Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Landwirtschaft 1. Oktober 2025

Wie Landwirtschaft ökologisch nachhaltig und solidarisch werden kann
von Matthias Becker

Landwirtschaft bedeutet: sich Sorgen machen. Kommt genug Regen? Genug Sonne? Wie wird das Erntewetter? Wegen der klimatischen Veränderungen wird der Anbau immer mehr zu einer Zitterpartie.

Der Frühling 2025 war zu warm und viel zu trocken: Seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881 gab es nur zwei weitere Jahre mit so wenig Niederschlag. Die hohen Temperaturen ließen Getreide und Obstblüten vorzeitig sprießen, nur um Nachtfrösten zum Opfer zu fallen. Im Juli gab es wochenlang Regen, danach eine heftige Hitzewelle. In Sachsen-Anhalt gerieten Felder in Brand, weil Funken der Mähdrescher auf die staubtrockenen Stoppeln fielen.
Was lässt sich unter solch instabilen Bedingungen noch anfangen mit den alten Bauernweisheiten? »Es gibt keine normalen Jahre mehr«, kommentiert Guido Seedler vom Deutschen Raiffeisenverband. Die Prognose des Getreideexperten: »Die Wetterextreme werden zunehmen.« Am Ende kam es trotzdem weniger schlimm, als viele befürchtet haben. Die Erntemengen an Getreide, Wein und Kartoffeln liegen im üblichen Rahmen.
Alles noch mal gut gegangen? Von wegen! Die Lage sei katastrophal, klagte Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbands, nach der Ernte im September. Für eine Tonne Brotweizen gibt es gegenwärtig etwa 180 Euro, in den 80er Jahren lag der Preis noch bei 240 Euro. »Wirtschaftlicher Getreideanbau ist bei diesen Preisen schlichtweg nicht mehr möglich.«

Eingespannt in eine Tretmühle
Landwirtschaft bedeutet: sich Sorgen machen. Den Preis für Agrarprodukte bestimmen Angebot und Nachfrage auf dem Weltmarkt, besonders bei Gütern wie Getreide, die sich leicht lagern und transportieren lassen. Deswegen stehen die deutschen Landwirte in Konkurrenz mit den Landwirten in Frankreich, Kasachstan, Russland, den USA und so weiter. Im Frühjahr gingen die Händler an den Getreidebörsen noch davon aus, dass die Erträge geringer ausfallen würden. Stattdessen fuhren die Landwirte in den Kornkammern der Welt eine Rekordernte ein – und ihre Einkommen fallen.
»Hier musst du laufen so schnell du kannst, um nur auf demselben Platz zu bleiben«, heißt es in Alice im Wunderland. »Wenn du irgendwo anders hinkommen willst, musst du mindestens doppelt so schnell laufen.« Das trifft die Lage der Landwirte genau. Seit dem 19.Jahrhundert holen sie immer mehr aus ihren Böden heraus, um einen bezeichnenden Ausdruck zu verwenden. Sie spezialisieren sich auf die gewinnträchtigsten Kulturen und bewirtschaften immer größere Flächen. Die Erntemengen haben sich vervielfacht.
Aber eine wachsende Menge bei gleichbleibender Nachfrage lässt unweigerlich die Preise sinken. Um sich am Markt zu behaupten, müssen die Landwirte deshalb noch produktiver werden. Also schaffen sie neue Maschinen an, kaufen das (angeblich) beste Saatgut. Sie bezahlen ihren Angestellten so wenig wie möglich und arbeiten selbst bis zum Umfallen. Die Vorreiter bei der Rationalisierung erzielen Gewinne, die Einkommen der Nachzügler sinken. Nach einer gewissen Zeit wenden alle dieselben kosteneffizienten Verfahren an – und die Tretmühle aus Rationalisierung und Preisverfall geht in die nächste Runde.
Der ruinöse Kostendruck führt dazu, dass die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe immer weiter sinkt. 1950 gab es noch knapp drei Millionen, heute sind es gerade einmal noch 250.000. Die Landwirtschaft beschäftigte damals ein Viertel der Erwerbstätigen, heute sind es 1,2 Prozent. Das gilt auch weltweit: Niemals zuvor hat die Arbeit so weniger Menschen so viele ernährt.
Die Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft könnte als beeindruckender gesellschaftlicher Fortschritt gelten, wäre sie nicht erkauft mit Raubbau. Die gegenwärtige Agrarproduktion schadet den natürlichen Ressourcen – Boden, Wasser und Klima – und bietet gleichzeitig oft nur miserable Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Der unablässige Druck, die Kosten zu senken, macht einen nachhaltigen Umgang mit Natur und Arbeit fast unmöglich.
Was den Landwirten vor allem fehlt, ist ein direkter Zugang zum Verbraucher. In jeder Saison müssen sie mehr für Pacht, Dünger und Treibstoff ausgeben, aber die gestiegenen Kosten können sie nicht an ihre Abnehmer weitergeben. So fällt ihr Anteil am Verkaufspreis immer weiter. Anfang der 70er Jahre kostete ein Ei 20 Pfennig, der Erzeuger bekam 18 davon. Von den 30 Cent, die ein Ei heute kostet, erhalten sie lediglich 13 Cent. Bei Getreide fiel der Erzeugeranteil von 60 auf 40 Prozent, bei Fleisch von 45 auf 30 Prozent, bei Kartoffeln sogar von gut 60 auf unter 30 Prozent.

Solidarische Landwirtschaft – eine Erfolgsgeschichte…
Seit einigen Jahren hat sich ein möglicher Ausweg aus der Tretmühle der Rationalisierung aufgetan: die Solidarische Landwirtschaft (Solawi). Im englischen Sprachraum wird sie präziser als Community Supported Agriculture bezeichnet: Eine Gemeinschaft von Verbrauchern schließt sich mit Landwirten zusammen, finanziert den Anbau und nimmt ihnen die Erzeugnisse ab. Die Idee entstand in den USA und Japan in den 60er Jahren.
In Deutschland sind Solawi-Höfe meist als Vereine, seltener in Genossenschaften organisiert. In der Regel bekommen die Mitglieder während der Saison einmal in der Woche eine Kiste mit Gemüse, außerhalb der Saison alle zwei Wochen. Weil der Handel damit umgangen wird, kommt deutlich mehr Geld bei den Landwirten an. Die stabile Finanzierung über Mitgliedsbeiträge entlastet sie und ermöglicht einen Anbau ohne Raubbau und Existenzangst.
Als im Jahr 2010 das Netzwerk Solidarische Landwirtschaft gegründet wurde, gab es lediglich zehn Betriebe, heute sind es über 500. Über 100.000 Menschen werden auf diese Weise versorgt. Allerdings werden Neugründungen mittlerweile seltener, eine gewisse Sättigung ist eingetreten.

…mit Schattenseiten
Kristina Steinmar von der TU Berlin erforscht die solidarische Landwirtschaft in ländlichen Regionen und hat zahlreiche Solawi-Beschäftigte interviewt. Diese empfänden ihre Tätigkeit einerseits als sinnstiftend, andererseits beklagten sie schwierige Arbeitsbedingungen, Fachkräftemangel und die Konkurrenz mit den Supermarktpreisen. Die Kommunikation mit den Mitgliedern erfordere zusätzlichen Aufwand.
Politischer Anspruch und Praxis unterscheiden sich deutlich von Betrieb zu Betrieb. Manche begreifen sich ausdrücklich als Keimzelle für eine postkapitalistische Landwirtschaft. Bei anderen steht der Umweltschutz durch eine kleinbäuerliche und lokale Nahrungserzeugung im Vordergrund. Viele arbeiten mit anonymen Bieterrunden, bei denen die Mitglieder selbst über die Höhe ihres finanziellen Beitrags entscheiden. Einige Solawi-Vereine bieten vergünstigte Mitgliedschaften für Geringverdiener an – dies entspricht einer Umverteilung zwischen den Vereinsmitgliedern, die umweltbewusst, überwiegend akademisch gebildet und in Angestelltenberufen tätig sind. Für die breite Bevölkerung und für ärmere Lohnabhängige spielt Solawi keine Rolle.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Um an der Entscheidungsfindung teilzunehmen, braucht es Zeit. Die Lebensmittel müssen an bestimmten Wochentagen, oft auch zu einer bestimmten Uhrzeit abgeholt werden. Sie decken außerdem nur einen (kleineren) Teil des Verbrauchs. Die Mitglieder »konsumieren in der Regel viele Nahrungsmittel jenseits des üblichen Gemüse-Schwerpunkts, um ihren Kalorien- und Proteinbedarf zu decken«, stellt der österreichische Ökologe Andreas Exner fest.
Und wegen des lokalen Anbaus macht sich der Einfluss der Jahreszeiten wieder bemerkbar: Im Frühjahr gibt es wenig zu verteilen, im Herbst viel. Nur wenige Menschen haben Zeit und Lust, das saisonale Gemüse einzukochen oder anders haltbar zu machen. Um einen größeren Beitrag zur Ernährung zu leisten, müsste die Solawi verarbeitete Lebensmittel herstellen – Öl, Milch und Mehl. Die dazu nötigen Investitionen in Mühlen oder Molkereien lassen sich aber mit den Mitgliedsbeiträgen kaum bestreiten.
So bleibt Solawi vorerst eine Nische für Umweltschutz-Überzeugungstäter mit ausreichend Zeit und Geld. Kann sie zu einer echten Alternative für die Nahrungsversorgung werden? Sicher nicht ohne tiefgreifende agrarpolitische Reformen.
Für Franziskus Forster von der Berg- und Kleinbäuer:innen-Vereinigung Österreich (ÖBV) geht es darum, »eine direktere Verbindung herzustellen zwischen denen, die Lebensmittel produzieren, und denen, die sie konsumieren« – eine »Re-Territorialisierung« der Agrarproduktion als konkrete Alternative zur kapitalistischen Globalisierung. Als weitere Beispiele nennt Forster Lebensmittelkooperativen und bäuerliche Märkte. Was aus diesen Alternativen entsteht, sei noch offen, sagt er. Die Agrarindustrie könne sie untergraben oder eindämmen – oder sie könnte einen Systemwechsel in Gang setzen.

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