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Geschichte 1. Dezember 2025

Die Industrialisierungsdebatte in der UdSSR
von Ingo Schmidt

Zur Erinnerung: Ende des 19.Jahrhunderts propagierten konservative Politiker offen eine imperialistische Politik, um die mit der Industrialisierung entstandenen sozialen Spannungen zu lösen. In der Sozialdemokratie wurde darüber gestritten, ob der Imperialismus den Interessen der Arbeiterklasse förderlich sei, wie die Konservativen behaupteten, oder zu Kriegen führe, in denen Arbeiter der industriellen Zentren sich gegenseitig ermordeten, weil der in die Ferne getragene Kampf um neue Märkte zu unüberbrückbaren Spannungen zwischen den herrschenden Klassen der Zentren führen würde.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs gab dem antiimperialistischen Flügel der Sozialdemokratie recht. Aber das Ende des Krieges stellte marxistische Weisheiten in Frage, die Sozialdemokraten vor dem Krieg unabhängig von der jeweiligen Position geteilten hatten.
Bis dahin galt Marx’ Voraussage, die Akkumulation des Kapitals führe zur Krise, schaffe mit dem Industrieproletariat aber auch den Totengräber des Kapitalismus. Tatsächlich war es der Krieg, der zu einer Revolution im kaum industrialisierten Russland führte. Die Totengräber des russischen Kapitalismus und seines zaristischen Überbaus waren mehrheitlich Bauern.
Die Hoffnung, die Revolution würde sich von der russischen Peripherie in die industriellen Zentren Westeuropas ausbreiten, erfüllte sich nicht. Neben den Romanows wurden auch die Dynastien der Habsburger und der Hohenzollern gestürzt, aber der Kapitalismus in Mittel- und Westeuropa, von Nordamerika ganz zu schweigen, überstand Weltwirtschaftskrise, Aufstandsversuche und Streikwellen in den ersten Jahren nach dem Krieg.

Industrialisierung und Sozialismus
Die Sowjetmacht überlebte zwar vier Jahre Bürgerkrieg und ausländische Interventionen, war aber international isoliert und sah sich auf eigenem Terrain mit einer darniederliegenden Wirtschaft konfrontiert. Der in den Jahren vor dem Krieg aufgebaute Kapitalstock war marode, die Lebensmittelversorgung stand vor dem Zusammenbruch.
Angesichts der schon während der Revolution herrschenden wirtschaftlichen Not hatten die Bolschewiki eine Zuteilungswirtschaft geschaffen. Von den Sowjetökonomen Bucharin und Preobra­shenski als Kriegskommunismus überhöht, weil Geld und Warentausch durch staatliche Verordnung ersetzt worden waren, lebte die Industrie in der jungen Sowjetunion von der Substanz und die Bauern ohne den Anreiz, über den Eigenbedarf hinaus zu produzieren.
Um die unmittelbare Not zu lindern, drückte Lenin die sog. Neue Ökonomische Politik (NÖP) durch, die Bauern und lokalen Unternehmen den Verkauf ihrer Produkte zu Preisen oberhalb der Produktionskosten erlaubten. Die Aussicht auf Profite führte zu einer schnellen Wiederbelebung der Wirtschaft, löste damit die dringendsten Versorgungsprobleme, führte aber auch schnell zu neuen Problemen.
1923 kam es zur sog. Scherenkrise. Die Bauern konnten ihre Produktion ohne großen Kapitalaufwand ausweiten, die Industrie konnte das nicht. Dafür war der Kapitalstock zu marode. Die Folge war ein Verfall der Agrarpreise relativ zu den Preisen industrieller Güter. Die Bauern waren zwar frei, ihre Produkte am Markt zu verkaufen, aber es lohnte sich nicht mehr.
Um einen Rückzug der Bauern in Selbstversorgung und lokale Märkte zu verhindern, wodurch es in den Städten wieder zu Versorgungsproblemen gekommen wäre, wurden Preiskontrollen eingeführt. Die Folge: eine zurückgestaute Inflation oder, im damaligen Sowjetjargon: Warenhunger. Nachdem die Preise für Industrieprodukte administrativ gesenkt wurden, gab es zwar reichlich Nachfrage, das Angebot war aber immer noch begrenzt.
Scherenkrise und Warenhunger sind zwei Seiten einer Medaille, deren materieller Kern in einer Agrargesellschaft mit industriellen Einsprengseln bestand, der schlicht die Produktionskapazitäten fehlten, um die gesamte Bevölkerung aus materieller Not zu befreien. Kautsky hatte es den Bolschewiki gleich gesagt: Erst die Industrialisierung, dann der Sozialismus. Alles andere ist Voluntarismus, der unweigerlich im Terror endet. Aber nun hatte sich die Sowjetmacht gegen innere und äußere Feinde behauptet, die unmittelbaren Hoffnungen auf Unterstützung durch sozialistische Revolutionen in den industriellen Zentren Westeuropas hatten sich fürs erste zerschlagen und die Bolschewiki standen vor der Frage, was sie mit ihrer Macht anfangen sollten.

Bauernmärkte oder Schwerindustrie?
In zwei Punkten waren sie sich einig. Um ihre Macht in einer feindlichen Umwelt zu behaupten und eine Aussicht auf ein Ende der materiellen Not zu haben, musste die Sowjetunion von einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft in eine Industriegesellschaft verwandelt werden. Der Staat war das Instrument, um diese Transformation voranzutreiben.
Unterschiedliche Auffassungen gab es über das Tempo und den Weg zur Industrialisierung. In der um diese Fragen geführten Industrialisierungsdebatte wurden die Theoretiker des Kriegskommunismus, Bucharin und Preobrashenski, zu Protagonisten unterschiedlicher Strategien.
Bucharin befürwortete eine Fortführung der NÖP. Die Sowjets sollten sich auf die Kommandohöhen der Ökonomie und Politik zurückziehen, Bauern, Handwerkern und Kleinbetrieben aber freie Hand geben. Dadurch sollte der Binnenmarkt entwickelt und eine steigende Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern geschaffen werden.
In Analogie zu Marx’ Analyse der ursprünglichen Akkumulation plädierte Preobrashenski dagegen für eine ursprüngliche sozialistische Akkumulation. Der Staat sollte durch die Festsetzung niedriger Agrarpreise und hoher Industriepreise Ressourcen von der Landwirtschaft in die Industrie, genauer: der Schwerindustrie, umleiten. Die Produktion von Investitionsgütern sollte schneller voranschreiten als die von Konsumgütern, weil nur dadurch die notwendigen Produktionskapazitäten geschaffen werden konnten, um später eine steigende Nachfrage nach Konsumgütern befriedigen zu können. Niedrige Agrarpreise sollten außerdem eine Rationalisierung der Landwirtschaft erzwingen. Die Freisetzung von Arbeitskräften in der Landwirtschaft sei notwendig, um wachsende Industrien mit Arbeitskräften zu versorgen.

Reproduktionszyklen
So unterschiedlich ihre Positionen waren, hatten sie doch einen gemeinsamen theoretischen Bezugspunkt: Marx’ Analyse der erweiterten Reproduktion im zweiten Band des Kapital. Marx hatte darin die Relationen zwischen der Produktion von Konsum- und Investitionsgütern sowie zwischen variablem und konstantem – fixem und zirkulierendem – Kapital aufgezeigt, die erfüllt sein müssen, um erweiterte Reproduktion ohne Überproduktion in einem und Unterproduktion in einem anderen Sektor zu verursachen. Die Akkumulationsrate wurde dabei vom Mehrwert in den Investitionsgüterindustrien bestimmt.
Unter seinen Anhängern entbrannte später eine Debatte, ob diese Relationen theoretische Gleichgewichtsbedingungen darstellten oder in der Realität erfüllt würden. Insbesondere Luxemburg vertrat die Position, dass es in der kapitalistischen Realität zu einem Nachfragemangel käme, der nur durch die Schaffung von Märkten außerhalb des Kapitalismus, die deshalb nicht von Marx’ Reproduktionsschema erfasst würden, überwunden werden könne. Hierin sah sie den Ursprung des Imperialismus.
Bei aller Polemik waren die Positionen Bucharins und Preobrashenskis nicht unvereinbar. Bucharin wusste, dass der Anteil der Investitionsgüter an der Gesamtproduktion steigen musste, um die Sowjetunion zu industrialisieren. Preobrashenski wusste, dass Investitionsgüter, die nicht irgendwann zur Produktion von Konsumgütern genutzt werden, ein verschwenderischer Selbstzweck sind, den sich ein kaum industrialisiertes Land wie die Sowjetunion der 1920er Jahre nicht leisten konnte.
Die Schärfe ihrer Polemik war vom Ernst der Sache bestimmt. Marx war in seinen Analysen der erweiterten Reproduktion frei, beliebige Annahmen zu treffen und an Beispielen durchzurechnen. Die Bolschewiki rangen um das Herausfinden möglicher Akkumulationspfade auf der Basis empirisch gegebener Bestände an Boden, Arbeitskräften und Maschinen. Tatsächlich näherten sich ihre Positionen im Laufe der Debatte an.
Die zunehmend von Stalin monopolisierte Politik war dafür umso erratischer. Erst trieb er die Förderung von Märkten weiter, als Bucharin je wollte, dann erzwang er ein weit höheres Industrialisierungstempo, als Preobrashenski anvisiert hatte – politische Kurswechsel, die verschwenderisch mit Material und Menschleben umgingen und der Sowjetunion den Makel eines Terrorregimes einbrannten.

Ein postkoloniales Modell?
Die Debatte zwischen Bucharin und Preobrashenski interessiert heute nur noch Historiker der Sowjetunion. Mit deren Zusammenbruch scheint auch die Bedeutung theoretischer und politischer Debatten aus ihrer Frühzeit untergegangen. Aber der Schein trügt.
Die Bucharin-Preobrashenski-Debatte nahm die entwicklungspolitische Strategiesuche im Zuge der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg vorweg. Stalin hat Lenin die Kennzeichnung Russlands als schwächstes Glied der imperialistischen Kette in den Mund gelegt. Was immer die imperialen Ambitionen des Zaren waren, wirtschaftlich war das Russland, das die Bolschewiki 1917 übernahmen, in einer Situation abhängiger Entwicklung – ähnlich wie viele postkoloniale Länder, von denen einige heute als Bedrohung der alten imperialistischen Zentren gelten, insbesondere China, dessen kommunistische Führung sich reichlich bei Bucharins strategischen Empfehlungen bedient hat. Es hat die Förderung der Märkte weitergetrieben als dieser sich vorgestellt hatte, sich damit aber einen Platz auf dem Weltmarkt gesichert.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.

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