Geschichte und politische Macht ökonomischer Ideen (Teil VI)
von Ingo Schmidt
Zur Erinnerung: Die neoklassische Ökonomie machte Kunden zu Königen, Unternehmer zu Dienern. In ihrem Wetteifer, Kundenwünsche zu erfüllen, würden sie die Preise auf ein Niveau konkurrieren, das gerade noch die Deckung der Produktionskosten erlaubt, aber keinen Pfennig Umsatz für Profite übriglässt.
In ihrem Weltbild gab es keinen Klassenkampf und keine Krisen. Das passte zum Belle-époque-Leben einer kleinen Schicht von Couponschneidern, die es bezahlten Direktoren, Buchhaltern und Ingenieuren überließen, die Unternehmen zu führen, deren Aktien sie im Depot hatten. Es war auch ein Gegenentwurf zum Marxismus. Der hatte aus der Kritik klassischer Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo die Schlussfolgerung gezogen, dass der Klassenkampf mit dem Sieg industrieller Kapitalisten über die feudalen Landbesitzer nicht aufhöre, sondern von einem Kampf zwischen Lohnarbeit und Kapital abgelöst werde. Begünstigt werde der Kampf der Lohnarbeiter dadurch, dass die Konkurrenz um Absatzmärkte, billige Rohstoffe und Arbeitskraft zu Krisen und schließlich sogar dem Zusammenbruch des Kapitalismus führe.
Das neoklassische Bild einer harmonischen Konsumgesellschaft strahlte nicht über die bessere Gesellschaft hinaus. Arbeiter wussten auch ohne Karl Marx, dass ihr Lohn sie nicht zu Kundenkönigen machte. Die Aussicht, nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus warte eine bessere Zukunft, war allerdings populär. Aber der Zusammenbruch ließ auf sich warten und kam nicht in Gestalt einer Wirtschaftskrise, sondern als Weltkrieg.
Revisionen des Marxismus
Die marxistische Imperialismustheorie antwortete auf den Revisionismus, der während des langen Aufschwungs am Ende des 19. Jahrhunderts in der Arbeiterbewegung entstanden war. Die Revisionisten glaubten, den Doppelschritt von kapitalistischem Zusammenbruch und sozialistischer Revolution durch kleine Reformschritte ersetzen zu können. Damit sollte eine stetig wachsende Ökonomie von kapitalistischen auf sozialistische Produktionsverhältnisse umgestellt werden.
Dagegen verteidigten die Imperialismustheoretiker eine revolutionäre Strategie. Sie konnten dies aber nur, indem sie die Marxsche Perspektive erweiterten. Marxisten der ersten Generation hatten den Weltmarkt und Beziehungen zu nichtkapitalistischen Produktionsweisen nur sporadisch behandelt. Um die kapitalistische Entwicklung am Ende des 19.Jahrhunderts zu verstehen, nahmen Marxisten der zweiten Generation die Expansion des Weltmarkts in nichtkapitalistischen Milieus in den Blick.
Bekenntnissen zur Orthodoxie zum Trotz stellte diese Erweiterung der Perspektive eine theoretische Revision dar.
Die Ironie der Geschichte: Die Anregung dazu kam von dem Sozialliberalen John Hobson, dessen Kritik am Imperialismus dem sozialdemokratischen Revisionismus eine strategische Grundlage hätte geben können. Aber die Verfechter des Revisionismus hatten an Fragen der Weltwirtschaft und -politik entweder kein Interesse oder sie unterstützten die Eroberungen der europäischen Kolonialmächte. Dabei beriefen sie sich auf die zivilisatorische Mission Europas, hatten aber auch handfeste ökonomische Interessen im Blick.
Ganz im Sinne von Cecil Rhodes’ Diktum, dass Imperialist sein müsse, wer den Bürgerkrieg vermeiden will, sollte die Ausplünderung der Kolonien die von ihnen anvisierte Kombination von Wachstum und Sozialreform in den Zentren unterstützen.
Akkumulation und Expansion
Das war so ziemlich das Gegenteil von Hobsons Ansicht zum Thema. Seine These: Die industrielle Bourgeoisie habe in Großbritannien zulasten der Finanziers an Einfluss verloren. Letztere investierten vor allem im Ausland, die dabei erzielten Gewinne flössen hauptsächlich in den Konsum von Couponschneidern – jener Schicht, der die neoklassische Ökonomie ihre ganze Aufmerksamkeit schenkte. Hobsons Schlussfolgerung: Höhere Löhne im Inland könnten einen Markt für Massenkonsumgüter schaffen, dessen Belieferung den Ausbau industrieller Produktionskapazitäten erfordern würde. Der bestehende Kapitalüberschuss würde nicht mehr ins Ausland abfließen, sondern im Inland investiert. Industrielle Entwicklung in allen, oder zumindest den bereits industrialisierten Ländern würde an die Stelle von Großmachtkonflikten treten.
Durchaus kompatibel mit dem Sozialliberalen Hobson argumentierte Rudolf Hilferding. Er betrachtete Marx’ theoretische Prognose einer zunehmenden Konzentration und Zentralisation des Kapitals als empirisch bestätigt. Darüber hinaus stellte er, den Blick vorwiegend auf Deutschland gerichtet, eine zunehmende Verschmelzung von Industrie und Banken fest.
Anstelle der freien Konkurrenz, in der sich einzelne Firmen der jeweiligen Marktlage anpassen müssten, trete die monopolistische Kontrolle der Akkumulation durch eine Handvoll Industriemagnaten und Bankern. Sie würden Zölle, die zu Beginn der Industrialisierung Schutz vor der technologisch weiter entwickelten Konkurrenz aus England geboten hatten, auch nach dem Aufstieg des Finanzkapitals beibehalten. Die Ausschaltung der Preiskonkurrenz im Inland erlaube die Realisierung von Extraprofiten, die eine Subventionierung von Warenexporten und die Finanzierung von Kapitalexporten ermögliche. Extraprofite würden zur Waffe im Kampf um die Eroberung von Wirtschaftsgebieten in Übersee.
Aus der Feststellung, dass die Konkurrenz der Vielen von der Kontrolle anlagesuchenden Kapitals durch Wenige ersetzt wurde, leitete Hilferding in den 1920er Jahren wirtschaftsdemokratische Möglichkeiten ab. Würden den Magnaten des Kapitals, die den Weg der imperialistischen Expansion eingeschlagen hatten, gewählte Vertreter der Arbeiterbewegung an die Seite gestellt, könnten verfügbare Mittel zu sozialen Zwecken im Inland verwendet werden. Dem Übergang von der Konkurrenz zu Kartellen und Trusts entspreche ein Übergang vom unorganisierten zu organisierten Kapitalismus, der auch demokratische Steuerung ermögliche. Das stand im Einklang mit den Vorstellungen, die Hobson in seinem Imperialismus-Buch 1902 entwickelt hatte und enthielt im Kern die politische Theorie des in den 1930er Jahren entstehenden Keynesianismus.
Aber bevor Hilferding wirtschaftsdemokratische Konsequenzen aus seinem Finanzkapital (1910) ziehen konnte, nutzte Lenin das Buch, zusammen mit Hobsons Imperialismustheorie, um die Notwendigkeit imperialistischer Konkurrenz, von Kriegen und, daran anschließend, sozialistischer Revolutionen zu begründen.
Lenin verband Konkurrenz mit wirtschaftlicher Dynamik, Monopole mit Stagnation. Statt die Produktivkräfte mit der Aussicht auf wenigstens zeitweilige Extraprofite zu entwickeln, teilten nationale Monopolverbände die inländischen Märkte untereinander auf und konkurrierten international um Kolonialgebiete und Einflusszonen. Die Übergänge von der Konkurrenz zum Monopol, von der Akkumulation zur Stagnation, vom Freihandel zu Kämpfen um die Aufteilung der Welt seien zwangsläufig.
Der Erste Weltkrieg war bereits ausgebrochen, als er seine Imperialismus-Broschüre schrieb. Die Unmöglichkeit des Reformismus galt Lenin als historisch belegt. Die Unmöglichkeit reformistischer Auswege aus der kapitalistischen Krise theoretisch zu begründen, hielt er für unnötig. Eine entsprechende Erklärung findet sich in Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals, die ein Jahr vor Kriegsbeginn erschienen war.
Innere und äußere Grenzen
Anknüpfend an Marx’ Argument, die kapitalistische Produktionsweise setze sich selbst Grenzen, die dem eingebauten Akkumulationszwang im Wege stünden, hatte Luxemburg die koloniale Expansion, sprich: die Verschiebung politischer Grenzen nach außen, als Versuch gewertet, die inneren Grenzen der Kapitalakkumulation zumindest vorübergehend zu überwinden. Sobald die ganze Welt unter den Kolonialmächten aufgeteilt sei, komme es zu Kriegen um die Neuverteilung der Beute. Neue Märkte und Anlagefelder ließen sich aber nicht mehr erschließen, der Kapitalismus würde in wirtschaftlicher Stagnation versinken. Dieses theoretische Szenario war noch«katastrophischer« als das Lenins.
Luxemburg hat selbst darauf hingewiesen, dass erhebliche Teile der Ökonomie, vor allem in Handwerk, Landwirtschaft und Handel, in den imperialistischen bzw. industriellen Zentren des Kapitalismus zu ihren Lebzeiten noch nicht der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen waren und insofern »innere Expansionsmöglichkeiten« zur Verfügung standen. Zudem blieb die Ausbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse weit hinter der äußeren Expansion zurück.
Die Ausbeutung der Kolonien erfolgte in hohem Maße durch Unterwerfung vorkapitalistischer Produktionsverhältnisse, schuf dabei aber nur geringe Anlagefelder und Absatzmärkte für das Kapital – im Gegensatz zu den Siedlerkolonien Australien und Kanada und ganz besonders zu den USA.
Auf den Gräbern der indigenen Bevölkerung hatten Auswanderer und Kapital aus Europa dort eine Wirtschaftsmacht geschaffen, die nach den Krisen und Kriegen, die Lenin und Luxemburg als Endphase des Kapitalismus ansahen, einen Imperialismus ohne Kolonien schaffen sollte – zunächst als Gegenmodell zum Sowjetkommunismus, nach dessen Ende und der Eingliederung Chinas in den Weltmarkt als globales Wirtschaftsmodell. Ein amerikanisches Imperium, nach dessen Errichtung keine weitere Entwicklung möglich schien.
Genau das ist heute das Problem der Herrscher über dieses Imperium und ihrer Stellvertreter in allen Ländern der Welt.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.
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