Bei relativer Waffenruhe beginnt die Debatte über die Zukunft Palästinas
von Mahmoud Mushtaha
Am 13.Oktober versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der Welt in Sharm El-Sheikh um zu fördern, was sie als neuen »Weg zum Frieden« in Gaza bezeichnen. Wie üblich waren die Betroffenen von den Gesprächen ausgeschlossen und erhielten nur bruchstückhafte, zudem von ausländischen Medien und Spekulationen gefilterte Informationen.
Das politische System in Gaza ist zusammengebrochen. Die Führungsspitze der Hamas wurde getötet, inhaftiert oder isoliert, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) bleibt abwesend und es gibt keine glaubwürdige Instanz, die die mehr als zwei Millionen vertriebenen Zivilisten vertritt. Innerhalb des Gazastreifens sind Zusammenstöße zwischen der Hamas und rivalisierenden palästinensischen Milizen ausgebrochen, bewaffnete Auseinandersetzungen und öffentliche Hinrichtungen verbreiten Angst unter der Zivilbevölkerung, dass eine Welle innerer Gewalt der bereits zerrütteten Bevölkerung noch größeres Leid zufügen könnte.
Nach dem was wir bisher wissen, sieht der Plan von US-Präsident Donald Trump – gepriesen als Plan, der zu »starkem, dauerhaftem und ewigem Frieden« führen werde – vor, dass Israel die Kontrolle über die Grenzen, den Luftraum und die Hilfslieferungen des Gazastreifens behält, wobei die internationalen Akteure, die seinen völkermörderischen Krieg bewaffnet und finanziert haben, nun als Vermittler und Überwacher des Plans fungieren.
Der Plan enthält keine Aussagen zur Beendigung der Belagerung oder zur Aufhebung der Besatzung, er zielt vielmehr darauf ab, die palästinensische Autonomie durch die Auferlegung einer externen Aufsicht und Verwaltung zu untergraben. Der Gazastreifen soll soweit unterworfen werden, dass er keine Bedrohung für Israel darstellt, doch die Macht, das Leben der Palästinenser:innen zu schützen oder wieder aufzubauen, soll ihm verwehrt bleiben.
Für die Bewohner Gazas ist die derzeitige relative Waffenruhe nur eine fragile Pause inmitten von Tod und Zerstörung – ein Moment, um sich durch die Trümmer zu wühlen, nach Überlebenden zu suchen und die Toten zu zählen.
Gaza politisch verstümmeln
Seit Jahrzehnten werden Waffenstillstände und sogenannte Friedenspläne in Gaza als Kontrollinstrumente eingesetzt. Das ist jetzt nicht anders.
Zur Zeit werden zwei mögliche Szenarien diskutiert. Das erste sieht vor, dass nach Abschluss des Gefangenenaustauschs die Hamas gezwungen wird, ihre Waffen abzugeben und ihre Regierungsstrukturen aufzulösen. Im Mittelpunkt dieser Version steht ein Vorschlag der in westlichen und arabischen Hauptstädten schon lange zirkuliert: die Entsendung einer Internationalen Stabilisierungstruppe (ISF), die den »Übergang nach dem Krieg« in Gaza überwachen soll. Vorübergehend soll ein technokratisches palästinensisches Komitee eingerichtet werden, unter der Aufsicht eines internationalen Gremiums, an dem angeblich Trump selbst und der ehemalige britische Premierminister Tony Blair beteiligt sind; es soll die täglichen Angelegenheiten verwalten, bevor die Verwaltung schließlich einer »reformierten« PA übertragen wird. Die Vereinbarung erinnert an ähnliche Entwürfe für den Südlibanon und das Westjordanland, wo externe Aufsicht echte Souveränität ersetzt hat – beide sind gescheitert.
In diesem Szenario würde Gaza gerade so weit wieder aufgebaut werden, dass seine Bevölkerung die Befreiung vergisst. Mit der Zeit würden die Bewohner Gazas dazu ermutigt werden, Freiheit gegen Strom, Würde gegen Genehmigungen und Souveränität gegen die Illusion von Stabilität einzutauschen. Das Ziel ist nicht nur, den Widerstand zu unterdrücken, sondern die Menschen vergessen zu lassen, warum es ihn überhaupt gab.
Das zweite Szenario würde greifen, wenn Hamas sich weigert, nach der Freilassung der israelischen Geiseln die Waffen abzugeben. In diesem Fall würde Israel die Kontrolle über mehr als die Hälfte des Gazastreifens behalten und behaupten, die Hamas verstoße gegen das Abkommen, um neue Angriffe, gezielte Übergriffe und die fortgesetzte Zerstörung der zivilen Infrastruktur zu rechtfertigen.
Beide Szenarien zielen darauf ab, die politische Handlungsfähigkeit des Gazastreifens auszuschalten. Beide lassen letztlich die Struktur der israelischen Kontrolle unangetastet, die den Gazastreifen seit fast zwei Jahrzehnten prägt und in der Israel weiterhin frei ist, den Druck zu dosieren – indem es die Blockade lockert, wenn die internationale Aufmerksamkeit zunimmt, und sie wieder verschärft, wenn Gaza es wagt, seine Autonomie geltend zu machen.
Am Beunruhigendsten ist jedoch das, was wir noch nicht wissen: Berichte deuten auf die Existenz geheimer Anhänge zum Abkommen hin, und die Größe und Zusammensetzung der vorgeschlagenen internationalen Truppe, die Dauer ihres Mandats und das Ausmaß der Beteiligung der USA bleiben unklar.
Wir müssen unsere Strategie überdenken
Jetzt, da die Frage, wer den Gazastreifen regieren wird, wieder aktuell wird, müssen die Palästinenser Verantwortung übernehmen dafür, wie wir einen Weg zu Würde und Souveränität finden. Die dringlichste Frage ist, wer die Richtung unserer nationalen Bewegung bestimmen wird. Wenn dieser Moment mehr als nur bloßes Überleben bedeuten soll, muss er mit einer Selbstreflexion beginnen. Wir können unsere Empörung nicht nur auf ausländische Mächte richten und gleichzeitig zu unseren eigenen Versäumnissen schweigen.
Der Ausgangspunkt ist Legitimität. Weder die Hamas noch die PA können sie ohne tiefgreifende Reformen für sich beanspruchen. Hamas regiert den Gazastreifen seit 18 Jahren – genug, um die absolute Kontrolle zu erlangen, aber nicht um die Sache der Befreiung voranzubringen. Als sie 2006 die Wahlen gewann und später die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm, tat sie dies mit der glaubwürdigen Begründung, die Diplomatie sei gescheitert und Widerstand die einzige Sprache, die Israel verstehe.
Sie war der Überzeugung, dass dieser Weg Israel zu Zugeständnissen zwingen würde. Aber die Strategie hatte einen fatalen Mangel: Ohne parallele Diplomatie und eine gemeinsame nationale Vision konnte Militanz die Belagerung Israels nicht durchbrechen, sie vertiefte nur Gazas Isolation. Mit der Zeit wurde der Widerstand der Hamas statisch – er war unfähig, einen Sieg zu erringen und entfremdete die Bewegung zunehmend von der Bevölkerung, die zu verteidigen sie vorgab.
Die PA hingegen hat fast drei Jahrzehnte lang eine Illusion von Autonomie im Westjordanland aufrechterhalten, während sie in Sicherheitsfragen den Befehlen der Besatzer Folge leistete. Sie hat keine Kontrolle über Grenzen, Ressourcen, Mobilität, nicht einmal über ihre eigenen Steuereinnahmen, sie kann kein einziges Dorf vor Siedlern schützen.
Kein einziger palästinensischer Führer, weder von der Hamas noch von der PA, äußert sich ehrlich und klar gegenüber der Öffentlichkeit darüber, was in unserem Namen verhandelt wird. Dieses Schweigen offenbart eine tiefe Krise, die die palästinensische Politik schon sehr lange plagt.
Was jetzt not tut
Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Berufsverbände, Studentengruppen und Gemeinderäte sollten die Grundlage für unseren politischen Neuanfang bilden. Auch wenn sie nicht perfekt sind, bleiben sie doch die einzigen Fragmente der Selbstverwaltung, die Jahrzehnte der Besatzung und der Kontrolle durch die verschiedenen politischen Fraktionen überstanden haben. Auch der Widerstand muss neu definiert werden. Wenn der bewaffnete Kampf nur Verwüstung über genau die Menschen bringt, die er zu verteidigen sucht, dient er am Ende eher dem Besatzer, als dass er ihn herausfordert.
Natürlich kann kein Volk auf Dauer unter Unterdrückung leben, ohne sich zu wehren. Das Recht auf Widerstand gegen die Besatzung ist unveräußerlich, doch seine Form muss sich mit der Realität weiterentwickeln.
Wirksamer Widerstand muss multidimensional sein – politisch, wirtschaftlich, rechtlich und kulturell. Er muss die Besatzung nicht nur durch bewaffnete Konfrontation, sondern auch durch Druck und Delegitimierung untergraben. Schließlich ist Israel der verlängerte Arm des Westens und sein Überleben hängt von dessen Unterstützung ab. Deshalb sind die Drohungen mit Waffenembargos, kulturellen Boykotten und Sanktionen so wirkungsvoll.
Dies ist kein Aufruf, den bewaffneten Kampf aufzugeben, sondern ihm einen Sinn zu geben. Widerstand muss einer politischen Vision dienen. Gewalt ohne Strategie stärkt den Anspruch der Besatzer auf »Selbstverteidigung« und untergräbt unseren eigenen. Das verlangt, dass die palästinensischen Aktionen, ob bewaffnet oder nicht, in einem gemeinsamen politischen Ziel vereint sind und gegenüber der eigenen Bevölkerung rechenschaftspflichtig sind.
Wenn uns zwei Jahre Völkermord etwas gelehrt haben dann das, dass die palästinensische Nationalbewegung es sich nicht länger leisten kann, mit Slogans zu operieren und an veralteten politischen Visionen festzuhalten. Erforderlich ist jetzt ein Umdenken in Bezug auf die Grundlagen unserer politischen Kultur und der Aufbau neuer Formen politischer Organisation. Israel hat es nicht geschafft, das palästinensische Volk auszulöschen, aber die Zerstörung des Gazastreifens hat den Bankrott unserer bisherigen Verwaltungen offenbart.
16.10.2025
Mahmoud Mushtaha ist Journalist und Menschenrechtsaktivist aus Gaza. Kürzlich veröffentlichte er sein erstes Buch auf Spanisch mit dem Titel Sobrevivir al genocidio en Gaza.
Quelle: www.972mag.com/gaza-political-future-autonomy-hamas/ (von der Red. gekürzt).
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