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Amerika 1. Oktober 2025

Alles soll ihnen zeigen, dass sie gejagt werden
von Dianne Feeley

Die Immigration and Customs Enforcement (ICE) ist die größte Polizei- und Zollbehörde der USA. Sie untersteht dem Heimatschutzministerium und ist das zentrale Instrument, um Millionen von Migrant:innen aus dem Land zu schaffen. Doch ihre Razzien stoßen auf massiven Widerstand.

Die meisten Amerikaner sehen Einwanderung als Bereicherung, glauben aber an einen »geordneten Prozess«. Tatsächlich war US-Einwanderungspolitik seit jeher diskriminierend. Bereits 1882 verbot der Chinese Exclusion Act chinesischen Arbeitern die Einreise und verweigerte ihnen die Staatsbürgerschaft.
Zuletzt verabschiedete der Kongress Ende Januar 2025 den Laken Riley Act: Das Gesetz schreibt die obligatorische Inhaftierung von Migranten – auch Minderjähriger – schon bei kleinsten Delikten vor. Zudem können Generalstaatsanwälte nun die Bundesregierung wegen ihrer Einwanderungspolitik verklagen.
Stephen Miller, Trumps Chefstratege, will jährlich eine Million Menschen abschieben. Am Ende der ersten 100 Tage meldete die Regierung 140.000 Abschiebungen, Experten halten nur die Hälfte für realistisch. Zum Vergleich: Barack Obama ließ in acht Jahren 3,1 Millionen abschieben, Biden im letzten Jahr 271.484.

Das Vorgehen der Behörden
Da die Südgrenze fast abgeriegelt ist, müssen nun Menschen abgeschoben werden, die längst hier leben: Nachbarn, Kolleg:innen, Familien. Rund vier Millionen warten auf ihre Asylverfahren, dürfen bis dahin arbeiten. Nur 600 von maximal 700 Richtern sind aktiv, viele wurden entlassen. Die Mehrheit der Asylanträge wird abgewiesen, doch selbst 44 Prozent Anerkennungen sind Miller zu viel.
Schutzprogramme wie Temporary Protective Status (TPS) und DACA hat Trump eingefroren. TPS betraf fast eine Million Menschen aus 17 Ländern, darunter Afghanistan und Haiti. ICE verhaftet inzwischen direkt in den Gerichtsgebäuden. Auch Greencard-Inhaber werden festgenommen – etwa zwei Doktoranden, die Israels Gazakrieg kritisierten. Selbst Flüchtlinge mit Tickets, denen die Einreise bereits zugesagt wurde, wurden durch Trumps Stopp blockiert.
Die bevorzugte Taktik: Festnahmen bei Routineterminen, am Flughafen, Arbeitsplatz oder bei Gerichtsterminen. Typisch ist der Fall von Max Londonio, einem Greencard-Inhaber. Er wurde nach einem Urlaub auf den Philippinen verhaftet. Der Vater von drei Kindern war als junger Erwachsener wegen Diebstahls verurteilt und später freigelassen worden – seine Gewerkschaft und seine Familie organisierten Proteste.
Ähnlich gelagert ist der Fall von Lue Yang, Ingenieur und Vater von sechs Kindern. Er ist seit seiner Festnahme am Arbeitsplatz in einem Internierungslager inhaftiert. Er wurde in einem Flüchtlingslager in Laos geboren und als Säugling in die USA gebracht. Als junger Erwachsener wurde er wegen Hausfriedensbruch verhaftet und verbüßte eine zehnmonatige Haftstrafe. Obwohl der Bundesstaat Michigan seine Vorstrafen löschte, gilt er der ICE als »Krimineller« und soll nach Laos abgeschoben werden.

Massenverhaftungen
ICE-Beamte nehmen Festnahmen lieber in öffentlichen Räumen vor als zu Hause – oft wenn die Person in einem Auto sitzt oder zu Fuß unterwegs ist. Das unterstreicht die Bedeutung gegenseitiger Hilfe: Wie können wir Fahrten zur Arbeit und zurück anbieten, Kinder zur Schule und zu Sportveranstaltungen begleiten und dafür sorgen, dass Essen im Haus ist?
Da ICE zunehmend unter dem Druck steht, das Ziel von 3000 Festnahmen pro Tag zu erreichen, wurden andere Bundesbehörden hinzugezogen. Dazu gehören die Zoll- und Grenzschutzbehörde (CBP), das Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives, die Drug Enforcement Administration (DEA), das FBI und der Internal Revenue Service. Die Trump-Regierung sich hat auch der Unterstützung einiger Bundesstaaten versichert: Bis Mitte April haben 184 Behörden in 28 Bundesstaaten 287 Kooperationsvereinbarungen unterzeichnet, um Nichtstaatsbürger an die ICE zu übergeben.
Die Aktivierung der kalifornischen Nationalgarde über die Köpfe des Gouverneurs und lokaler Beamter hinweg zeigt, wie zentral die Abschiebung für Trumps Agenda ist. Doch es gibt es einen offensichtlichen Widerspruch zwischen der Verhaftung von Beschäftigten und der Aufrechterhaltung des Landesbetriebs.
Im vergangenen Frühjahr wurden 125 Arbeiter in einem GE-Gerätewerk in Louisville, Kentucky, verhaftet; später tauchte die ICE in einem Kraft-Heinz-Werk in Holland, Michigan, auf. Beide Unternehmen berichteten anschließend von Produktions­chaos. Im Werk in Holland musste die verbleibende Belegschaft deshalb Überstunden schieben.
Dramatische Öffentlichkeit erlangten die Massenrazzien vom 6.Juni und die anhaltende Besetzung in Los Angeles (LA). Am ersten Tag nahm die ICE an drei Orten insgesamt 44 Personen fest, darunter David Huerta, Vorsitzender der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU California. Angeblich hatte er die Verhaftungen behindert. Am selben Tag führte die ICE eine Razzia in einem Fleischverarbeitungsbetrieb in Omaha durch und verhaftete 70 Arbeiter.
Die Razzien der ICE wurden zunächst unter dem Schutz der Polizei von Los Angeles durchgeführt; angesichts der massiven Proteste rief Trump dann fast 5000 Mitglieder der kalifornischen Nationalgarde zusammen und ordnete Verteidigungsminister Pete Hegseth an, 700 Marines zu mobilisieren.
Seitdem tauchen maskierte Bundesbeamte in ungekennzeichneten Autos in verschiedenen Filialen der Baumarktkette Home Depot, Autowaschanlagen, Restaurants und Schrottplätzen auf. Sie treten auch als schwer bewaffneter Trupp auf und marschieren provokativ durch öffentliche Anlagen. Die Aktion in LA kostete in den ersten 60 Tagen mehr als 134 Millionen Dollar. Es war der Versuch, die seit Jahrhunderten in LA lebende Latinogemeinde zu terrorisieren und eine Drohung gegen Einwanderergemeinden im ganzen Land.

›Freiwillige‹ Ausschaffung
In vielen Gemeinden formierte sich spontaner Widerstand: Nachbarn informierten einander, Aktivist:innen dokumentierten Übergriffe. Gegen sie wird immer häufiger repressiv vorgegangen:
Als am 10.Juli Beamte der ICE in Begleitung von Hubschraubern zwei Gewächshausfarmen in Camarillo, Kalifornien, überfielen, versammelten sich etwa 500 Menschen am Standort, um Informationen über ihre Angehörigen zu erhalten und gegen die Razzia zu protestieren. Beamte gingen mit Tränengas und Gummigeschossen gegen sie vor. US-Bürger wurden festgehalten und gezwungen, Handyaufnahmen zu löschen. Ein 57jähriger starb nach einem Fluchtversuch vom Dach. Es ist der erste dokumentierte ICE-Todesfall.
Massenrazzien am Arbeitsplatz sind problematisch, denn sie mobilisieren Widerstand. Schätzungsweise mehr als 40 Prozent der Erntehelfer sind »ohne Papiere«, in der Milchwirtschaft wahrscheinlich sogar noch mehr. Experten gehen davon aus, dass jährlich mehr als eine Million junge Einwanderer benötigt werden, um die US-Wirtschaft auf ihrem derzeitigen Niveau zu halten.
Nach einer Razzia bleiben schätzungsweise 30 bis 70 Prozent der Arbeitskräfte zu Hause. Einige kleine Unternehmen mussten bereits schließen. Schließlich brauchen sie eine konstante Arbeitskraft. Nicht nur die Landwirtschaft ist jetzt mit dramatischem Arbeitskräftemangel konfrontiert, auch das Baugewerbe, das Gastgewerbe, die Fleischverarbeitung und die Gastronomie. Landwirte, Hotelbesitzer und andere Unternehmensverbände haben sich bei Trump beschwert. Danach schlug er vor, die Razzien in diesen Branchen auszusetzen, das geschah allerdings nur vorübergehend.
Deutlich wurde jedoch, dass mit Razzien allein die Ausweisungsziele nicht erreicht werden können. Die Regierung verfolgt deshalb einen groß angelegten Plan, Migrant:innen so lange zu terrorisieren, bis sie einer »freiwilligen Rückkehr« zustimmen. Dafür werden ihnen 1000 Dollar versprochen, wenn sie in ihrer Heimat angekommen sind. Das ist billiger als eine Abschiebung, die durchschnittlich 17.000 Dollar kostet.
Die Maßnahmen sind vielfältig, sie reichen von einer 3 Millionen Dollar schweren Anzeigenkampagne über die Verweigerung von Sozialleistungen für Kinder in Familien mit gemischtem Status bis hin zur Inhaftierung in überfüllten Haftanstalten, in denen die Betroffenen keinen Zugang zu einem Anwalt haben. Trump hat angeordnet, dass jeder, der »illegal« ist, in »obligatorische Haft« genommen werden muss, was bedeutet, dass er nicht gegen Kaution freigelassen werden kann. Alles soll Migrant:innen zeigen, dass sie gejagt werden.

Quelle: Against the Current, September/Oktober 2025; von der Redaktion gekürzt.

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