Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2025

Neoklassik: Der Kunde ist König
von Ingo Schmidt

Zur Erinnerung: Marx hatte erkannt, dass kapitalistischer Reichtum entsteht, weil Arbeiter ihre Arbeitskraft zu ihrem vollen Wert verkaufen bzw. entsprechend bezahlt werden, die Verausgabung ihrer Arbeitskraft aber einen über diesen Wert, sprich: die Reproduktionskosten der Arbeitskraft, hinausgehenden Mehrwert schafft. Dieser Mehrwert fließt in die Taschen der Kapitalisten, sobald sie die Waren, die mithilfe der von ihnen gekauften Arbeitskräfte und Produktionsmittel hergestellt wurden, verkaufen.

Die Krux dieser für das Kapital so einträglichen Produktionsweise: Arbeiterkämpfe für höhere Löhne verringern den Mehrwert für die Kapitalisten. Die Ersetzung lebendiger Arbeit durch Maschinen ist mit vermehrten Ausgaben für Produktionsmittel verbunden, die selbst keinen Mehrwert schaffen. Dafür steigen die Produktionskapazitäten, während die Massenkaufkraft infolge des Zurückdrängens der Löhne sinkt. Es kommt zu Überproduktion und Krise. Gleichzeitig führt die Konkurrenz zu einer Konzentration der Produktion unter dem Kommando einer immer kleineren Zahl von Unternehmen, die Produktion wird vergesellschaftet und schafft damit die Voraussetzung dafür, dass Arbeiter die Unternehmen in eigener Regie übernehmen.
Das Unerträgliche an dieser Analyse: In zahllosen Zeitungsartikeln, Vorträgen und Diskussionsrunden verbreitet, überzeugte sie immer mehr Arbeiter von der Möglichkeit einer sozialistischen Zukunft. Dem galt es vorzubeugen. Unter anderem mit einer hoffentlich ebenfalls die Massen ergreifenden Alternativgeschichte.
Sie wurde von Ökonomen geschrieben, die unter dem Namen »Neoklassiker« bekannt wurden. »Klassiker« – weil sie wie Adam Smith, David Ricardo und andere Liberale der ersten Stunde den vom Staat ungehinderten Handel als Voraussetzung steigenden Wohlstands ansahen. »Neo« – weil sie den Fokus von Produktion und Klassen, durch Marx’ Analysen ihrer liberalen Unschuld beraubt, auf Konsum und Individuen verschoben.

Was nutzt mir das?
Ausgangspunkt der neoklassischen Theorie ist die Frage: Was nutzt mir ein Ding im Verhältnis zu einem anderen? Wenn ich das eine kaufe, bleibt kein Geld mehr für das andere. Die nächste Frage: Wieviel bin ich bereit, dafür zu bezahlen? Die Frage wieviel ich bezahlen kann, wird erst unter ferner liefen gestellt. Aber ebenfalls mit einer individuellen Nutzenabwägung beantwortet: Wieviel meiner freien Zeit bin ich bereit zu investieren, um Geld zur Deckung meiner Konsumwünsche zu erwerben?
Zurück zu den Wünschen des Einzelnen. Diese können mit denen anderer in einer Nachfragekurve zusammengefasst werden, aus der Unternehmer ablesen können, wieviel einer Ware sie zu welchem Preis verkaufen können. Die Kosten für unterschiedliche Preis-Mengen-Kombinationen in Rechnung stellend, entscheiden sie über die Produktion einer Ware. Dasselbe gilt für alle anderen Waren. Es wird genau das produziert, was Kunden zu kaufen wünschen. Der Kunde ist König.
Das Sprichwort bringt das Thema der neoklassischen Theorie auf den Punkt – und verweist zugleich auf die von ihr geleugneten Widersprüche der realen Welt. In der liberalen Vorstellungswelt sind alle gleich. Für Könige und die von ihnen beherrschten Untertanen ist kein Platz. Eigentlich. Mag ein Euro so gut sein wie ein anderer, seinem Besitzer Zugang zum gleichen Nutzen erlauben, so ist doch klar, dass es einen Unterschied macht, ob jemand einen oder Tausende oder Millionen Euros besitzt. Die neoklassische Theorie war dar­um bemüht, auch den Unterschied zwischen arm und reich als Folge individueller Nutzenabwägungen darzustellen. Frei geboren, entscheiden Menschen irgendwann, wie sie ihre Zeit zwischen Gelderwerb, Ausbildung und Freizeit aufteilen.
Wer ungern arbeitet und lernt, hat wenig Geld, kann aber das Leben genießen. Wer nach harter Arbeit auch noch lernt, wird ordentlich verdienen. Vielleicht. Während viele sich abstrampeln, stellen wenige Luxus und freie Zeit zur Schau. Weil sie mit dem goldenen Löffel im Mund geboren sind – ein Einbruch empirischer Realität in die liberale Idealwelt, den neoklassische Ökonomen souverän übergehen.
Nachdem sie die Frage nach der Vermögensverteilung übersprungen haben, erklären sie, dass die Verteilung zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen gerecht ist. Leistungsgerecht. Sofern der Staat nicht in das freie Spiel der Marktkräfte interveniert. In diesem Idealfall fließen den Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital Einkommen in Höhe ihres Beitrages zum gemeinschaftlich geschaffenen Gesamtwert zu. Wie diese Beiträge den beiden Produktionsfaktoren zugerechnet werden, wird nicht erklärt. Dafür wird aber behauptet, dass beide produktiv sind, Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital, wie von Marx behauptet, also nicht stattfindet.

Geleugnete Ungleichheit
Die neoklassischen Bemühungen, ökonomische Ungleichheit unter Verweis auf die gleichermaßen produktiven Qualitäten der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital zu leugnen, sind einigermaßen unlogisch. Bei der Arbeit ist noch alles klar. Sie wird in dem Umfang verausgabt und entlohnt, den die Arbeitenden nach reiflicher Abwägung des relativen Nutzens von Arbeits- und Freizeit zur Deckung ihrer Lebenshaltungskosten wünschen. Weshalb dieser Lohn dem Beitrag der Arbeit zum Gesamtprodukt entsprechen soll, ist schon weniger klar. Beim Kapital geht alle Klarheit verloren. Die Klassiker, auf ihren Spuren auch Karl Marx, stellten das Kapitaleinkommen als eine Restgröße dar. Was nach Abzug der Kosten vom Umsatz übrig blieb, war Gewinn, Profit oder Mehrwert.
Nachdem Marx diesen »Rest« mit der Ausbeutung des Produktionsfaktors Arbeit erklärt hatte, entschieden die Neoklassiker, dass es ein solches »Überschuss-über-die-Kosten«-Einkommen nur in Ausnahmefällen gibt, nämlich für einzelne Unternehmen, die mit geringeren Kosten als ihre Konkurrenten arbeiten, aber zum Marktpreis verkaufen. In Marx’ Terminologie entspricht das einem Extramehrwert. Nachdem dieser zu einem Sonderfall erklärt wurde, sollte man erwarten, dass die Kapitaleinkommen, ebenso wie die Löhne, die Kosten decken, die mit dem Einsatz des jeweiligen Produktionsfaktors verbunden sind. Im Falle der Arbeit entspricht der Lohn dem Beitrag der Arbeit zum Gesamtprodukt. Ebenso beim Kapital. Nur, dass es dazu noch einen »konkurrenzüblichen Gewinn« gibt. Ein ebenso unerklärter wie geldwerter Vorteil, der die behauptete Gleichheit von Arbeit und Kapital Lügen straft.
Dass Arbeit und Kapital nicht so gleich sind, wie von der neoklassischen Theorie behauptet, zeigt auch der wirtschaftspolitische Alltag. Das Kapital braucht höhere Gewinne als Investitionsanreiz. Es braucht mehr Kapital. Die Arbeit muss durch Druck auf die Löhne dazu gezwungen werden, länger für weniger Geld zu arbeiten. Um den Investitionsanreiz für das Kapital zu schaffen. Dieser bourgeoise Alltagssprech deutet an, dass es ein unausgeschöpftes Arbeitskräftepotenzial gibt, auf marxistisch: eine industrielle Reservearmee, und dass Investitionen bzw. Kapitalakkumulation zu den Existenzbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise gehören. In der neoklassischen Theorie wird nur investiert, was Haushalte über ihren laufenden Konsum hinaus sparen – mit dem Ziel künftigen Konsums. Auch hier sind die Kunden König, die Kapitalisten ihre Diener.

Rentnerökonomie
Die neoklassische Theorie bildet bis heute den harten Kern der bürgerlichen Ideologie. Nutzen statt Arbeitswert hatte schon der Urliberale Jeremy Bentham in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt, individuelles Glücksstreben anstelle feudaler Zwänge. Der Statistiker Hermann Heinrich Gossen führte Mitte des 19.Jahrhunderts die Differentialrechnung als Methode für die auf Nutzen fokussierten Analysen ein, als aufstrebende Industriekapitalisten noch offen darüber sprachen, Arbeit zum Nutzen der Kapitalakkumulation und dem damit verbundenen Gewinn in großer Menge, aber zu möglichst niedrigen Löhnen zu beschäftigen.
Erst gegen Ende des Jahrhunderts, als der Marxismus zur Massenideologie und der Sozialismus zu einer realen Herausforderung geworden war, wurde die neoklassische Nutzentheorie, neu formuliert von Carl Menger, Stanley Jevons und Léon Walras, von der bürgerlichen Öffentlichkeit goutiert. Die neoklassische Verteilungstheorie steuerte John B. Clark bei.
Nikolai Bucharin, der eine Zeitlang zusammen mit Otto Bauer und Rudolf Hilferding bei Eugen von Böhm-Bawerk, einem Weggefährten Mengers, studierte, bezeichnete die neoklassische Theorie als Ökonomie des Rentners. Mit der Entstehung großer Konzerne bildete sich innerhalb der Bourgeoisie eine Schicht von Eigentümern heraus, die Einkommen in Form von Dividenden, Zinsen und Pachten bezog, mit der Unternehmensführung aber nichts zu tun hatte. Diese, in Bucharins Terminologie Rentnerschicht hat in der Tat keine anderen Sorgen, als ihr üppiges Einkommen für ihre Lieblingsluxusgüter auszugeben. Gleichzeitig entziehen sich diese Konzerne der Welt der vielen Kleinbetriebe, die in der neoklassischen Theorie zum Wohle des Kunden miteinander konkurrieren. Soweit sie sich überhaupt der Produktion widmen.
Konzernen, die Konsumgüter herstellen, ist es seit den Tagen Bucharins und Böhm-Bawerks gelungen, Markennamen zu etablieren, für die Kunden über die Produktionskosten hinaus extra zahlen. Zum Nutzen der Konzerngewinne. Der Warenfetischismus, den Marx als funktionalen Bestandteil kapitalistischer Produktionsverhältnisse erkannte, ist zum Marketinggeschäft geworden. Allen Krisen zum Trotz: Die neoklassische Theorie ist über hundert Jahre nach ihrer Entstehung noch immer eine Alltagsreligion. Wer sie nicht überzeugend kritisieren kann, braucht vom Sozialismus nicht zu reden.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.

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