Eine Analyse von Mohammad Abu Hajar
Ein Jahr ist seit Assads Sturz vergangen – ein Satz, von dem ich noch vor zwei Jahren dachte, dass ich ihn niemals aussprechen würde. Doch Syrien ist ein Kontext, der beweist, dass es kein endgültiges Ende gibt. Hay’at Tahrir al-Sham, die Gruppierung, die tiefgreifende existentielle Veränderungen in ihrer Präsenz, Ideologie und der Zusammensetzung ihrer Führung durchlebt hatte, führte die letzte Operation an, die sehr plötzlich und sehr schnell zum Fall des Assad-Regimes am 8. Dezember 2024 führte – und damit eine 54 Jahre andauernde Familienherrschaft beendete, die ewig zu währen schien.
Es war ein Moment der Euphorie, selbst für viele, die noch kurz zuvor zu Assads treuesten Unterstützern gehört hatten. Einen großen Teil seiner Basis hatte er in den Jahren vor seinem Sturz bereits verloren. Während HTS sich auf die Schlacht vorbereitete, häuften regimeverbundene Eliten wie Qaterji, Hamsho und Yasar Ibrahim obszönen Reichtum an, während die Menschen in den Regimegebieten nur wenige Stunden Strom und Wasser am Tag hatten.
Die Caesar-Sanktionen verschärften den wirtschaftlichen Zusammenbruch und verengten den Kreis derjenigen, die von Assad profitierten, weiter – zumal er in seinem letzten Jahr versuchte, die während des Krieges entstandenen informellen Wirtschaftsnetzwerke, die den formalen Staat überholt hatten, neu zu ordnen.
Wie ich bereits – in Anlehnung an Mehdi Amels Arbeiten über den Libanon – dargelegt habe, enthielt die syrische Revolution Elemente eines Bürgerkriegs, ebenso wie der Bürgerkrieg revolutionäre Züge trug. Die vorhandenen Narrative – ob „Revolution“, „Bürgerkrieg“ oder „Verschwörung“ – fingen jeweils nur einen Teil der Realität ein. Nur eine dialektische Lesart kann erklären, wie alle drei zu einer einzigen Wirklichkeit verschmolzen.
In einem früheren Artikel beschrieb ich, was ich bei meinem ersten Besuch in Syrien nach dreizehn Jahren sah: unverkennbare Zeichen des Sieges in den Augen der Sunniten, selbst jener, die einst Assad unterstützt hatten, und deutliche Angst in den Augen der Alawiten, einschließlich jener, die ihm opponiert hatten.
Es war der Beweis, dass das dominante Narrativ, das aus Syriens Zusammenbruch hervorging, nicht das eines Volkes war, das eine herrschende Clique besiegt, sondern das einer Sekte, die über eine andere triumphiert – die Logik des Bürgerkriegs, nicht der Revolution.
Doch jeder Bürgerkrieg gestaltet Klassenverhältnisse neu, und der Sieg der HTS hat in einer bereits unter Assad zerfallenden Struktur einen scharfen sozioökonomischen Wandel ausgelöst. Seit dem Sturz des Regimes verfolgt die neue Verwaltung Maßnahmen, die eine lokale Kompradorenklasse stärken und die Wirtschaft für Händler und ausländische Investoren öffnen – ein Ziel, das sie offen priorisiert.
Einer ihrer ersten Schritte war die vollständige Liberalisierung der Treibstoffpreise für Verbraucher, womit ein Prozess vollendet wurde, den das alte Regime nur begonnen hatte. Gleichzeitig subventionierte sie Kraftstoff für Schiffe und Handelsunternehmen und erhöhte die Ausfuhrzölle auf landwirtschaftliche Produkte von 60 auf 260 US-Dollar pro Lastwagen – de facto das Ende der landwirtschaftlichen Exporte.
Jeglicher Anspruch, diese Politik diene dem Schutz des Binnenmarktes, brach zusammen, als die Regierung gleichzeitig die Einfuhrzölle um bis zu 85 % senkte, wodurch Syrien mit billigen Importen – überwiegend aus der Türkei – überschwemmt und lokale Produzenten massiv geschädigt wurden.
Besonders hart traf es die Bauern im Süden, die auf die Golfmärkte angewiesen sind, um überhaupt kostendeckend zu arbeiten. Hinzu kam, dass die Regierung in den ersten Tagen über hunderttausend Staatsbedienstete entließ. Obwohl die Säuberung mehrere Regionen traf, war ein unverhältnismäßig großer Teil der Entlassenen alawitisch.
Gewalt an Alawiten
Die Entlassungen erfolgten zu einer Zeit, in der Entführungen und Morde in alawitischen Städten in ganz Westsyrien zunahmen. Die meisten Fälle wurden kaum ernsthaft untersucht, was die Wut der Alawiten verstärkte – zumal viele Sunniten sie als „Inkubator“ des Regimes bezeichneten und das nutzten, um sektiererische Angriffe zu rechtfertigen und sogar kollektive Vergeltung anzudeuten.
Die Spannungen eskalierten, nachdem die Sicherheitskräfte beschuldigt wurden, in Fahel im Westen des Gouvernements Homs ein Massaker verübt zu haben. In mehreren Städten brachen alawitische Proteste aus, die die Wiedereinstellung der entlassenen Mitarbeiter und eine umfassende Amnestie für Straftäter aus der Regimezeit forderten – von denen viele Alawiten waren.
Zugleich kündigten Überreste von Assads Netzwerk die Gründung einer bewaffneten Gruppe an, der Küstenschild-Brigade, die sich gegen den neuen Staat stellte. Anfang März eskalierte die Brigade dramatisch und startete in der Nacht vom 6. auf den 7. März eine überraschende Offensive, bei der sie wichtige Gebiete in mehreren Küstenstädten und -dörfern einnahm.
Als die Nachricht sunnitische Gebiete erreichte, riefen Muezzine sofort zur Massenmobilisierung an die Küste auf, während Medienfiguren offen die ethnische Säuberung aller Alawiten forderten und ihnen die Verantwortung für Assads Verbrechen zuschrieben.
Innerhalb weniger Stunden strömten Überreste der Regierungsstreitkräfte, paramilitärische Einheiten und Freiwillige in riesigen Konvois in die Küstenregion. Ihr Eintreffen löste mehrere Tage konfessioneller Massaker aus, die heute als die „Küstenmassaker“ bekannt sind – ein Wendepunkt, der die anfängliche öffentliche Begeisterung für die neue Ära stark erodieren ließ.
Bis dahin galt die Aufmerksamkeit dem Nordosten, der letzten Region außerhalb der Kontrolle der neuen Autorität und unter der Herrschaft der Öcalan-nahen Syrischen Demokratischen Kräfte. Obwohl dort allgemein mit Zusammenstößen gerechnet wurde, erreichte Mazloum Abdi, SDF-Kommandeur, unerwartet eine Vereinbarung mit der Regierung in Damaskus über die Integration seiner Kräfte in die neue Armee – ein Abkommen, das bis heute nicht unterzeichnet wurde.
Drusen im Aufstand
Im Süden Syriens verweigerten die Bewohner von Sweida – einer überwiegend drusischen Provinz – seit den frühen Monaten der Revolution den Dienst in Assads Armee. Die Menschen bildeten eigene bewaffnete Gruppen mit unterschiedlichen Loyalitäten und führten jahrelange Proteste gegen das Regime, lange bevor es fiel.
Als Assad stürzte, hatten sie das Gefühl, ihre Stadt bereits selbst befreit zu haben. Mehr als vier Jahre lang sorgten lokale Fraktionen für die tatsächliche Sicherheit, während die Präsenz des Regimes auf wenige zivile Institutionen und Figuren reduziert war.
Dasselbe Muster setzte sich nach dem Sturz des Regimes fort, doch konzentrierte sich die Macht in Sweida – geistlich, militärisch und politisch – in den Händen des religiösen Führers Hikmat al-Hijri. Einst bis 2021 ein enger Assad-Verbündeter, unterstützte er später die zivilen Proteste gegen ihn.
Obwohl al-Hijri der neuen Verwaltung zunächst offen gegenüberstand, wandte er sich rasch gegen sie und beschuldigte sie, „das Bündnis und das Versprechen gebrochen“ zu haben. Seine Rhetorik verschärfte sich weiter nach den Küstenmassakern und der anschließenden Verfassungsdeklaration, die er als Machtmonopolisierung ansah.
Am 13. Juli starteten mit dem Verteidigungsministerium verbundene Fraktionen einen plötzlichen Angriff auf Sweida, kurz nachdem Ahmed al-Shara’a nach Aserbaidschan gereist war, wo er eine israelische Delegation getroffen hatte. Al-Shara’a schien den positiven Ton des Treffens als grünes Licht zu deuten, um in Sweida einzugreifen – und brach damit monatelange Absprachen, die sunnitische Fraktionen davon abgehalten hatten, in die Provinz einzumarschieren.
Innerhalb weniger Tage verübten diese Fraktionen brutale Massaker, darunter Angriffe auf Zivilisten in Videos, in denen zu sehen ist, wie drei junge Männer gezwungen werden, aus dem vierten Stock zu springen, und wie Männer gedemütigt werden, indem man ihnen die Schnurrbärte rasiert.
Weniger als 24 Stunden später griff Israel mehrere Ziele an – das Hauptquartier des Generalstabs in Damaskus, Orte in der Nähe des Republikanischen Palastes sowie mehrere Stellungen des Verteidigungsministeriums und der öffentlichen Sicherheit.
Dies führte zu einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Syrien und Israel und zum Abzug aller Einheiten des Verteidigungsministeriums aus Sweida. Lokale Fraktionen übernahmen daraufhin erneut die Kontrolle und verübten Vergeltungsmassaker an sunnitischen Beduinen, denen sie die vorherigen Tötungen anlasteten, was wiederum zu Vertreibungen führte.
Nach diesen Ereignissen verschoben sich die politischen Forderungen innerhalb Sweidas, und Kurden wie Alawiten schlossen sich dem, was als Allianz der Minderheiten bekannt wurde, an – einem Bündnis, das Föderalismus, Dezentralisierung, Unabhängigkeit von Syrien oder vollständige Selbstbestimmung forderte.
Das neue Syrien
Syrien ist weiterhin in drei Zonen geteilt, und in den von HTS kontrollierten Gebieten – dem Großteil des Landes – haben die Vorbereitungen für die ersten sogenannten „Wahlen“ seit Assads Sturz begonnen. Das neue System wurde scharf kritisiert, weil es die Macht in den Händen von Ahmad al-Shara’a konzentriert.
Die Bürger wählen keine Vertreter direkt; stattdessen hat al-Shara’a in jeder Stadt handverlesene Wahlausschüsse bestimmt. Diese Ausschüsse – zu 70 % aus Fachleuten und Spezialisten, zu 30 % aus lokalen Notablen – sind die einzigen Gremien, die wählen dürfen.
Sie bestimmen zwei Drittel des neuen Parlaments, während al-Shara’a selbst das restliche Drittel ernennt. Unterstützer sehen darin einen nationalen Meilenstein, doch viele andere halten es für eine Farce.
Vierzehn Menschenrechts- und zivilgesellschaftliche Organisationen veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, wonach das System unter „tiefgreifender struktureller Dysfunktion“ leide und nicht einmal minimale internationale Standards für politische Teilhabe erfülle.
Die syrische politische Landschaft sitzt auf einer tickenden Bombe. Was wie verstreute Zusammenstöße wirkt, ist in Wahrheit eine tiefere strukturelle Krise, die in der Entstehung des syrischen Staates selbst wurzelt.
Die postkolonialen Grenzen der Sykes-Picot-Ära trugen den Keim der heutigen Instabilität in sich, und Syriens aktuelle Fragmentierung spiegelt ein breiteres regionales Muster wider. Dieser Zerfall droht nun, ein zionistisch geprägtes Modell ethnisch-sektiererischer Kleinststaaten in der gesamten Region zu normalisieren.
So fehlerhaft der postkoloniale Staat auch war – er wurde nie auf ethnischer oder religiöser Reinheit errichtet. Die heutige Entwicklung hingegen weist auf eine weitere Zersplitterung hin: in noch kleinere „nationale“ Enklaven für jede Gemeinschaft. Die Region ist gefangen zwischen einer sterbenden alten Ordnung und einer neuen, die noch nicht entstehen kann – einer Phase politischer Monster.
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