Eine neue Bedrohung für Kartoffeln und Rüben
von Matthias Becker
Die Erzeuger von Zuckerrüben und Kartoffeln fürchten sich vor einem neuen Schädling: Die Schilf-Glasflügelzikade profitiert von den klimatischen und ökologischen Veränderungen, aber auch von den hausgemachten Problemen der kapitalistischen Landwirtschaft.
Das Insekt ist kaum so groß wie ein Fingernagel, mit einem etwas eckigen Kopf, kugelrunden Augen und dünnen durchsichtigen Vorderflügeln. Ihnen verdankt sie ihren Namen. Die Schilf-Glasflügelzikade (Pentastiridius leporinus) ist hübsch, aber sie versetzt gegenwärtig die Landwirte in Angst und Schrecken. Dabei galt diese Art noch vor wenigen Jahren als vom Aussterben bedroht und steht immer noch auf der Roten Liste.
Aber während die Populationen anderer Insektenarten zusammenbrechen, breitet sich diese Zikade nun immer weiter aus und bringt bakterielle Pflanzenkrankheiten mit.
Ihren überraschenden Erfolg verdankt die Zikade einer Mischung aus äußeren Umwelteinflüssen und eigener Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Einerseits profitiert sie von der Klima- und Biodiversitätskrise. Immer längere, trockene Sommer und milde Winter sind günstig für sie. Die weiblichen Zikaden legen im Sommer ihre Eier unter die Oberfläche des Ackerbodens, in der Nähe von Rüben und Wurzeln. Ihre Larven, auch Nymphen genannt, leben nach dem Schlüpfen unter der Erde und ernähren sich während des Winters von unterirdischen Pflanzenteilen, an denen sie saugen. Wenn die Zikaden im Frühsommer ausgewachsen sind, klettern sie an die Oberfläche und fliegen auf. Je länger Frost ausbleibt, um so stärker vermehren sich diese Insekten. Es können sogar zwei Generation innerhalb eines Jahres entstehen.
Wegen der steigenden Temperaturen wandert der Schädling seit 2008, als der erste Befall in Deutschland berichtet wurde, immer weiter nach Norden. Möglicherweise wachsen die Populationen auch deshalb, weil einige ihrer natürlichen Feinde (Wanzen, Spinnen, Ameisen, Vögel) seltener werden. Andererseits ist die Glasflügelzikade nicht wählerisch, wenn es um Nahrung geht. Zunächst fraß sie Zuckerrüben, dann Kartoffeln und Pastinaken, mittlerweile auch Spargel, Karotten und Bete. Das Gemüse infiziert sie mit Bakterien, die SBR und Stolbur, Krankheiten der Zuckerrübe, verursachen. Das Gemüse wird dann lasch und biegsam, die Blätter welk und schmal. Befallene Zuckerrüben werden anschaulich »Gummirüben« genannt. Sie enthalten nur noch halb so viel Zucker. Kartoffeln und Pastinaken sind nur noch als Tierfutter oder überhaupt nicht mehr zu gebrauchen.
Die Eindämmung ist schwierig
Schon 2024 bauten der Deutsche Bauernverband (DBV) und die Agrarindustrie Druck auf, um zusätzliche Insektizide gegen den Schädling einsetzen zu dürfen. Nach einem Treffen im Januar 2025 im Bundeslandwirtschaftsministerium beklagte die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rübenbauverbände (ADR), dass die Behörden Notfallzulassungen verweigerten. Die »Grundversorgung der Bevölkerung mit heimischen Lebensmitteln« sei gefährdet. Der Agrarunternehmer und Präsident des DBV Joachim Rukwied kritisiert die angeblich »zögerliche Haltung« des Ministeriums.
Wenige Wochen später kamen die gewünschten Notfallzulassungen von Insektiziden, darunter auch einiger Neonicotinoide. Die Nervengifte werden von Pflanzen und im nächsten Schritt von Insekten aufgenommen, die sie berühren oder fressen. Neonicotinoide verbreiten sich über Boden, Wasser und Beikräuter und töten unspezifisch Insekten, beispielsweise Bienen. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) glaubt, dass die Insektizide auf über 125.000 Hektar gespritzt werden. Wegen der Abdrift seien aber tatsächlich über 500.000 Hektar betroffen. Das Bündnis für eine Neonicotinoidfreie Landwirtschaft (BNL) befürchtet einen »ökologischen Kahlschlag in der Insektenwelt«.
Tatsächlich taugen Insektizide, angeblich die »pragmatische Lösung«, nur wenig. Die Zikaden sind mobil und weichen auf andere Felder aus. Dies gilt aber auch für die Schwarzbrache, die von Umweltschützern bevorzugte Bekämpfungsmaßnahme, mit der die Nymphen im Boden ausgehungert werden. Die Brache muss von allen Landwirten in einem Verbreitungsgebiet umgesetzt werden, möglichst mehrere Jahre hintereinander, um wirklich erfolgreich zu sein.
Für die Betriebe heißt das, dass sie ihre Einkünfte aus Wintergetreide oder anderen Kulturen verlieren. Wegen der prekären wirtschaftlichen Situation der Landwirte ist das nicht durchzusetzen. Im Gegenteil, die Erzeuger greifen seit Jahrzehnten zu immer simpleren, aber profitablen Fruchtfolgen und gönnen dem Boden immer weniger Ruhe und Regeneration. Sonst hätte sich die Schilf-Glasflügelzikade kaum derart ausbreiten können. Wie in der Geschichte von Frankenstein hat die Landwirtschaft selbst ein Monster erschaffen, das sie bedroht.
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