Israels langgehegte Pläne für die Aufteilung des Nahen Ostens
von Gilbert Achcar
Gilbert Achcar hat mehrfach darauf hingewiesen, dass Israel »auf eine Eskalation der Gewalt hofft, um sie zu nutzen«. Die Einnahme von Gaza entspricht einem mehrfach verkündeten bewussten Plan. Israels andere Angriffe in der Region, insbesondere gegen die Nachbarstaaten und zuletzt gegen Syrien, wirkten zunächst nicht, als seien sie einem Plan entsprungen. Achcar erklärt im folgenden Beitrag, warum auch diese Angriffe »nach Plan« laufen.
Der Plan scheint der Fantasie von Anhängern der Verschwörungstheorie entsprungen zu sein, doch das wichtigste Dokument, das ihn enthüllt, ist alles andere als Fiktion. Es handelt sich um die Tagebücher von Moshe Sharett (1894–1965), einem der Gründer des Staates Israel und dessen zweitem Premierminister, nachdem David Ben Gurion Ende 1953 von dem Amt zurückgetreten war, das er zwei Jahre später wieder übernehmen sollte.
Die Papiere von Sharett, der als eine der »Tauben« im israelischen Establishment galt, sind Notizen, die er zwischen 1953 und 1957 zu seinem privaten Gebrauch schrieb (sie waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt). Die Notizen wurden 1979 in acht Bänden auf hebräisch veröffentlicht.
Livia Rokach, eine israelische Journalistin, die in den 60er Jahren als Korrespondentin für den israelischen Rundfunk arbeitete, bevor sie zu einer Kritikerin des zionistischen Regimes wurde (sie beging 1984 Selbstmord), las diese Bände akribisch durch. Sie machte deren schwerwiegendste Enthüllungen durch Auszüge bekannt, die sie ins Englische über-setzte und in einem Buch kommentierte, das Anfang der 80er Jahre erschien und von der Association of Arab-American University Graduates (AAUG) herausgegeben wurde. Deren Mitbegründer und Vorsitzender war Naseer Aruri (1934–2015), ein führender palästinensischer Intellektueller und politischer Aktivist. Aruri schrieb ein Vorwort zu dem Buch, dem ein Geleitwort von Noam Chomsky voranging.
Sharetts Tagebücher enthüllten viele Themen, die innerhalb der Machtelite des zionistischen Staates diskutiert wurden.
Dazu gehörten Pläne, den Süden Syriens zu besetzen, einen maronitischen Staat im Libanon zu errichten, den Gazastreifen der ägyptischen Kontrolle zu entziehen (unter der er bis zu seiner Besetzung durch Israel 1967 stand) und die palästinensischen Flüchtlinge, die aus dem 1948 vom zionistischen Staat beschlagnahmten Land stammten, aus allen Gebieten zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer zu vertreiben – angefangen mit der Vertreibung der palästinensischen Flüchtlinge aus dem Gazastreifen auf ägyptisches Territorium.
Eine Strategie für Israel in den 80er Jahren
1982 veröffentlichte die AAUG ein weiteres zionistisches Dokument, das von Israel Shahak (1933–2001), Professor für Chemie an der Hebräischen Universität Jerusalem, ins Englische übersetzt und mit Anmerkungen versehen wurde.
Shahak war ein Überlebender des Völkermords der Nazis an den europäischen Juden. Er wurde zu einem der prominentesten jüdischen Kritiker des Zionismus und war Leiter der israelischen Liga für Menschen- und Bürgerrechte.
Das Dokument, ein Artikel, der im Februar 1982 in einer zionistischen Zeitschrift veröffentlicht wurde, wurde später als »Yinon-Plan« bekannt, benannt nach seinem Autor Oded Yinon, einem hohen Beamten des israelischen Außenministeriums und ehemaligen Berater von Ariel Sharon, der einer der wichtigsten Führer der damaligen zionistischen extremen Rechten war. Sharon führte die Aufsicht über die Besetzung des Libanon 1982 als Kriegsminister in der Regierung von Menachem Begin, der ersten von der rechtsextremen Likud-Partei geführten Regierung in der Geschichte des Staates Israel.
Unter dem Titel »Eine Strategie für Israel in den 1980er Jahren« beschrieb Yinons Artikel einen Plan, der die Errichtung eines koptischen Staates in Ägypten vorsah, was zur Teilung Ägyptens, und diese wiederum zur Teilung des benachbarten Sudan und Libyens führen würde.
Der Plan enthielt auch die Aufteilung des Libanon, Syriens und des Irak in Gebilde, die auf konfessionellen und ethnischen Grundlagen basierten (einschließlich eines Drusenstaats in Syrien, dem nach Yinons Vision die Golanhöhen hätten angegliedert werden können). Außerdem sollte den Palästinensern die Kontrolle über Jordanien zugesprochen und auf diese Weise der Weg für die Umsiedlung aller anderen Palästinenser vom West- zum Ostufer des Flusses freigemacht werden.
Die Chance und die Hindernisse
Die Erinnerung an dieses alte zionistische Projekt ist in den letzten Jahrzehnten verblasst, da es mit der Entscheidung der USA kollidierte, die Aufteilung der Landkarte der Region so beizubehalten, wie sie sich aus der europäischen Kolonialherrschaft nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg ergeben hatte. (Es sei jedoch angemerkt, dass es an Befürwortern einer Teilung des Irak aus zionistischer Perspektive während der Besetzung des Landes durch die USA nicht mangelte.)
Der Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft und Politik, der unter der derzeitigen Regierung von Netanyahu einen Höhepunkt erreicht hat, hat das Projekt wiederbelebt und ihm erheblichen Auftrieb gegeben.
Die Regierung Netanyahu nutzte die Gelegenheit der Operation »Al-Aqsa-Flut«, die die Hamas am 7. Oktober 2023 startete, um nicht nur die Bewohner von Gaza, sondern alle Teile des palästinensischen Volkes, die zwischen dem Fluss und dem Meer leben, anzugreifen. Er griff auch den Libanon, Syrien und den Jemen an, drei Länder, in denen es Bürgerkriege gab oder noch gibt, die auf konfessionellen Spaltungen beruhen.
Der Irak, das vierte Land in einer ähnlichen Situation, blieb bislang von direkten israelischen Aggressionen verschont, seit die USA dort seit 1991 den Staat zerstört und dann seit 2003 versucht haben, ihn auf der Grundlage von »Teile und herrsche« wieder aufzubauen. Ganz zu schweigen von der de facto Teilung Libyens, des Sudan und des Jemen.
Im Ergebnis sind die Bedingungen im arabischen Osten nun günstiger denn je, um eine Teilung dieser Staaten aus zionistischer Perspektive zu vollziehen – insbesondere in den drei Ländern, die dem zionistischen Staat geografisch nahe stehen: Libanon, Syrien und Irak. Das derzeitige Verhalten Israels gegenüber Syrien und dem Libanon ist eindeutig in diesem Kontext zu sehen.
Es steht allerdings im Widerspruch zu den Interessen der arabischen Staaten, die Einfluss auf Washington haben – also der reichen Golfstaaten – sowie des türkischen Staates, die alle bestrebt sind, eine solche die gesamte Region hochgradig destabilisierende Teilung zu verhindern. Dieser Widerspruch hat nun seinen Höhepunkt erreicht und ist der Grund, warum die Trump-Regierung sich mit dem Verhalten ihres israelischen Verbündeten insbesondere gegenüber Syrien unzufrieden gezeigt hat.
Quelle: https://blogs.mediapart.fr/gilbert-achcar/blog/230725/renaissance-du-projet-sioniste-de-fragmentation-de-l-orient-arabe.
Der Autor ist emeritierter Professor der SOAS, University of London.
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