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Film 1. Oktober 2025

Hind Rajab auf der Biennale von Venedig
von Marina Hoffmann

Am 7.Oktober 2023, dem jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora), greift die Hamas Israel an. Raketen detonieren. Zu Land, zu Wasser und aus der Luft überfallen Terrorkommandos Zivilist:innen und filmen ihre Taten – von Hinrichtungen zu Vergewaltigungen.

Israel antwortet mit Gegenschlägen und Bodentruppen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen gibt an, dass 1,9 Millionen Menschen, 85 Prozent der Bevölkerung, in Gaza vertrieben werden. Im Dezember desselben Jahres reicht Südafrika beim Internationalen Gerichtshof eine Klage wegen Völkermord ein. Seit dem großflächigen Angriff auf Israel, bei dem rund 1200 Menschen ihr Leben verloren und 240 entführt wurden, starben 64.500 Menschen in Gaza. Davon waren 18.500 Kinder.*

Die Tragödie
Am Morgen des 28.Januar 2024 veröffentlicht die israelische Armee einen Aufruf auf X, ehemals Twitter, West-Gaza zu evakuieren. Weil es kalt ist und regnet, schickt Wesam Rajab ihre fünfjährige Tochter Hind in das Auto eines Onkels, während sie selbst zu Fuß flieht. Zwischen vier Cousins und Cousinen, die gemeinsam auf der Rückbank sitzen, fährt Hind mit ihrem Onkel Bashar nach Norden. Sie kommen keine 400 Meter weit.
Um etwa 13 Uhr ruft die 15 Jahre alte Cousine Layan, die neben Hind im Auto sitzt, ihre Familie an. Ihr Onkel Mohammedsalem, ein Arzt aus Frankfurt, stellt den Kontakt zur Hilfsorganisation Roter Halbmond her. Sie ist 80 Kilometer weit entfernt.
Anderthalb Stunden nach dem ersten Anruf erreicht Omar al-Qam Layan vom Roten Halbmond Layan. Sie teilt dem Helfer mit, dass sie beschossen werden und dass ein Panzer beim Auto steht. Der Anruf endet nach weniger als 30 Sekunden. Laut Earshot, einer Nonprofit-Organisation, die Audioanalysen zu Ermittlungen beiträgt, wurden während dieses Anrufs innerhalb von sechs Sekunden 62 Schüsse abgefeuert, wie die Audioaufnahmen belegen. Die entsprechenden Waffen seien eher auf israelischer Seite zu finden als bei der Hamas.
Satellitenaufnahmen zeigen, dass um 15.30 Uhr drei israelische Kampffahrzeuge in nächster Nähe des Autos waren. Vermutlich auch ein Merkava-Panzer. Über ein Dutzend weitere Fahrzeuge waren zudem im Umkreis von einer Viertelmeile postiert.

Hind Rajab
Nachdem der Anruf zu Layan abbricht, versucht die Dispatcherin Rana Faqih, aus der Telefonzentrale des roten Halbmonds das Handy erneut zu erreichen. Die fünfjährige Hind geht ans Telefon. Ihre Cousine ist tot. Über drei Stunden redet die Helferin mit dem kleinen Mädchen, das irgendwann stiller wird und nur noch darum bittet, schnell gerettet zu werden. Im Hintergrund laufen Gespräche mit COGAT (Coordination of Government Activities in the Territories), eine Dienststelle des israelischen Verteidigungsministeriums, um einen Krankenwagen vom roten Halbmond zu Hind durchzulassen.
Um 17.40 Uhr erhalten zwei Sanitäter eine Google-Maps-Route per Whatsapp und fahren sofort los. Hind sagt am Telefon, sie sehe den Wagen, während einer der Sanitäter am Telefon angibt, einen grünen Laser zu sehen, der auf den Krankenwagen zeigt. Dieser grüne Laser ist wahrscheinlich ein Dazzler, eine Blendwaffe, die auch zur Identifikation von Fahrzeugen dienen kann.
50 Meter vor dem Fahrzeug der Familie trifft den Rettungswagen ein Panzerabwehrgeschoss und er explodiert. Ein lauter Knall ist bei Hind zu hören. Hinds Mutter Wesam wird zum Anruf hinzugeschaltet, um Hind zu beruhigen. Die beiden beten, Hind spricht ihrer Mutter nach. Um 18 Uhr bricht der Kontakt ab.

Nachbeben
Am Tag danach verbreitet sich die Stimme von Hind Rajab im Internet. Noch eine Woche nach dem Tag wartet die Mutter auf ihr Kind, kauft ihr sogar noch Geschenke.
Am 10.Februar, zwei Wochen nach dem Vorfall, ziehen die israelischen Truppen ab und Hilfskräfte sowie Palästinenser:innen kommen zur Bergung in das Gebiet. Der Rettungswagen ist komplett ausgebrannt, das Auto der Familie von 355 Schüssen getroffen.
In der Nähe wird das Fragment eines 120 mm Anti-Panzer-Geschosses aus den USA gefunden, das der Merkava-Panzer der israelischen Armee abfeuern kann. Die bekannten Raketenwerfer der Hamas sind dazu nicht in der Lage. Laut Washington Post kann nicht abschließend festgestellt werden, was den Krankenwagen und das Auto beschossen und zerstört hat. Die dafür nötigen Waffen waren wahrscheinlich auf den israelischen Militärfahrzeugen im direkten Umfeld montiert.
Mohammed-salem Hamada, der den Kontakt zum Roten Halbmond herstellte, berichtet der Frankfurter Rundschau: Zwei Monate zuvor wurde das Haus einer Tante und eines Onkels bombardiert – mit Kindern und Kindeskindern: »Es ist viel schlimmer, als man denkt … Das ist kein einzelner Fall. Das passiert Hunderte Male.«

Die Stimme von Hind Rajab
Seit Hind starb, sind anderthalb Jahre vergangen. In dieser Zeit entstand ein Film**, der die Ereignisse vom 28.Januar 2024 erneut vor den Augen der Welt entrollt. The ­Voice of Hind Rajab feierte dieses Jahr Premiere auf dem Filmfestival von Venedig. Der 89 Minuten lange Film erntete über 23 Minuten Standing Ovations – ein Rekord – und den Preis der Jury. Finanziell unterstützt wurde er unter anderem von Filmgrößen wie Joaquin Phoenix und Jonathan Glazer.
Die tunesische Regisseurin und Autorin Kaouther Ben Hania war zuletzt mit ihrem Film Olfas Töchter (2023) in den deutschen Kinos zu sehen. Schauspielerinnen spielen die verschwundenen Töchter der echten Olfa, um in einem halbdokumentarischen, halbgespielten Film der Wahrheit der Familie näher zu kommen.
Wie schon Olfas Töchter erzählt The Voice of Hind Rajab in einem semidokumentarischen Stil: Die Notrufzentrale des Roten Halbmonds, in der der Film größtenteils spielt, und die Schauspieler:innen sind »nicht echt«, Hind Rajabs Stimme hingegen ist es – für den Film wurden die echten Aufnahmen verwendet.
Einer der wenigen Darsteller, Motaz Malhees, berichtet, wie der Film auf ihn wirkt. Er selbst kommt aus Gaza: »Als ich zehn war, lebte ich dieses Leben. Als ich Hinds Stimme hörte, wurde ich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich fühlte mich, als würde ich tausend Tode sterben. Das war kein Schauspiel, das war mein Leben.«
Kritiken auf der Filmdatenbank IMDb zufolge nutzt der Film Hinds Stimme nicht ausbeuterisch. Hinds Stimme, und vor allem die unheimliche Stille danach, sprechen für sich selbst. Ein Film gegen das Vergessen, gegen den Verlust von Empathie und gegen die Gewalt, die vor allem Kinder in Kriegen immer wieder erleben müssen.
Kritiker:innen schreiben, die langen Einstellungen im Film dehnen die Zeit und ziehen dadurch die Zuschauer:innen in den Bann der Geschehnisse. Während der Film kaum zeigt, was in Gaza passiert ist, gibt es keine Ablenkung von der Tonebene, auf der sich der Großteil des Films abspielt.
Rana Faqih, die echte Dispatcherin, mit der Hind sprach, glaubte in Interviews nach der Tragödie nicht, dass sich etwas am Krieg ändern wird. Dieser Film könnte nun endlich etwas ändern, indem er das große Leid illustriert, das vor allem Kindern und Familien widerfährt. Durch den Film kommt Hind zurück, spricht weiter und erinnert uns, mahnt uns, das Leid zu beenden.

*Die Namen dieser 18.500 Kinder hat die Washington Post am 30.Juli 2025 auf ihrer Internetseite veröffentlicht, teilweise mit Fotos und Beschreibungen, gemäß den Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza.

**The Voice of Hind Rajab. Tunesien, Frankreich 2025. Regie: Kaouther Ben Hania. 89 Minuten

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