, dass säbelrasselnde Rhetorik nicht Rhetorik bleibt – vor allem nicht, wenn die Interessen- und Bündniskonstellationen so widersprüchlich und das politische Personal an der Spitze der Staaten so autoritär und menschenverachtend ist wie im Konfliktherd Nahost.
weiterlesenDie USA steuern auf einen Krieg zu
Kalkulierte Verschärfung von Konflikten
von Mohssen Massarrat*
Nach den jüngsten Luftangriffen auf Ölanlagen in Saudi-Arabien hat die Trump-Regierung gegen die iranische Zentralbank und den Staatsfonds des Landes wegen angeblicher Finanzierung terroristischer Aktivitäten Sanktionen verhängt.
weiterlesen«Für uns Schah-Gegner war kein Platz»
Über die widersprüchlichen Folgen der iranischen Revolution
Gespräch mit SAID
Mitte Januar 1979 verließ der Schah des Iran das Land unter dem Druck monatelanger Streiks, die Ende 1978 stattgefunden hatten und die vom Bürgertum wie auch von der Geistlichkeit unterstützt wurden. Zwei Wochen später kehrte der 1964 ins Pariser Exil getriebene Führer der Geistlichkeit, Ayatollah Khomeini, nach Teheran zurück und übernahm alsbald die Macht. Am 1.April wurde die Monarchie per Referendum abgeschafft und durch die neue Staatsform Islamische Republik ersetzt. weiterlesen
Iran III
Die Lage der Arbeiterbewegung
von Behrooz Farahani
Seit mehreren Jahren ist der Iran Schauplatz beispielloser Streikbewegungen. Nach dem Abkommen von 2015 über das iranische Atomprogramm erwartete die iranische Gesellschaft «bessere Tage», die die «moderate» Regierung Rouhani versprochen hatte. Tatsächlich änderte sich fast nichts. Infolgedessen nahmen die Proteste zu – sie reichten vom Lehrpersonal über Krankenschwestern bis zu den Arbeitern der Ölindustrie, Rentnern und Arbeitslosen. Mehrfach standen die Lehrer an der Spitze von Demonstrationen, die zeitgleich in Dutzenden von Städten organisiert wurden. weiterlesen
Iran II
Ein kurzer Abriss der Nachkriegsgeschichte
von Houshang Sepehr
Der Iran ist mit 80 Millionen Einwohnern eines der bevölkerungsreichsten Länder des Mittleren Ostens. Es ist der viertgrößte Erdölproduzent der Welt, 70 Prozent seiner Bevölkerung leben in Städten und fast 90 Prozent können lesen und schreiben. Die Frauen, die gezwungen sind, den Schleier zu tragen, haben im Durchschnitt zwei Kinder und stellen drei Viertel der Studierenden. Die Verfolgung von Oppositionellen ist scharf, sie trifft insbesondere Gewerkschafter. weiterlesen
Iran I
Die Wurzeln der Revolte
von Babak Kia/Houshang Sepehr*
Seit dem 28.Dezember 2017 erlebt der Iran Massenproteste gegen die Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Massenarbeitslosigkeit, wachsende soziale Ungleichheit, ein brutales Sparprogramm und politische Unterdrückung.
Die Demonstrationen begannen in Mashhad, der zweitgrößten Stadt des Landes, sie breiteten sich auf 80 Städte und Dörfer und die Hauptstadt aus. weiterlesen