Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
Aufmacher Klima 1. September 2025

Die Firma Boge baut jetzt für den Schienenverkehr statt für die Autoindustrie
von Timo Daum

Im Zuge von Zeitenwende und Militarisierung suchen Rüstungsunternehmen nach passenden Standorten und Expansionsmöglichkeiten. Beispiele für einen Umbau der Industrie in sozialökologische Richtung sind dagegen rar. Im rheinland-pfälzischen Simmern hat die Belegschaft den chinesischen Eigentümern einen Erhalt des Standorts abgerungen. Nun werden Ersatzteile für ICEs gefertigt statt Fahrwerklager für VW und Mercedes.

Der Standort des Automobilzulieferers Boge Rubber & Plastics in Simmern, der Ende 2026 schließen sollte, bleibt bestehen und erfindet sich neu. Dort werden künftig Eisenbahnersatzteile für den europäischen Markt hergestellt. Besonders bemerkenswert: Branche und Nationalität der Unternehmerseite. Die China Railway Rolling Stock Corporation (CRRC) ist Konzernmutter des Eigentümers Times New Material Technology (TMT).
Das Unternehmen Boge besteht seit 1931 und zählt in Deutschland rund 1700 Beschäftigte an mehreren Standorten. In Simmern im Hunsrück arbeiten etwa 300 Beschäftigte, dort werden Motor- und Fahrwerkslager für Autos mit Verbrennungsmotor gebaut. Abnehmer sind unter anderem Audi, Mercedes, Volkswagen und Volvo. 2001 wurde die Firma Boge von ZF Friedrichshafen übernommen. 2014 verkaufte ZF den Unternehmensteil BOGE Elastmetall GmbH mit seinen drei Standorten in Bonn, Damme und Simmern an das chinesische Unternehmen TMT. Der bei ZF verbliebene Standort Eitorf schließt voraussichtlich Ende des Jahres.
Auch in Simmern kündigte das Management im November 2024 die Schließung des Standorts zum Ende 2026 an. An fehlenden Aufträgen lag es nicht, laut Uwe Zabel von der Bezirksleitung Mitte der IG Metall war der Betrieb »voll mit Arbeit« und zudem branchentypisch mit der »Just-in-time-Produktion mit drei Werken bei Audi, VW und Daimler« eng verzahnt. In den Jahren davor habe das Unternehmen auch 13 Millionen Euro an Belegschaftsbeiträgen kassiert, die für Investitionen zur Zukunftssicherung vorgesehen waren, jedoch nicht genutzt wurden. Das Management vor Ort behauptete dann 2024, der Standort lasse sich nicht mehr sichern und müsse geschlossen werden; zu Verhandlungen war es zunächst nicht bereit.

Produktionsverlagerung rückwärts
Der Betrieb mit einem hohen Organisationsgrad nahm den Kampf auf. Nach Warnstreiks und Auseinandersetzungen vor Gericht kam es im Januar zu einer Einigung über den Start eines Verhandlungsprozesses.
In einem Prozess der Zusammenarbeit sollten Beschäftigte und Geschäftsführung gemeinsam Lösungen zur Sicherung von Standort und Arbeitsplätzen erarbeiten – »gesteuert von einem gemeinsamen Lenkungsausschuss von Geschäftsführung sowie Betriebsrat und IG Metall«, wie die Gewerkschaft betonte. Parallel wurde Streikbereitschaft signalisiert.
Große Mobilisierung, Streikdrohungen und vielfältige Aktionen konnten letztlich einen so hohen Druck aufbauen, dass die Unternehmensleitung einlenken musste.
Eine Delegation vom Eigentümer TMT aus China kam dazu, am 21. Juni wurde eine Vereinbarung erzielt: Der Standort bleibt erhalten, für 245 Beschäftigte wurden Garantien ausgesprochen. Die Tochtergesellschaft des international tätigen Bahnkonzerns RCCN sagte zudem Investitionen von mindestens 7 Millionen Euro zu und entwickelte einen »Businessplan für weiteres Neugeschäft im Segment ›Railway‹«. Die große Überraschung: In Simmern werden künftig statt Pkw-Komponenten Eisenbahnersatzteile gefertigt. Dafür wird Produktion aus China nach Simmern verlagert.
Dem stimmte die IG Metall in direkten Verhandlungen über einen Transformationstarifvertrag mit der chinesischen Konzernleitung zu. Am 4. Juli wurde das Ergebnis der Urabstimmung auf der Betriebsversammlung bekannt gegeben: 95 Prozent stimmten für den Abschluss. Uwe Zabel von der IG Metall Mitte: »Wir haben die Transformation fair, ökologisch und gerecht gestaltet, mit Beteiligung der Beschäftigten.«
Eigentümer von Boge ist seit 2014 Zhuzhou Times New Material Technology Co., Ltd. (TMT), ein »weltweiter Anbieter von Schwingungstechnik und Polymerverbundwerkstoffen«. TMT ist stark international ausgerichtet, fast 40 Prozent des Umsatzes von 10 Milliarden Euro wird an Standorten in Deutschland, Frankreich, der Slowakei, Mexiko, Australien und Brasilien erzielt.
TMT ist eine Tochter des halbstaatlichen chinesischen Eisenbahnkonzerns CRRC. Das in Peking ansässige Unternehmen mit über 180.000 Beschäftigten ist der derzeit größte Akteur in der globalen Schienenfahrzeugindustrie und übertrifft gemessen am Umsatz seine Hauptkonkurrenten Alstom und Siemens. Im Jahr 2019 übernahm CRRC das Kieler Eisenbahnunternehmen Vossloh Locomotives und etablierte sich damit in der EU als Produktionsstandort.

Die Kampfstrategie
Simmern ist ein Beispiel für einen erfolgreichen Arbeitskampf, der Standort Friesdorf bei Bonn hingegen musste Ende letzten Jahres schließen. Uwe Zabel meint, das Unternehmen habe »den Standort geschlossen, wo es am wenigsten Widerstand gab«. In Simmern habe man früh versucht, für den Erhalt des Betriebs auch zu streiken, was eigentlich nicht erlaubt sei. Für »tariflich regelbare Ziele«, wie z.B. einen Sozialtarifvertrag hingegen schon.
Das IG-Metall-Team konnte sich bei dieser Strategie auf ein Gerichtsurteil stützen: Das Bundesarbeitsgericht bestätigte in einer einstweiligen Verfügung gegen Warnstreiks: »Für den Abschluss solcher Tarifverträge kann eine Gewerkschaft zum Streik aufrufen.« Und wies die Klage eines Unternehmens ab mit der Begründung: »Eine gerichtliche Kontrolle des Umfangs von Streikforderungen, die auf tariflich regelbare Ziele gerichtet sind, ist mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren.«
Verhandlungsführer Zabel erklärt: »Erstreikbare Sozialtarifverträge, die die sozialen Nachteile der Unternehmensentscheidung regeln, sind ein Mittel zur aktiven Beteiligung der Mitglieder durch die Gewerkschaft und damit ein Stück lebendiger Demokratie.«
Nachdem die lokale Geschäftsführung zunächst gemauert und sich mit dem Betriebsrat angelegt hatte, kam bei der Bezirksleitung der IG Metall die Idee auf, direkt mit China zu verhandeln. Mit Unterstützung der internationalen Abteilung der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt wurden »drei Stufen höher« (so Zabel) Kontakt mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden von Boge Elastmetall, Yun Yang, gesucht.
Es wurde schon länger vermutet, dass die Übernahme 2019 mit Blick auf Eisenbahnteile stattgefunden hatte, doch ließ man das Management vor Ort zunächst gewähren. Dessen Strategie lag jedoch darin, kurzfristig Profite zu machen, durch Lohnverzicht und Ausbeutung – ohne erkennbare langfristige Strategie.
Doch auch die Warnstreiks und die drohende Auswirkung auf die Produktion bei den großen Autoherstellern verfehlten ihre Wirkung nicht. Yang stellte seine Reisepläne um, um sich mit dem Verhandlungsteam zu treffen und den Deal abzuschließen.
Er überraschte das Verhandlungsteam mit der Ankündigung, das Werk doch nicht zu schließen und präsentierte die Idee, in Simmern Bahnersatzteile zu fertigen. Das chinesische Unternehmen arbeitet viele Reparaturaufträge von europäischen Herstellern wie Alstom ab. Diese können sie nun viel schneller und günstiger vor Ort erledigen. Wenn z.B. in Deutschland ein Defekt bei einem ICE auftritt, müssen die Teile nicht mehr aus China eingeflogen werden – eine auch betriebswirtschaftlich überzeugende Lösung.
Die Strategie der IG Metall, das kurzfristig und kleinkariert denkende lokale Management zu übergehen, war aufgegangen. Die chinesischen Verhandlungspartner zeigten sich laut Zabel »viel langfristiger, strategischer ausgerichtet«.
Chinesische Unternehmen haben in den letzten Jahren verstärkt in europäische Automobilhersteller und deren Produktionsstandorte investiert. Das Kalkül dabei ist auf der einen Seite, Zugang zu einem wichtigen Absatzmarkt der EU und zweitens Zugriff auf heimische Technologie zu bekommen. Das vielleicht bekannteste Beispiel: Die Übernahme des Roboterherstellers Kuka durch den Haushaltsgerätehersteller Midea im Jahr 2017. Bisherige Erfahrungen deuten darauf hin, dass chinesische Investoren eher nachhaltig investieren und nicht auf kurzfristige Rendite aus sind.

Wie geht es weiter?
Am 4. Juli wurde das Ergebnis bekanntgegeben, ein Grund zum Feiern in Simmern. Gleichzeitig wurde in einer Aktion die »Flamme der Solidarität« als Symbol der Kampfbereitschaft weitergetragen an den nächsten Standort, wo es ebenfalls um die Zukunft des Betriebes geht: beim japanischen Zulieferer Musashi im zehn Kilometer entfernten Bad Sobernheim-Bockenau-Grolsheim.
Die Chance auf eine Konversion in Richtung sinnvolle Produkte wie Elektroautos, Schienen- oder Nutzfahrzeuge ist höher, wenn der Eigentümer aus der Zielbranche kommt, wie im vorliegenden Fall. Daher liegt es nahe, auf ausländische, insbesondere chinesische Unternehmen zu setzen und nicht auf die üblichen Verdächtigen aus der Autoindustrie in Deutschland. Denn diese verharren mit fossilen, Luxus- und Abwanderungsstrategien auf Pfaden, die keine Zukunft haben.
Die »Schicksalsgemeinschaft mit der deutschen Autoindustrie« ist womöglich eine verfehlte Strategie, da »die etablierten Hersteller nicht in der Lage sind, die anstehende Transformation zu leisten«.
Eines der wenigen Positivbeispiele ist auch das ehemalige Continental-Werk in Gifhorn: Dort werden nach der Übernahme durch das Unternehmen Stiebel Eltron Komponenten für Wärmepumpen hergestellt.

Der Autor ist Physiker und Promotionsstipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitglied im RLS-Gesprächskreis »Zukunft Auto.Umwelt.Mobilität«. Die Langfassung seines Beitrags wurde am 7. Juli 2025 auf der Webseite der RLS (www.rosalux.de) veröffentlicht.

Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Folgende HTML-Tags sind erlaubt:
<a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>


Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.


Kommentare als RSS Feed abonnieren