Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Flucht/Migration 1. Dezember 2025

Die herrschenden Erzählungen sind die Erzählungen der Herrschenden
von Angela Klein und Wolfgang Pomrehn

Erinnerungskultur ist vielfältig. An wen, an was, für welchen Zweck, mit welchen Mitteln wird erinnert? Erinnern und das damit verbundene Ritual des »Gedenkens« haben mit Gedächtnis, aber auch mit Nachdenken zu tun. Dann spielt auch das Vergessen eine Rolle: Was wird weshalb, zu wessen Gunsten weggelassen? An diesem Punkt geht es um Verdrängen, Aufklären, Aufarbeiten, Schuld und Verantwortung.

Erinnern ist ein persönlicher, sozialkultureller und nationaler Prozess. Die ausgewählten Erinnerungen stärken die Identität einer Person oder Gruppe und diese stärken wechselweise die Erinnerungen. So erklären Kulturwissenschaftler:innen, warum etwas überlebt und anderes wegbleibt. In einer patriarchal-nationalen Klassengesellschaft wird die herrschende Erinnerung von der Zugehörigkeit zur Klasse, Geschlecht, Religion, Ethnie bestimmt.
Der französische Soziologe Maurice Halbwachs formuliert: »›Kollektives Gedächtnis‹ heißt, dass jeder Mensch nicht nur für sich, sondern auch für andere erinnert. Erinnern ist damit immer eine Rekonstruktion von Vergangenheit in der Gegenwart fu?r die Zukunft.«
Kollektives Gedächtnis nutzt die Übertragungsmedien: archäologische, mündliche oder schriftliche Überlieferungen, wiederholte Riten der Religionen und die Schrift sind die Werkzeuge der Erinnerung. Die Aneignung des kulturellen Gedächtnisses geschieht durch die hegemoniale Propaganda, Teilnahme an Riten aber auch durch das Stadtbild, Architektur, Denkmäler, Museen, Straßennamen u.a. Neuzeitig sind digitale Möglichkeiten von Fotografie, Film bis zum PC und nicht zuletzt zur künstlichen Intelligenz dazu gekommen.
Der vorliegende Schwerpunkt befasst sich mit dem Nicht-erinnern-Wollen der Lebenswirklichkeit insbesondere von Migrant:innen in Deutschland.

Der November ist in Deutschland der Erinnerungsmonat schlechthin:
– am 1.11. gedenken die Kirchen und die Gläubigen ihrer Heiligen;
– am katholischen Gedenktag Allerseelen, dem 2.11., besucht man die Gräber seiner toten Verwandten, das evangelische Pendant ist der Totensonntag (letzter Sonntag vor dem 1.Advent);
– der 9.11. ist gleich dreifach besetzt: als Beginn der Novemberrevolution, Sturz des Kaiserreichs und Ausrufung der Republik; als Datum des antisemitischen Wütens der Nazis in der Reichspogromnacht 1938; und schließlich als der Tag, an dem 1989 die Mauer fiel;
– und da ist noch der 23.11. – was war da noch? Es ist der Tag, an dem wir des Brandanschlags in Mölln 1992 gedenken sollten…
Doch dieses Datum ist schon fast aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt, ganz so wie das offizielle Deutschland nicht gerne an seine revolutionäre Vergangenheit erinnert werden möchte. Nicht an die Bauernkriege, nicht an die 48er Revolution, nicht an Novemberrevolution, Räterepubliken und Rote Ruhrarmee, nicht an den Arbeiter:innen-Widerstand gegen den Faschismus. Wie zur Bestätigung hat der Kulturstaatsminister Weimer gerade ein Gedenkstättenkonzept vorgelegt, in dem Kolonialismus nicht vorkommt, seine Verbrechen hätten nicht auf deutschem Boden stattgefunden und die Opfer seien nicht Deutsche gewesen.
Was wir als gesellschaftliches Kollektiv erinnern und was wir vergessen, hängt davon ab, was Politik, Medien und Kulturbetrieb in Erinnerung halten – oder auch nicht, und was sie uns vergessen machen möchten. Das ist keinesfalls eine Nebensächlichkeit, denn das Erinnern, das Vergangene ist ein wichtiger Teil unseres gegenwärtigen Lebens, was wir nicht erinnern, existiert für uns nicht. Erinnern formt individuelle und kollektive Identitäten, stellt Gemeinschaften her oder gaukelt uns diese vor.
Erinnerungskultur ist daher ein mächtiges Instrument in den Händen von Herrschenden. Sie spielt für ihre kulturelle Dominanz eine zentrale Rolle. Frei nach Gramsci konsolidiert die herrschende Klasse ihre Macht nicht primär durch Gewalt, sondern vor allem durch die Produktion von zustimmungsfähigen Ideen und die Kontrolle der Kultur. Dazu gehören aber ganz wesentlich die Interpretation historisch zurückliegender Ereignisse als Begründung für die Legitimation gegenwärtiger Zustände, und die Manipulation der Bearbeitung gegenwärtiger Ereignisse, um die Interpretation in die gewünschte Richtung zu lenken.
Deutschland ist ein Land, das viele tiefe historische Brüche erlebt hat. Seine geschichtliche Erzählung ist deshalb weitaus umstrittener als in manchen Nachbarländern. Die (Selbst)-Vergewisserung über die Festigkeit des vorherrschenden Narrativs ist umso wichtiger. Gedenktage begleiten uns das ganze Jahr hindurch, angefangen mit dem 27., wahlweise dem 30.Januar; dem 3.Oktober; dem 23.Mai und allen voran dem 9.November, der, gleich dreifach und sehr widersprüchlich besetzt, der Schicksalstag überhaupt in der neueren deutschen Geschichte ist.
An diesem Datum lässt sich die Manipulation von Erinnerung so gut wie nirgend sonst ablesen: Nicht umsonst legten die Nazis ihren ersten, gescheiterten Putsch 1923 auf den 9.November, und auch für ihr Pogrom 1938 wählten sie mit Bedacht den 9.November, um das in der Arbeiterbewegung verwurzelte Gedenken an die Novemberrevolution zu überspielen.

Erinnern schafft Geschichte
Neben diesen offiziellen Tagen gibt es, gewissermaßen als blutigen Fußabdruck der Berliner Republik, seit 1990 die Gedenktage der hier heimisch Gewordenen mit türkischen, kurdischen, russischen, polnischen, arabischen und anderen Wurzeln, die wieder und wieder den Preis für die wiedergefundene, immer noch brüchige nationale Einheit bezahlt haben und bezahlen. Die Blutspur des rassistischen Terrors zieht sich bis heute: Mölln 23.November 1992; Hoyerswerda 25.Februar 1993; Solingen 29.Mai 1993; Siegburg 15.Juni 1993; Stuttgart 16.März 1994; Lübeck 18.Januar 1996; Köln 9.Juni 2004; Ludwigshafen 3.Februar 2008; München 22.Juli 2016; Hanau 19.Februar 2020; Solingen 25.März 2024; die NSU-Morde 2000–2006 – um nur die Taten mit den meisten Opfern zu nennen.
Diese Daten haben es nicht in die Liste der bundesdeutschen Gedenktage geschafft, genauso wenig wie Gedenktage der Ostdeutschen – etwa der 8.Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus 1945, der es verdiente, ein gesamtdeutscher Gedenktag zu sein.
Im herrschenden Umgang mit Ostdeutschen und Migrant:innen gibt es Gemeinsamkeiten. Das Gedenken an die Morde an Flüchtlinge und Migrant:innen wird in den Massenmedien zum größten Teils schlicht ignoriert, selbst die betroffenen Stadtverwaltungen, denen ein friedliches Zusammenleben der Bewohner:innen ein Anliegen sein müsste, zeigen am Erinnern kein Interesse.
Zum Teil müssen die Opfer und ihre Angehörigen sogar darum kämpfen, dass sie nicht zu Tätern oder Drahtziehern erklärt werden. Zum größten Teil aber wird die Erinnerung an diesen sichtbarsten Teil ihrer deutschen Geschichte durch Beschweigen vernebelt – dem Vergessen anheimgegeben. Und da sie in den Reihen der Eliten kaum auftauchen, bleibt dieser wachsende Teil der deutschen Bevölkerung geschichtslos.
Das ist auch beabsichtigt, ihr Beitrag zur deutschen Geschichte soll nicht erinnert werden, denn sie gelten über Generationen hinweg als Fremde. Schon gar nicht ist es gelitten, dass sie Sprache, Literatur und Geschichte ihrer Heimatländer hier pflegen. Dabei betrug allein der Anteil der Menschen ohne deutschen Pass an der Gesamtbevölkerung in 2024 14,5 Prozent; dazu kamen nochmal 15,7 Prozent von Menschen mit Migrationshintergrund mit deutschem Pass. Zusammen fast ein Drittel der Bevölkerung.

Entmündigt und ausgeschlossen
Das Verdikt der Geschichtslosigkeit trifft auch die Ostdeutschen – aber aus anderen Gründen. Ihrer Geschichte und ihrem früheren Leben wurde nach 1990 geradezu der Krieg erklärt: Statuen, zentrale Gebäude wie der Palast der Republik abgerissen; Straßennamen zu Hunderten ausgewechselt, manchmal zugunsten alter Nazi-Größen; Bücher bibliotheksweise auf die Straße geworfen. Wichtige Erinnerungsorte wurden aus dem Stadtbild getilgt und dafür reaktionäre Reminiszenzen an Preußens Militarismus wiedererrichtet wie das Berliner Stadtschloss oder die Potsdamer Garnisonskirche. Und nicht zu vergessen: die Planierraupe »Aufbau Ost«, die das alte Straßenbild unkenntlich gemacht, sozusagen sterilisiert hat.
Jede Erinnerung an die letzten 41 Jahre DDR musste ausradiert werden, denn sie ist zugleich eine Erinnerung daran, dass es einmal eine – aus unsere Sicht höchst unperfekte – reale Alternative zur Bundesrepublik gab, einen Versuch, eine nichtkapitalistische Gesellschaft zu schaffen. Um jeden Preis soll verhindert werden, dass kollektiv darüber nachgedacht wird, was man hätte besser machen können. Allein dass es einen Vergleichsmaßstab geben könnte, darf nicht sein. Es muss Tabula rasa herrschen, der Westen muss, vom Himmel herabgestiegen, als »alternativlos« erscheinen. Über Kapitalismus darf nicht nachgedacht werden, schon gar nicht über die Geschichte der Versuche, ihn zu beseitigen.
Ist der Beweggrund für das Verbannen migrantischer Lebensläufe ein rassistischer, so ist der Beweggrund für das Auslöschen jeder Erinnerung an die DDR ein antikommunistischer. Die Auswirkungen sind hingegen sehr ähnlich. Denn die beschriebene, herrschende Geschichtspolitik soll unter anderem auch die krasse soziale Ausgrenzung der betroffenen Bevölkerungsteile rechtfertigen und reproduzieren. Einwanderer wie Ostdeutsche werden dauerhaft in eine Rolle als Bürger zweiter Klasse gedrückt.
Die Mechanismen dafür sind vielfältig: Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung wird im Osten noch durchschnittlich 22,5 Prozent weniger als im Westen verdient. Das mittlere Vermögen in Westdeutschland betrug im Jahr 2023 103.000 Euro, in Ostdeutschland 36.000 Euro. Ostdeutsches Kapital- und Anlagevermögen liegt fast vollständig in westdeutscher Hand; beim Immobilienbesitz ist es mehr als die Hälfte.
Der Anteil der Ostdeutschen an der Bevölkerung beträgt 16,7 bis 20 Prozent, ihr Anteil an Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Medien, Jurisprudenz und Wirtschaft jedoch durchschnittlich nur 1,7 Prozent.
Beides verweist auf einen gemeinsamen Sachverhalt: Es gibt in Deutschland eine innere Kolonisierung, von der annähernd die Hälfte der Bevölkerung betroffen ist, die über das übliche Lohnarbeitsverhältnis hinaus benachteiligt wird.

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