Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Buch 1. September 2025

Ein gesellschaftlicher Gegenentwurf aus den 80er Jahren, neu aufgelegt
von Matthias Becker

Murray Bookchin: Die Ökologie der Freiheit. Münster: Unrast, 2025. 544 S., 29,80 Euro

Mit seiner Ökologie der Freiheit warnte Murray Bookchin in den 1980er Jahren vor dem ökologischen Kollaps und entwarf eine Zivilisationsgeschichte der gesellschaftlichen Naturverhältnisse – philosophisch profund und unbedingt lesenswert, wenn auch politisch fragwürdig.

In den späten 70er Jahren, als das Wünschen noch geholfen hat und die DDR noch vorhanden war, kämpfte die Linke in Westdeutschland gegen die Atomkraft. Ein kleiner Teil der Bewegung wollte allerdings zwischen Kerntechnik in kapitalistischen Gesellschaften und Kerntechnik im Sozialismus unterscheiden. Ohne den Zwang zur Profitmaximierung könne sie sinnvoll sein und gefahrlos betrieben werden, glaubten die Genossen. Atomkraft: Es kommt darauf an, was man daraus macht!
Die meisten sahen in den Atomkraftwerken allerdings nur das jüngste Symptom einer tiefgreifend gestörten Beziehung zur Natur. Damals erschien Murray Bookchins Ökologie der Freiheit. Der Ökoanarchist entwarf eine »radikale politische Ökologie«, die auf die »Reharmonisierung von Natur und Menschheit durch die Reharmonisierung von Mensch und Mensch« zielt.
Radikal ist dieses Buch wirklich. Bookchin glaubt, dass Staat und Hierarchie insgesamt überwunden werden müssen. Selbst Rätesysteme verwirft er als zu hierarchisch und plädiert für Gemeindevollversammlungen mit überschaubarer Größe: »Eine direkte Demokratie findet von Angesicht zu Angesicht statt.« Der PKK-Führer Abdullah Öcalan griff seine Ideen später im Konzept des »Demokratischen Konföderalismus« auf.

Keine Geduld mit Marx
Die immer noch aktuelle (empirische und normative) Kernfrage lautet: Wie steht der Mensch in der Natur? Die Antwort darauf hat politische Folgen. Zivilisationskritiker wollen ganz neu beginnen. Die erwähnte Kernspaltung beispielsweise verwerfen sie, samt der zugrunde liegenden Physik. Fortschrittsoptimisten dagegen halten Atomtechnik und Naturwissenschaft für bloße Werkzeuge, mit denen sich alles mögliche anstellen ließe, wäre der Klassenfeind nicht im Weg.
Ökologie der Freiheit schürft tief. Bookchin verhandelt Religion, Anthropologie, Philosophie und vieles mehr vom Morgenrot der Zivilisation bis zum mutmaßlichen Abendrot. Das voluminöse Werk steht in der Tradition der kulturkritischen Literatur, die Wirtschaftliches, Wissenschaftliches und Ideologisches synthetisch darstellt, so wie Lewis Mumford, James Scott, David Graeber, Fabian Scheidler oder auch Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung.
Bookchin kritisiert schonungslos ideologische Glaubenssätze: Die Natur ist nicht karg. Menschliche Bedürfnisse sind nicht grenzenlos. Die Reiche der Notwendigkeit und der Freiheit überlappen sich.
Sein eigentlicher ideologischer Gegner ist der Marxismus, namentlich die Klassentheorie und das Basis-Überbau-Schema. Sie tauchen allerdings nur in geradezu karikaturhafter Form auf: Bookchin, sonst gegenüber sämtlichen Denkschulen konziliant, hat keine Geduld mit Marx. Lag es an seinen eigenen bitteren Erfahrungen, die er als junger Erwachsener in kommunistischen Organisationen in New York machte? Oder an der politischen Konkurrenz innerhalb der Neuen Linken, wegen der er sein politisches Alleinstellungsmerkmal betonte?

Aktualität
Die nun erschienene Ausgabe von Bookchins Hauptwerk wurde zum Teil neu übersetzt. 2006 ist er gestorben. Seine politische Ökologie lebt fort in der Umweltschutzbewegung, den Klimacamps und Waldbesetzungen. Die politische Strategie lautet, kurz gefasst: Die ökologische und soziale Frage lassen sich nur gleichzeitig lösen. Zu diesem Zweck muss die Macht auf eine lokale Ebene zurückkehren, die industrielle und globale Produktion abgelöst werden von einer handwerklichen und kleinräumigen. Gewerkschaftliche Organisation und Arbeitskämpfe führen angeblich nirgendwo hin. Um nicht verfehlte Feindbilder zu bedienen: Bookchin betätigte sich in den 1940er Jahren als gewerkschaftlicher Aktivist und kannte die Lebenswelten des Proletariats aus eigener Anschauung.
Angesichts der Eskalation der ökologischen Krise können nur noch sehr verstockte Kommunisten daran festhalten, dass die Entwicklung der Produktivkräfte »an sich« unproblematisch sei. Manche wollen dem Klassenkampf eine ökologische Richtung geben. Auch in der Anti-AKW-Bewegung der 70er Jahren wollten Aktivisten mit den Beschäftigten zusammen Konzepte für eine Umrüstung der Produktion erreichen. Sie hatten damit noch weniger Erfolg als die heutigen Bemühungen, Gewerkschaften und Beschäftigte in der Metallindustrie für eine Konversion zu interessieren.
Angesichts der Katastrophe setzen einige auf Pragmatismus und Kompromiss, auf einen Marsch in die Institutionen, in der Hoffnung, wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Andere verwerfen alle Halbheiten, gerade wegen der Katastrophe, und suchen nach Nischen, um eine neue Lebensweise zu entwickeln. Besonders die letztere Fraktion wird sich für Die Ökologie der Freiheit begeistern.

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