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Buch 1. Mai 2024

Wie Ausbeutung der Arbeit und Zerstörung der Natur zusammenhängen
von Matthias Becker

Simon Schaupp: Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten. Berlin: Suhrkamp, 2024. 417 S., 24 Euro

»Die Arbeit ist ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.« Das berühmte Zitat eines gewissen Karl Marx verweist darauf, dass keine Theorie der Umweltzerstörung vollständig ist (oder auch nur aussagekräftig), wenn sie die Arbeit nicht berücksichtigt.
Wenn Menschen arbeiten, dann eignen sie sich Natur an, formen sie um, benutzen und verbrauchen sie. So setzen sie die Stoff- und Energieströme in Bewegung und lenken sie, möglicherweise in die falsche Richtung. Jede Gesellschaft steht mit der Natur in einem Stoffwechsel.
In kapitalistischen Gesellschaften ist es Lohnarbeit, die diesen Prozess in Gang hält. Dennoch taucht dieser Umstand in der politisch-ökologischen Debatte selten auf. Meist stehen individuelle Konsumentscheidungen im Mittelpunkt, Fleischverzicht, Flugscham, der individuelle ökologische Fußabdruck.
Ganz falsch, findet Simon Schaupp: »Wenn wir die Ursachen der ökologischen Krise verstehen wollen, müssen wir die Arbeitswelt, die dem Konsum stets vorgelagert ist, ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken.«
In Stoffwechselpolitik. Arbeit, Natur und die Zukunft des Planeten versucht der Soziologe eben das. Außergewöhnlich daran ist, dass die Natur in diesem Buch nicht als bloßes Arbeitsmaterial auftaucht, das sich nach Belieben formen lässt, sondern als eine prägende, wirkmächtige Kraft. Die Energiedichte von Kohle und Öl, die biologischen Eigenschaften von Baumwolle oder das Jagdverhalten von Stechmücken bestimmen mit, wie die Produktivkräfte sich weiterentwickeln.
Natürlich ist »die Natur« kein strategisch planendes Subjekt, sie ist, wie Schaupp formuliert, »autonom, aber nicht handlungsfähig«. Dennoch kommt sie dem Kapital immer wieder in die Quere – und sei es nur, weil die unteren Klassen manches zu ihrem Vorteil nutzen.
Stoffwechselpolitik ist eine Pionierarbeit, mit der der Soziologe in unbekanntes Gebiet vorstößt. Simon Schaupp greift Ideen von Marx, Klaus Dörre, Kohei Saito, Andreas Malm und vielen anderen auf, aber er entwickelt eine ganz eigene Theorie. Dazu geht er zurück in der Geschichte der industrialisierten Arbeit, bis zur ursprünglichen Akkumulation in Westeuropa und den Kolonien, und erzählt sie neu, um der Rolle der Natur gerecht zu werden.
Sein Buch verbindet Gesellschaftstheorie und Geschichtsschreibung. Auf über 400 Seiten geht es um die Kolonisierung der Karibik, die Industrialisierung der Fleischproduktion in den Vereinigten Staaten und die Ernährungsgewohnheiten der Bergarbeiter im Ruhrgebiet. Er behandelt Infektionskrankheiten, Lebensmittelmärkte, die japanische Bauindustrie und ihre Sucht nach Beton und Zement und vieles andere mehr.

Labour turn
Trotz dieser Fülle von Aspekten verfolgt Simon Schaupp ein klares Programm: Er analysiert die Ursachen für die Zerstörungskraft der industriellen Arbeit. Auch, um sie zukünftig einzuhegen.
»Arbeit und Natur stehen in einem Verhältnis unauflöslicher Wechselwirkungen zueinander«, erklärt er. »Damit wird die Arbeit zu einem zentralen Ort für die Entstehung der ökologischen Krise und möglicherweise auch für ihre Überwindung.«
Dass Stoffwechselpolitik aus der akademischen Diskussion stammt, ist unübersehbar. Es zeigt sich an der großen Zahl von Begriffsneuschöpfungen wie »differentielle Nutzbarmachung«, »Re/Produktionskräfte«, »Steuerungsverhältnisse«, mit denen Schaupp das Verhältnis von Natur und Arbeit beschreibt, auch an der sorgsamen Abgrenzung von dieser oder jener Theorie.
Andererseits verarbeitet er eigene Forschung über das Umweltbewusstsein von Bauarbeitern, die einiges Überraschende zutage fördert und gerade Klimaaktivisten inspirieren könnte. Simon Schaupps Theoriebildung ist niemals Selbstzweck.
Die Klimabewegung tritt auf der Stelle. Ihre bisherigen Aktionsformen – Appelle, Proteste und Besetzungen – breiten sich nicht aus und bringen kaum Erfolge. Die Hoffnung, die Parteien in den Parlamenten vor sich hertreiben zu können, wirkt immer illusionärer.
Eine Strömung der Klimabewegung will sich der Arbeiterklasse zuwenden, schon deshalb, weil die Rechte die Interessen der unteren Einkommensgruppen demagogisch gegen Klimaschutzmaßnahmen in Stellung bringt. Für die proletarische Wende der Klimabewegung steht das Schlagwort »labour turn«, das immer häufiger zu hören ist, allerdings kaum konkret gefüllt und kaum praktisch umgesetzt wird. Die Arbeiter:innen und Gewerkschaften selbst entfalten bisher kaum Initiativen für eine Arbeitspolitik der Nachhaltigkeit (oder auch eine ökologisch nachhaltige Arbeitsverweigerungspolitik).
Wie können Umweltschutz und Sozialismus von unten zusammenkommen? »Stoffwechselpolitik« liefert viele Anregungen und reichlich Stoff, um darüber nachzudenken.

Ausführliches Online-Interview auf: www.futurehistories.today/episoden-blog/.

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