von Claudio Katz
Claudio Katz, argentinischer Ökonom, Professor an der Universität Buenos Aires, Forscher am CONICET und Mitglied des Netzwerks Economistas de Izquierda (EDI), analysiert in seinem Artikel den Aufstieg der BRICS-Staaten im Kontext des US-Machtverfalls. Er diskutiert deren defensive Rolle im globalen Kräftemessen, die inneren Widersprüche des Bündnisses sowie die Grenzen und Möglichkeiten eines antiimperialistischen Neuanfangs. (d. Red.)
Der Niedergang der USA ist der wichtigste Grund für den Aufstieg der BRICS – und rückt deren Aufstieg in einen langfristigen Zusammenhang. Wer die erweiterte Fünfergruppe bewertet, sollte diesen Hintergrund im Blick behalten. Nur so lassen sich einseitige Lobhudeleien oder vorschnelle Verurteilungen vermeiden, wenn es um ein Bündnis geht, das Ausdruck der neuen multipolaren Weltordnung ist.1
Die BRICS-Staaten haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen, um eine eigene Agenda zu verfolgen – im offenen Widerspruch zu den Vorgaben aus Washington. Sie streben danach, unabhängig von diesen Forderungen zu handeln, nachdem sie den Niedergang der US-amerikanischen Vormachtstellung registriert haben. Im Kern agieren sie als defensives Bündnis, das sich gegen eine Unterordnung unter die geopolitischen und wirtschaftlichen Vorgaben der führenden Weltmacht zur Wehr setzt.2
Die BRICS bilden eine eigenständige Ausrichtung abseits des dominierenden imperialen Systems und weisen alle Merkmale eines nicht-hegemonialen Bündnisses auf. Doch dieser Status allein bedeutet noch nicht, dass hier ein gegenhegemonialer Akteur mit alternativen Projekten auftritt.
Einige Analysten sehen die Eindämmung der militärischen Aggression der USA als wichtigste Aufgabe und zugleich größtes Verdienst der BRICS. Sie leiten daraus ab, dass die erweiterte Gruppe im gegenwärtigen Kontext eine progressive Rolle spielt.3
Diese Einschätzung stützt sich auf grundlegende Prinzipien einer linken Sichtweise auf die geopolitische Dynamik. Indem die BRICS den imperialen Militarismus eindämmen und seine Interventionen schwächen, tragen sie dazu bei, die Bedingungen für Volkskämpfe und soziale Errungenschaften zu verbessern. Sie liefern zwar selbst keine Lösungen für die Probleme, die der Kapitalismus verursacht, doch da sie mit den imperialen Fundamenten dieses Systems in Konflikt geraten, schaffen sie ein günstigeres Umfeld für den Kampf gegen eben dieses System.4
Bandung und die Blockfreien
Die BRICS bilden keinen antiimperialistischen Block wie jenen, der 1955 auf der Konferenz von Bandung entstanden ist. Die Unterschiede zu diesem historischen Vorläufer könnten kaum größer sein, und auch der erweiterte BRICS-Kreis lehnt jede Nähe zu diesem Bezugspunkt ab. Es ist wichtig zu betonen, dass sich kein Mitglied der BRICS mit dieser Pionierinitiative identifiziert – um unpassende Vergleiche zu vermeiden.5
Ein Blick auf die Führungspersonen der heutigen BRICS und jene, die damals in Bandung an der Spitze standen, reicht aus, um den gewaltigen Unterschied zwischen beiden Formationen zu erkennen. Putin, Lula oder Ramaphosa haben nichts mit Persönlichkeiten wie Nehru, Nasser oder Zhou Enlai gemein – und Politiker wie Modi oder Bolsonaro stehen ideologisch sogar im völligen Gegensatz zu diesen historischen Figuren. Dass selbst rechtsextreme Präsidenten ihre Länder während ihrer Amtszeit im BRICS-Verbund halten, zeigt eindrucksvoll, wie flexibel dieses Bündnis politisch ist.
Auch die direkte Zusammenarbeit neuer BRICS-Mitglieder wie Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Ägypten mit Israel zeigt deutlich, wie dieser Zusammenschluss einzuordnen ist.6 Solche engen Verflechtungen mit dem Imperialismus hatten beim Treffen von Bandung keinen Platz.
Die Konferenz von Bandung war ein Symbol des globalen Südens, bei der alle Teilnehmerländer eine ähnliche Position als abhängige Peripherien in der Weltwirtschaft teilten. Diese Gemeinsamkeit fehlt den BRICS heute völlig.
Heute vereint das BRICS-Bündnis ganz unterschiedliche Mitglieder: eine zentrale Wirtschaftsmacht wie China, die mit den USA um globale Vorherrschaft ringt, und zugleich mehrere Staaten der Semiperipherie, zwischen denen enorme wirtschaftliche Unterschiede bestehen – etwa zwischen Russland und Südafrika. Hinzu kommen klassische Beispiele für Länder der Peripherie, wie Äthiopien. Innerhalb der BRICS bestehen daher typische Abhängigkeitsverhältnisse: China verkauft Industriegüter an Brasilien und importiert von dort Rohstoffe. Solche Konstellationen gab es beim Treffen von Bandung nicht.7
Die BRICS sind kein antiimperialistisches Bündnis – es wäre sinnlos, ihnen diese Rolle anzudichten, um ihre Initiativen zu loben oder zu kritisieren. Ob ihr Handeln als fortschrittlich oder rückschrittlich bewertet wird, muss auf einer anderen Analyse basieren.
Ein Vergleich der BRICS mit der Bewegung der Blockfreien Staaten (Englisch Non-Aligned Movement, kurz NAM) bringt einige interessante Aspekte zutage. Zwar wurde diese Bewegung 1961 mitten im Kalten Krieg gegründet – offiziell mit dem Ziel der Neutralität im Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion –, doch in der Praxis entwickelte sie sich zu einem Bündnis, das sich gegen die militärische Aggression der USA stellte. Aufgrund der guten Beziehungen zum sozialistischen Block und der tiefen Konflikte mit dem Westen weist die Blockfreien-Bewegung gewisse Parallelen zu den BRICS auf.
Die Bewegung der Blockfreien Staaten vereinte sehr unterschiedliche ideologische Strömungen und umfasste Regierungen mit teils gegensätzlichen politischen Ausrichtungen. Sie stellte jedoch die wirtschaftliche Agenda in den Mittelpunkt. Die Bewegung entstand in derselben Epoche wie die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) – beide hatten das Ziel, die Entwicklung der Peripheriestaaten zu fördern und dabei die ausbeuterischen Praktiken der Zentren des Weltsystems in Frage zu stellen.
Die Parallele zu den BRICS liegt im wirtschaftlichen Ursprung dieses Bündnisses: Es entstand aus einem Streit über Patentzahlungen im Rahmen der WTO-Verhandlungen. Diese erste Geste der Eigenständigkeit mündete später in entwicklungspolitische Ansätze, die den heutigen Fünferblock mit den früheren Blockfreien Staaten verbinden.
In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts sind in Asien, Afrika und Lateinamerika erneut ähnliche Debatten über Industrialisierung aufgeflammt, wie sie bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts geführt wurden. Zwar unterscheidet sich die heutige Diskussion von früheren Zeiten, und die aktuellen neuentwicklungspolitischen Projekte weichen in vielerlei Hinsicht von den damaligen Ansätzen ab – dennoch bleibt das Thema im Kern dasselbe und prägt sämtliche wirtschaftspolitischen Initiativen der BRICS-Staaten.8
Antiimperialistische Neubewertungen
Es ist wichtig, die grundlegenden Unterschiede zwischen den BRICS und Bandung anzuerkennen, um naiven oder nostalgischen Denkweisen vorzubeugen.9 Die Parallelen, die gelegentlich mit dem „Geist von Bandung“ gezogen werden, sind vor allem als politisch-pädagogische Botschaften zu verstehen – sie sollen Ziele, Hoffnungen oder Projekte skizzieren. Sie stellen jedoch keine Diagnose der aktuellen Realität des BRICS-Bündnisses dar. Die Differenz zwischen beiden Bezugspunkten ist erheblich und macht direkte Analogien hinfällig. Dennoch kann der Vergleich Impulse für ein künftiges Programm oder eine alternative Entwicklungsperspektive liefern.10
Der Aufstieg der BRICS eröffnet vor allem die Chance, das Vermächtnis von Bandung neu zu entdecken, einzuordnen und sichtbar zu machen – als antiimperialistische Tradition von ungebrochener Aktualität für die Linke (Bruckmann, 2018). Nach Jahrzehnten neoliberaler Vorherrschaft und konterrevolutionärer Rückschläge, die darauf abzielten, zentrale Etappen des Widerstands der globalen Peripherie gegen imperialistische Unterdrückung in Vergessenheit geraten zu lassen, hilft Bandung, ein lange verdrängtes Kapitel linker Geschichte wieder ins kollektive Bewusstsein zu rücken.
Der Einfluss von Bandung war während der gesamten Phase von Aufständen und Befreiungskriegen im Zuge der Entkolonialisierung deutlich spürbar. Die Konferenz setzte soziale Forderungen und Entwicklungsziele auf die internationale Agenda und trug beispielsweise dazu bei, 1974 den Aufruf zu einer Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung (NIWO) zu formulieren. Diese Phase endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des sogenannten sozialistischen Blocks. Doch angesichts des Wiedererstarkens progressiver und radikaler Projekte – im offenen Gegensatz zur gegenwärtigen Welle der extremen Rechten – gewinnt das linke Erbe neue Bedeutung. Bandung ist ein wichtiger Teil dieser Erinnerung.
Niemand kann ernsthaft annehmen, dass sich die heutigen Mitglieder und Regierungen der BRICS in eine Fortsetzung von Bandung verwandeln könnten. Eine solche Vorstellung ist entweder eine Vereinfachung seitens der Apologet:innen des Blocks oder ein polemisches Argument seiner Kritiker:innen. Entscheidend ist vielmehr, dass sich ein günstiges Zeitfenster auftut, in dem sich – mit anderen Akteuren, anderen Subjekten und anderen Programmen als denen, die derzeit innerhalb der BRICS dominieren – für diese Perspektive kämpfen ließe.
Einige Analyst:innen weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die BRICS zwar das globale Kräfteverhältnis verschoben hätten, ohne jedoch dessen grundlegende Struktur zu verändern. Es stellt die bestehende Ordnung infrage, ohne sie zu sprengen oder zu überwinden.11 Doch allein schon seine Existenz bringt Risse in die internationale Architektur, wie sie auf dem Höhepunkt der Globalisierung noch undenkbar gewesen wären – und genau diese Erosion eröffnet Chancen zur Wiederbelebung eines populären Gegenprojekts.
Die Nutzung dieser neuen Bedingungen zur Stärkung der Linken ist ein komplizierter, vielfach umstrittener Prozess. Doch sie setzt zuallererst die Erkenntnis voraus, dass es erhebliche Unterschiede gibt zwischen den BRICS und jenem Gegner, der im Bündnis mit seinen Partnern von den Vereinigten Staaten angeführt wird.12
Zu erkennen, dass diese beiden Blöcke nicht gleichzusetzen sind, ist der Ausgangspunkt jeder sinnvollen Auseinandersetzung mit möglichen Verbindungen zwischen den BRICS und Bandung. Die Konferenz von Bandung war ein Meilenstein im Kampf gegen den US-Imperialismus – ein Kampf, der im 21. Jahrhundert nichts von seiner Aktualität verloren hat.
Das sozialistische Projekt
Die Bezugnahme auf Bandung im heutigen Kontext ist auch deshalb wichtig, um sich in Erinnerung zu rufen, was bei dieser Konferenz fehlte. Sie war ein Meilenstein im Widerstand gegen Kolonialismus und Imperialismus, doch die sozialen Ziele – die Überwindung von Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung, wie sie von vielen damaligen Führungspersönlichkeiten formuliert wurden – blieben unerfüllt. Stattdessen setzte sich der Kapitalismus fort, wurde gestärkt oder neu angepasst.
Das ist die zentrale negative Lehre aus dieser Erfahrung – sie ruft dazu auf, das Projekt von Bandung neu zu denken: als antikapitalistisches Vorhaben. Der „Geist von Bandung“ kann nur dann erfolgreich eingelöst werden, wenn er mit einer sozialistischen Perspektive verbunden wird.
Gerade im Jahr des 70. Jahrestags der Konferenz – und zugleich des 50. Jahrestags des Sieges der Revolution in Vietnam und des Falls von Saigon – ist es wichtig, sich an dieses unerledigte Kapitel zu erinnern.13
Die sozialistische Neudeutung von Bandung ist auch relevant für den heutigen Vergleich mit den BRICS. Alle Verlautbarungen der BRICS über Entwicklung und soziale Gerechtigkeit sind ohne Zweifel begrüßenswerte Ziele – doch ihre Umsetzung ist mit dem Kapitalismus nicht vereinbar. An diese Unvereinbarkeit sollte erinnert werden, gerade angesichts einer Vielzahl von Analysen, die dem gegenwärtigen System eine quasi ewige Existenz unterstellen.
Solche Sichtweisen begreifen das heutige Szenario oft nur als weiteres Kapitel in der ewigen Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus. Dabei wird vergessen, dass dieses System während des Finanzcrashs von 2008 ernsthaft infrage stand. Die bloße Existenz der BRICS ist zu einem erheblichen Teil der damaligen Überlebensfähigkeit des Kapitalismus geschuldet.
Radikale Initiativen
In der Linken wird derzeit diskutiert, ob die BRICS selbst Initiativen zugunsten der Bevölkerungen anstoßen können – oder ob solche Errungenschaften nur außerhalb dieses Rahmens erkämpft werden können.
Diese Debatte berücksichtigt, dass die meisten Regierungen innerhalb des Bündnisses – ob rechts, konservativ oder gemäßigt links – feindlich gegenüber sozialen Fortschritten eingestellt sind, solche nur ungern gewähren oder kaum in der Lage sind, sie umzusetzen. Gleichzeitig wird jedoch auch die Schwierigkeit anerkannt, Fortschritte zu erreichen, wenn man die zentrale Rolle jener Staaten ignoriert, die sich im Rahmen dieser Allianz zusammengeschlossen haben. Die Lösung dieses Dilemmas besteht darin, Programme zu entwickeln, die die Forderungen der Bevölkerung stützen – und Organisationen aufzubauen, die deren Umsetzung erstreiten.
Diese klassische Formel politischer Aktion lässt sich auch auf die BRICS anwenden. Da sie einen eigenständigen Block bilden, der im Konflikt mit dem imperialen Weltsystem steht, sollten sie zum Ziel sozialer, demokratischer und politischer Forderungen der sozialen Bewegungen werden. Diese Forderungen greifen die Anliegen auf, die auch auf der nationalen Ebene der BRICS-Staaten von Bedeutung sind – und verstärken sie zugleich.
Solche Formen der Vernetzung gibt es bereits: Die Geschichte der BRICS ist begleitet von sozialen Foren, die parallel zu den jährlichen Gipfeltreffen organisiert wurden. Die „BRICS von unten“-Versammlungen, die bei mehreren dieser Gipfel stattfanden, sind ein Beispiel für dieses Engagement.14 Sie ähneln den „Gipfeln der Völker“, die in Lateinamerika viele offizielle Treffen von UNASUR (Union of South American Nations ) oder CELAC (Community of Latin American and Caribbean States) begleitet haben.
Palästina steht im Zentrum der Forderungen, die im Vorfeld des nächsten BRICS-Gipfels laut werden. Zwei Mitglieder des Bündnisses haben die Verbrechen von Netanjahu bereits öffentlich verurteilt. Die Regierung Südafrikas drängt auf wirksame Sanktionen, während die brasilianische Regierung die Massaker und den Hungertod von Kindern scharf kritisiert. Eine Petition an Lula zum vollständigen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel macht bereits die Runde15 – und sollte auf alle Regierungen beim Gipfel in Rio ausgeweitet werden.
Gerade in diesem Bereich lassen sich Bezüge zur Konferenz von Bandung herstellen: Der Kampf gegen die südafrikanische Apartheid war eines ihrer zentralen Anliegen. Der heutige Zionismus ist die offensichtliche Fortsetzung eben jenes rassistischen Kolonialismus. Der Widerstand gegen dessen Verbrechen ist heute das bedeutendste Symbol demokratischer Solidarität.
Zustimmende Perspektiven
Viele wohlwollende Einschätzungen stellen die BRICS – in ihrer heutigen Konstellation – als Alternative zur historischen Vorherrschaft des Westens dar. Sie betonen die Anziehungskraft des Bündnisses auf Länder, die unter dieser Vormachtstellung gelitten haben, und heben hervor, dass die Gruppe Schritte unternimmt, um zum Motor einer neuen multipolaren Weltordnung zu werden.
Doch diese Darstellung beschränkt sich meist darauf, Unterschiede zum bestehenden System hervorzuheben, ohne den tatsächlichen Charakter der BRICS zu klären. Zu behaupten, das Bündnis sei „anders“ als die herrschende Ordnung, erklärt nicht, worin genau diese Neuerung besteht. Auch die bloße Beschreibung als „Gegengewicht zum Westen“ bleibt eine Momentaufnahme ohne tiefergehende Analyse.
Solche Einschätzungen werden dann aussagekräftiger, wenn sie auf die zunehmende Machtstreuung (Multipolarität) verweisen, die durch die BRICS entstanden ist – ein Gegengewicht zum imperialen System. Dieses neue Kräfteverhältnis schränkt die Fähigkeit der dominanten Mächte ein, große Teile der Weltbevölkerung zu unterdrücken. In diesem Sinne ist das Auftreten der BRICS durchaus ein hoffnungsvolles Ereignis – doch es reicht nicht aus, um die bestehende Weltordnung grundlegend zu verändern.
Positiv hervorgehoben wird auch die Kultur des Miteinanders innerhalb des Bündnisses – mit Staaten verschiedenster religiöser, kultureller und gesellschaftlicher Prägung.16 Manche deuten diese Koexistenz als Zeichen einer „Entwestlichung“ des 21. Jahrhunderts, im Einklang mit dem Niedergang der USA, der Stagnation Europas und dem Aufstieg Asiens. Die BRICS erscheinen so als Ausdruck einer „post-amerikanischen Welt“ im Entstehen.17
Doch auch dieser langfristige Blick bleibt die Antwort auf eine entscheidende Frage schuldig: Welche konkreten Vorteile bringt das erweiterte Bündnis für die Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt? Dass die BRICS ein Gegenspieler der globalen Unterdrücker sind, ist ein berechtigter Befund – doch unklar bleibt, ob und wie sie zur Linderung des Elends der Mehrheit beitragen könnten.
Um diese Frage ehrlich zu beantworten, muss man sich von naiven Idealisierungen verabschieden – und anerkennen, welch großes Gewicht innerhalb der BRICS-Regierungen extrem rechte (Indien), despotische Monarchien (Saudi-Arabien), brutale Diktaturen (Ägypten) oder autoritäre Regime (Russland) haben.
Ebenso stellt sich die Frage, inwieweit das Bündnis tatsächlich als Motor für Frieden, Entspannung und die friedliche Beilegung internationaler Konflikte fungiert. Zweifellos agieren die BRICS als defensiver Block gegenüber den imperialen Aggressionen der USA, Europas oder Israels. Sie unterstützen weder Blockaden noch Sanktionen oder die Missachtung nationaler Souveränität, wie sie vom Pentagon, dem US-Außenministerium oder der NATO propagiert werden.18
Doch jedes einzelne Mitglied dieses Gefüges betreibt zugleich eigene Machtpolitik, um seine regionale Vorherrschaft durchzusetzen. Sie lehnen zwar die Einmischung und Provokationen des US-Imperialismus ab, schrecken jedoch selbst nicht vor Übergriffen auf ihre Nachbarn zurück. Die jüngsten militärischen Aggressionen Indiens sind nur das aktuellste Beispiel für diese Widersprüchlichkeit.
Oft geht die Idealisierung der BRICS mit der Vorstellung einher, das Bündnis sei Ausdruck des Globalen Südens. Doch angesichts der äußerst variablen Verwendung dieses Begriffs ist es schwierig zu bestimmen, was genau er im Zusammenhang mit den BRICS bedeutet.
Die beiden Führungsmächte – China und Russland – nehmen keineswegs die Rolle benachteiligter Länder im Weltsystem ein. Beide stehen in einer offenen geopolitischen und wirtschaftlichen Konkurrenz zur westlichen Vorherrschaft und lassen sich kaum in die Kategorie „abhängiger Staaten“ einordnen. Auch die Einordnung von Regionalmächten wie Indien oder Brasilien als Teil des „Globalen Südens“ ist fragwürdig – sie spielen eine zunehmend aktive Rolle unter den sogenannten Schwellenländern.
Zudem widerspricht die interne Heterogenität des Bündnisses einer simplen geografischen oder entwicklungsbezogenen Einordnung. Wenn man den Begriff „Globaler Süden“ entlang der klassischen Zentrum-Peripherie-Dichotomie denkt, dann sind genau diese Abhängigkeitsverhältnisse auch innerhalb der BRICS-Gruppe deutlich sichtbar. Der Handel zwischen China und Brasilien etwa zeigt typische Muster asymmetrischer Austauschverhältnisse, wie sie von der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik oder der Dependenztheorie kritisiert wurden.
Die BRICS formieren sich in einer Phase der tiefgreifenden Neuordnung der globalen Arbeitsteilung. Diese Umgestaltung verschiebt auch die wirtschaftlichen und geopolitischen Positionen einzelner Länder. Bisher gibt es jedoch keinen schlüssigen theoretischen Rahmen – weder „Globaler Süden“ noch ein einfaches Klassenmodell (Kapitalisten vs. Lohnabhängige) – der dem realen Status dieses Bündnisses gerecht würde.
Was vor uns steht, ist ein Bündnis aus zwei Großmächten, zentralen Schwellenländern, rentenbasierten Ökonomien von globalem Gewicht und strategisch verorteten Peripherien. Eine begriffliche Fassung dieses komplexen Gefüges steht noch aus – sie erfordert eine nüchterne Analyse jenseits von Schönfärberei und Wunschdenken.
Ein Bündnis mit Potenzial – und Widersprüchen
Der Niedergang der Vereinigten Staaten erklärt den Aufstieg der BRICS. Sie bilden eine defensive Koalition gegen imperiale Aggression und könnten so bessere Bedingungen für den Kampf gegen den Hauptfeind der Völker schaffen. Zwar knüpfen sie nicht an den Antiimperialismus oder die Homogenität von Bandung an, weisen aber entwicklungsorientierte Parallelen zur Bewegung der Blockfreien auf. Ein verändertes globales Kräfteverhältnis kann dazu beitragen, das emanzipatorische Projekt mit neuen Akteuren und Regierungen neu zu beleben. Radikale Forderungen bei jedem Gipfeltreffen stärken einen Kampf, der antikapitalistische Perspektiven erfordert. Statt die BRICS vorschnell mit dem Globalen Süden gleichzusetzen, ist es sinnvoller, ihre Heterogenität ernst zu nehmen.
Dieser Artikel ist eine Übersetzung aus dem Spanischen. Weitere Texte von Claudio Katz auf seiner Webseite: www.lahaine.org/katz
- Wolff, Richard (2024). BRICS Breakthrough? Economists Richard Wolff & Patrick Bond on Growing Alliance, Challenge to U.S October 25, 2024, https://www.democracynow.org/2024/10/25/brics_summit_richard_wolff_patrick_bond ↩︎
- Halas, Garrett (2024). Multipolarity, BRICS+ & Socialism. Theorizing the Global Class Struggle. Aug 22, 2024, https://garretthalas.substack.com/p/multipolarity-brics-and-socialism ↩︎
- De Sousa Santos B, (2024). Tercera guerra mundial, los BRICS y la salvación del planeta, OtherNews, 3 janvier. https://ilsa.org.co/2024/01/la-negociacion-con-estados-unidos/ ↩︎
- Patnaik, Prabhat (2023). Behind BRICS Expansion, September 4, https://www.networkideas.org/news-analysis/2023/09/behind-brics-expansion/ ↩︎
- Prashad, Vijay (2023). On BRICS & Why Global South Cooperation Is Key to Dismantling Unjust World Order https://www.democracynow.org/2023/8/22/brics_summit_vijay_prashad ↩︎
- Bond, Patrick (2025). Tanto los BRICS como el resurgimiento de Bandung necesitan críticas duras, no sectas. https://www.cadtm.org/Both-the-BRICS-and-Bandung-revivalism-need-tough-critiques-not-quasi-cults ↩︎
- Delcourt, Laurent (2024). BRICS y África: ¿nueva alianza win-win o colonialismo newlook? https://vientosur.info/brics-y-africa-nueva-alianza-win-win-o-colonialismo-newlook/ ↩︎
- Katz, Claudio (2015). Neoliberalismo, Neodesarrollismo, Socialismo, Batalla de Ideas Ediciones, Buenos Aires ↩︎
- Vijay, Prashad: (2025a). Resurrection, Moats with George Galloway – EP 440, 19-4- April, https://www.youtube.com/watch?v=BK6IVPPKmcg ↩︎
- Vijay, Prashad (2025b). El “espíritu de Bandung” y el desarrollo industrial de Indonesia, nuevo miembro de los BRICS+ 16 abril, https://peoplesdispatch.org/2025/04/16/el-espiritu-de-bandung-y-el-desarrollo-industrial-de-indonesia-nuevo-miembro-de-los-brics/ ↩︎
- Prashad, Vijay (2023). On BRICS & Why Global South Cooperation Is Key to Dismantling Unjust World Order https://www.democracynow.org/2023/8/22/brics_summit_vijay_prashad ↩︎
- Desai, Radhika (2024). How can BRICS de-dollarize the financial system? 24-11-03
 https://geopoliticaleconomy.com/2024/11/03/brics-dedollarize-financial-system/ ↩︎
- Bello, Walden, Guttal Shamali (2025). Reivindicar el espíritu de la Conferencia de Bandung de 1955,11/05/2025, https://www.sinpermiso.info/textos/reivindicar-el-espiritu-de-la-conferencia-de-bandung-de-1955 ↩︎
- Bond, Patrick (2013). BRICS in Africa anti-imperialist, sub-imperialist or in between?,
 https://www.cadtm.org/IMG/pdf/Bond_CCS_Brics_booklet_22_March_2013 ↩︎
- Infobae (2025) Intelectuales y congresistas brasileños le piden a Lula romper relaciones con Israel https://www.infobae.com/america/agencias/2025/05/28/intelectuales-y-congresistas-brasilenos-le-piden-a-lula-romper-relaciones-con-israel/ ↩︎
- Garzón, Aníbal (2024): «Hoy el Sur Global ve a los BRICS como la única alternativa a un Orden Mundial diferente» https://www.nocierreslosojos.com/anibal-garzon-hoy-el-sur-global-ve-a-los-brics-como-la-unica-alternativa-a-un-orden-mundial-diferente/ ↩︎
- Vignolo, Walter (2023). Argentina. Los BRICS y el G-7 https://www.resumenlatinoamericano.org/2023/09/01/argentina-los-brics-y-el-g-7/ ↩︎
- Elbaum, Jorge (2024). Los BRICS y el ocaso de Occidente, 13-10, https://www.pagina12.com.ar/774256-los-brics-y-el-ocaso-de-occidente ↩︎
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