Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Einladung zur Diskussion
von Ingo Schmidt

Seit mit Imperialismus nicht mehr kaiserliche Herrschaft, sondern kapitalistische Weltwirtschaft und -politik bezeichnet wird, hat der Begriff einen Doppelcharakter angenommen. Er definiert einen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung, dient aber auch der politischen Feindbestimmung. In der Wissenschaft dominieren marxistische Forschungsansätze, es gibt aber auch liberale und konservative Imperialismustheorien und, daraus folgend, jeweils unterschiedliche politische Strategien.

Das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ideologie ist immer spannungsreich. In der Fassung Lenins wurde in der Sowjetunion die Imperialismustheorie zur Staatsideologie, obwohl sie mit ihrem Fokus auf imperialistischen Rivalitäten den Kalten Krieg mit seiner Konkurrenz zwischen nominalsozialistischem Osten und kapitalistischem Westen nicht erklären konnte. Nach dem Ende des Kalten Krieges ersetzten viele Linke die alten Theorien durch Begriffe wie Hegemonie, Globalisierung und Neoliberalismus, obwohl diese noch unschärfer waren.
Dafür versuchten kurzzeitig amerikanische Neokonservative den Imperialismusbegriff für ihr Programm eines zweiten amerikanischen Jahrhunderts zu verwenden – nicht anders als britische Konservative, die ihre expansionistische Politik am Ende des 19.Jahrhunderts offen als Imperialismus bezeichneten. Doch die negative Konnotation des Begriffs ließ sich nicht mehr abwaschen. Heute dient er deshalb zumeist der moralischen Verdammnis: Imperialisten, das sind die anderen.
Dabei wäre ein analytischer Begriff von Imperialismus wichtig, weil die raschen Veränderungen von Weltwirtschaft und -politik beim besten Willen nicht mehr mit den Begriffen Globalisierung und Neoliberalismus gefasst werden können.
Die Gewinnung eines analytischen Imperialismusbegriffs erfordert allerdings, seine theoretische Prägung durch die spezifische historische Form des Imperialismus an der Wende vom 19. zum 20.Jahrhundert zu überwinden und Imperialismus systematisch mit den historischen Formwandlungen des Kapitalismus zu verbinden.

Imperialismus und Kapitalismus als Doppelpack
Die Ideologie der kapitalistischen Produktionsweise und der sie beherrschenden Bourgeoisie ist der Liberalismus, eine Idealwelt des freien Warentauschs, deren reale Grundlagen – Klassenherrschaft und Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft – Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie – ein anderes Wort für Liberalismus – offengelegt hat. Aber die kapitalistische Produktionsweise existiert nie in reiner Form.
Der Imperialismus beginnt, wo die Idealwelt des Liberalismus endet und der real existierende Kapitalismus einsetzt. Anders als manche liberale Kritiker des Imperialismus behaupten, stellt Imperialismus kein feudales Überbleibsel oder eine fehlgeleitete Politik dar. Und anders als Lenin und seine Zeitgenossen glaubten, stellt der Imperialismus kein besonderes, vielleicht sogar letztes Stadium der kapitalistischen Entwicklung dar, sondern ist deren ständiger Begleiter.
Vorangetrieben wird die kapitalistisch-imperialistische Entwicklung von der der kapitalistischen Produktionsweise immanenten Notwendigkeit zur Expansion. Diese Notwendigkeit ist von dem Widerspruch geplagt, die Akkumulation durch niedrige Rohstoff- und Lohnkosten zu fördern, dadurch aber die für den Absatz der produzierten Waren notwendige Nachfrage zu begrenzen.
Diese innere Grenze der kapitalistischen Produktionsweise suchen die Kapitalisten durch Schaffung von Märkten in nichtkapitalistischen Milieus, durch eine der kapitalistischen Produktionsweise äußere Expansion zu überwinden.
Dabei wird die Welt seit den Tagen des Handelskapitalismus in Zentren und Peripherien geteilt, der immanente Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise damit aber reproduziert, weil die Peripherien zwar günstige Rohstoffe und Arbeitskräfte liefern, die Ausdehnung der Nachfrage damit aber wiederum begrenzt wird. Günstig ist gut für die Stückgewinne, aber nicht für den Gesamtumsatz.
Kapitalistische Expansion und die damit verbundene Herausbildung globaler Ungleichheit zwischen Zentren und Peripherie werden durch die Herausbildung eines hierarchi­schen Staatensystems ergänzt, das zur Durchsetzung und Garantie privater Eigentumsrechte unerlässlich ist, von den Kapitalisten aber stets als Beschränkung ihrer Eigentumsrechte wahrgenommen wird. Weshalb die Ideologen des Kapitals das liberale Ideal weltweiten, von staatlichen Eingriffen ins Geschäftsleben freien Handels predigen.

Zwischen Merkantilismus und Freihandel
Die Kombination aus der Notwendigkeit zu Akkumulation und Expansion, der Ungleichheit zwischen Zentren und Peripherie und einem hier­archischen Staatensystem hat in der Geschichte der kapitalistisch-imperialistischen Entwicklung unterschiedliche Formen angenommen und dabei eine Pendelbewegung zwischen Merkantilismus und Freihandel durchlaufen.
Liberale Geschichten des Kapitalismus erzählen zumeist von privaten Unternehmern, die sich in Verfolgung ihrer Profitinteressen von feudalen Fesseln befreit und damit den Wohlstand der Nationen vermehrt haben.
Ohne dies explizit auszusprechen, gelten die absolutistischen Staaten Europas, ggf. ergänzt um ihren siedlerkolonialen Nachwuchs in Nordamerika und Ozeanien, als Nationen. Der Rest der Welt ist Terra Incognita, bereit, über ein weltweites Freihandelssystem die sich industrialisierenden Nationen mit Rohstoffen zu versorgen und so ebenfalls zu ihrem Wohlstand beizutragen.
Mit der Durchsetzung des Freihandels endet die Geschichte. Nicht ohne die Warnung, nie wieder vom Freihandel abzulassen. Denn: Staatsintervention und Protektionismus vermindern den Wohlstand der Nationen und führen möglicherweise sogar zu Kriegen.
Marxistische Geschichten beginnen oft ebenfalls mit der Befreiung des Kapitals von feudalen Fesseln, sehen in der Wiederkehr des Protektionismus oder Merkantilismus am Ende des 19.Jahrhunderts aber kein beklagenswertes Abweichen von liberalen Tugenden, sondern ein Symptom kapitalistischen Verfalls, dass dem Sozialismus den Weg bereitet.
Am Anfang der Geschichte hakt es jedoch. Handelsmonopole wie die der British East India Company und ähnlicher Unternehmen, Plantagenwirtschaft und Sklaverei passen nicht ins liberale Bild, förderten aber die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals ebenso wie die Einhegungen in England, die Bauern in Lohnarbeiter für das entstehende Industriekapital verwandelten.
Die zur Ware gemachte Arbeitskraft konnte keineswegs so frei gehandelt werden, wie liberale Geschichten behaupten. Nicht nur, weil die ihrer Subsistenzmittel beraubten Arbeitskraftbesitzer über wenig Alternativen verfügten, sondern auch, weil schon der Versuch, sich durch Bettelei der Unterwerfung unter das Fabrikregime zu entziehen, unter drakonische Strafe gestellt wurde.
Kurz, so sehr der absolutistische Staat mit seinen überkommenen Gewohnheitsrechten, Stände- und Zunftordnungen der kapitalistischen Entwicklung im Wege stand, so sehr förderten Handelsmonopol, Sklaverei und Plantagenwirtschaft – eine erste Form von Imperialismus – diese Entwicklung.

Merkantilistische Absteiger, freihändlerische Aufsteiger
Es hakt auch am Ende der Geschichte. Gegenüber der liberalen Hoffnung, das unter der Pax Britannica entstandene Freihandelsregime markiere den Endpunkt gesellschaftlicher Entwicklung, konnten Marxisten überzeugend darlegen, dass sich die Konkurrenz kapitalistischer Unternehmen am Ende des 19.Jahrhunderts zur Konkurrenz der Kolonialmächte um Absatzgebiete und Rohstoffquellen ausweitete, der Übergang von Handelskriegen zu einem Weltkrieg vorprogrammiert war. An solche Analysen geknüpfte Hoffnungen, dem Weltkrieg werde die Weltrevolution folgen, erfüllten sich aber nur zum Teil.
Paradoxerweise ermöglichten die sozialistischen Revolutionen an der Peripherie, insbesondere in Russland und China, den kapitalistischen Zentren die Errichtung eines neuen Freihandelsregimes unter US-amerikanischer Führung. Je mehr sich dieses Regime konsolidierte, umso mehr Druck übte es auf die Sozialstaaten aus, die im Westen als Reaktion auf Kriege und Krisen und als Teil der Systemkonkurrenz während des Kalten Krieges etabliert wurden. Nach dessen Ende und Chinas Integration in den Weltmarkt nahm dieser Druck weiter zu.
Aber der Sieg des Kapitals über die kommunistische Herausforderung im Osten, die Sozialstaaten in den Zentren und die Entwicklungsstaaten in der Peripherie brachte ein neues Bündel von Widersprüchen hervor, dass das vom amerikanischen Imperium garantierte Freihandelsregime untergräbt.
Die Etablierung globaler Wertschöpfungsketten erlaubte die Überausbeutung billiger Arbeitskraft in den Peripherien unter computergestützter Kontrolle durch Konzerne in den Zentren. Ebenso wie der koloniale Imperialismus begrenzen niedrige Löhne in den Peripherien aber auch im Imperialismus ohne Kolonien die zahlungsfähige Nachfrage und damit den Fortgang der Akkumulation.
Dazu kommt die Herausforderung durch die Industrialisierung einiger peripherer Länder, insbesondere Chinas. Als antikapitalistische Projekte während des Kalten Krieges begonnen, wurden sie zu Konkurrenten, die der Überausbeutung der Peripherien durch die alten Zentren im Wege stehen. Am Ende des 19.Jahrhunderts antworteten industrielle Nachzügler wie Deutschland, Japan und die USA mit merkantilistischer Politik auf die überlegene Konkurrenz aus England. Heute wenden sich nicht die Auf-, sondern die Absteiger dem Merkantilismus zu, während die Aufsteiger das ursprünglich von den USA und ihren Verbündeten durchgesetzte Freihandelsregime verteidigen.

Ingo Schmidt ist marxistischer ­Ökonom und lebt in Kanada und Deutschland.

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