Soziale Verteidigung als Gewaltfreie Lösung
von Victoria Kropp
Der Ukrainekrieg hat einer Logik zum erneuten Durchbruch verholfen, die nur eine Richtung kennt: den militärischen Sieg als Voraussetzung für Friedensverhandlungen. »Siegfriede« nannte man diese Logik im Ersten Weltkrieg. Deutschland ist damit zweimal gescheitert. Jetzt wird sie in der Ukraine erneut getestet – bisher mit mehr Opfern als Erfolgen. Wer den Ansatz in Frage stellt, wird sofort als fünfte Kolonne Moskaus bezeichnet oder der Kapitulation bezichtigt. Nicht zugelassen wird eine Diskussion darüber, dass Verteidigung auch mit nichtmilitärischen Mitteln möglich – und häufig sogar erfolgreicher ist.
Soziale Verteidigung ist eine besondere Form des zivilen Widerstands. Eine Gesellschaft verteidigt gewaltfrei ihre (zivilen) Institutionen, ihre Identität und ihre Lebensweise gegen einen gewaltsamen Angriff. Dies kann z.B. der Fall sein, wenn ein Land von außen militärisch angegriffen wird oder wenn Gruppen innerhalb eines Landes mit illegalen Mitteln, z.B. einem Putsch, versuchen, die Macht an sich zu reißen.
Dabei geht es nicht in erster Linie um die Verteidigung von Staatsgrenzen, sondern um den Schutz des Landes vor großflächiger Zerstörung durch den Verzicht auf gewaltsamen Widerstand. Es ist wichtig zu beachten, dass jeder Konflikt anders ist und es daher keine Methoden gibt, die auf alle Kontexte anwendbar sind.
Es gibt verschiedene Argumente und Überlegungen, die für den Einsatz der Sozialen Verteidigung sprechen. Es ist bekannt, dass Gewalt zu mehr Gewalt führt (Gewaltspirale). Darüber hinaus stärkt Soziale Verteidigung den Ansatz, dass die Macht vom Volk ausgeht, und konzentriert sich auf die Frage, was wir schützen wollen und wie wir es schützen wollen.
Wenn wir uns diese Frage stellen, kommen wir zum Schluss, dass uns intakte Städte, eine funktionierende Infrastruktur und der Erhalt von Flora und Fauna einschließlich der Landwirtschaft wichtig sind – Elemente, die nicht durch militärische Verteidigung geschützt werden können. Das besondere an der Sozialen Verteidigung ist der Verzicht auf eine gewaltsame Reaktion auf Gewalt. Sie ist damit ein dritter Weg zwischen gewaltsamer militärischer Verteidigung und Kapitulation.
Gewaltfrei zu handeln, bedeutet nicht, vor Gewalt geschützt zu sein. Denn wie alle Formen des Kampfes ist auch gewaltfreies Handeln mit Risiken verbunden – manchmal mit schwerwiegenden Risiken. Gewaltfreie Bewegungen ziehen im allgemeinen weniger tödliche Repressionen nach sich als bewaffnete Bewegungen. Dennoch wird Widerstand fast immer Sanktionen nach sich ziehen. Gewaltlose Aktivist:innen müssen also damit rechnen, dass sie unterdrückt werden, wenn ihre Bewegung eine Bedrohung für die andere Seite darstellt.
Im Laufe der Zeit haben Demonstrierende verschiedene Strategien entwickelt, Unterstützerkreise aufgebaut und gelernt, effektiv mit den Medien zusammenzuarbeiten. Doch auch Regierungen und Aktivist:innen der Gegenbewegung haben eine steile Lernkurve durchlaufen und sind zunehmend geschickter darin geworden, soziale Bewegungen zu behindern und zu unterdrücken.
Im Gegensatz zum militärischen Widerstand können sich praktisch alle am gewaltfreien Widerstand beteiligen, da keine spezielle Ausbildung oder körperliche Fitness erforderlich ist. Außerdem können Taktiken leichter geändert und angepasst werden. Voraussetzungen und Bedingungen für eine erfolgreiche Soziale Verteidigung sind die Einbeziehung möglichst vieler unterschiedlicher Menschen, der konsequente Verzicht auf Gewalt und die Fähigkeit, die Reihen der Gegner zu spalten.
Ein Blick auf die Forschung
Die theoretischen Argumente für gewaltfreien Widerstand werden von der Forschung gestützt. Erica Chenoweth und Maria Stephan veröffentlichten im Jahr 2011 das Buch »Warum ziviler Widerstand funktioniert. Die strategische Logik des gewaltlosen Konflikts«. Darin untersuchten sie 323 gewaltsame und gewaltlose Aufstände zwischen 1990 und 2006 – darunter auch solche gegen repressive Regime und militärische Besatzungen.
Die Autor:innen räumten mit der weit verbreiteten Überzeugung auf, dass es zum Rückgriff auf Gewalt in bestimmten Situationen keine erfolgversprechende Alternative gebe. Das Argument, die Anwendung von Gewalt sei der einzig effektive Weg, um Zugeständnisse von einem repressiven Gegner zu erlangen, sei nicht belegbar und gewaltfreier Widerstand strategisch im Vorteil. Gewaltfreier Widerstand habe eine fast doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, teilweise oder vollständig erfolgreich zu sein, wie gewaltsamer Widerstand.
Im Jahr 2021 führte Erica Chenoweth eine zweite Studie durch, in der sie die Fallzahl von 323 auf 627 erhöhte und den Zeitraum von 1900 bis 2019 ausweitete. Das Ergebnis: Zwar sank die Erfolgsquote des gewaltfreien Widerstands über den gesamten untersuchten Zeitraum auf 50 Prozent, zwischen 2010 und 2019 waren nur noch 34 Prozent aller gewaltfreien Widerstände erfolgreich. Gleichzeitig vergrößerte sich jedoch der Abstand zu militärischen Mitteln, die in diesem Zeitraum nur zu rund 9 Prozent erfolgreich waren.
Chenoweth kommt zu dem Schluss, dass bewaffnete Auseinandersetzungen immer seltener erfolgreich sind, ein Abwärtstrend, der seit den 1970er Jahren eingesetzt habe. Erfolgreicher gewaltfreier Widerstand führe um ein Vielfaches wahrscheinlicher zu Demokratie und zivilem Frieden, während gewaltsamer Widerstand Demokratie verhindere und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Bürgerkriegs erhöhe.
Erfolgreiche Beispiele
Die sog. »Unterdrückungsjahre« zwischen 1899 und 1905 lösten in Finnland, das damals eine autonome Region Russlands war, verschiedene Formen des »passiven« Widerstands aus. Der Widerstand war gewaltfrei und basierte auf den Prinzipien »nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht kooperieren«.
Aus Protest gegen die sog. Russifizierungspolitik von Zar Nikolaus II. führten viele Beamte die Befehle des russischen Generalgouverneurs nicht aus. Junge Männer boykottierten die Musterung, russische Post wurde nicht zugestellt und die Polizei duldete Demonstrationen gegen die neuen Gesetze des Zaren.
Der passive Widerstand trug seinen Teil dazu bei, dass in den Jahren 1905–1907 nach einer umfassenden Wahlrechtsreform alle Bürger:innen Finnlands wählen durften und die verhängten Maßnahmen des Zaren zurückgenommen wurden.
Ein weiteres Beispiel ist der Generalstreik während des Kapp-Putschs in Deutschland 1920. Der Putsch richtete sich gegen die Absicht der Regierung, im Zuge des Versailler Vertrags die Wehrmacht drastisch zu verkleinern und die von ehemaligen Soldaten organisierten Freikorps aufzulösen. Ein wesentlicher Grund für das Scheitern des Putsches war die Lähmung des öffentlichen Lebens durch den Generalstreik, der auch vom Deutschen Beamtenbund unterstützt wurde.
Der Ruhrkampf 1923 war eine vorwiegend mit zivilen Mitteln geführte Protestaktion im Ruhrgebiet, als französische und belgische Truppen 1923 das Gebiet besetzten, um Reparationen in Form von Kohle und Stahl einzutreiben, nachdem Deutschland seinen im Versailler Vertrag eingegangenen Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen war. Die Reichsregierung rief die Bevölkerung zum passiven Widerstand (Streik) auf. Der Widerstand wurde nach knapp neun Monaten abgebrochen; es folgten Verhandlungen, die zum Rückzug Frankreichs und Belgiens führten.
Beispiele aus der Ukraine
In der Ukraine gibt es verschiedene Beispiele für gewaltfreien Widerstand. Dazu gehören Protestmärsche und Demonstrationen innerhalb und außerhalb der angegriffenen Städte, Straßenblockaden, um Panzern und anderen Fahrzeugen den Zugang zu Städten und wichtiger Infrastruktur zu verwehren, das Entfernen von Straßenschildern, direkte verbale Konfrontationen mit russischen Soldat:innen und die Beschlagnahmung russischer Militärfahrzeuge.
Ein solcher Widerstand kann den Vormarsch der Truppen verzögern und sie desorientieren, logistische Hindernisse schaffen und die Moral schwächen. Die Verzögerung gibt der Zivilbevölkerung Zeit, zu fliehen oder humanitäre Hilfe zu koordinieren.
Eine Besonderheit der Ukraine sind die biografischen und familiären Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland. Diese Gemeinsamkeiten haben dazu beigetragen, die Dämonisierung der Ukraine durch die russische Propaganda zu unterlaufen. Zudem sprechen viele Ukrainer Russisch, weshalb sie die russischen Soldaten auch ansprechen konnten.
Ein weiteres Beispiel ist die Wehrdienstverweigerung in Russland. Auch wenn die genaue Zahl der Kriegsdienstverweigerer nicht bekannt ist, stellt der Mangel an Truppen eines der größten Hindernisse für Russland in der Ukraine dar.
Natürlich kann und darf niemand den Menschen in der Ukraine vorschreiben, wie sie sich zu verteidigen haben. Gleichzeitig gibt es aber auch keine Pflicht zur militärischen Unterstützung, zumal es Alternativen zum Griff zur Waffe gibt.
Alle, die sich jetzt für Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen, damit andere den bewaffneten Kampf gegen Russland aufnehmen, sollten die Folgen ihres Handelns bedenken, zumal Krieg in einer solchen Situation nicht das letzte, sondern das schlechteste Mittel der Selbstverteidigung ist.
Zu guterletzt lässt sich sagen, dass Soziale Verteidigung, wie andere Formen des gewaltfreien Widerstands auch, immer unter dem Vorbehalt des »Unrealistischen« steht. In weiten Teilen von Politik und Gesellschaft herrscht die Überzeugung vor, dass nur Gewalt gegen Gewalt helfe. Deshalb macht es wenig Sinn, Soziale Verteidigung isoliert als Alternative zu propagieren.
Statt dessen muss Soziale Verteidigung in ein umfassenderes Werte- und Handlungskonzept eingebettet sein. Nur wenn die Gesellschaft davon überzeugt ist, ihre eigene Lebenswelt ohne Waffen und mit minimaler Zerstörung der Lebensgrundlagen verteidigen zu können, kann Soziale Verteidigung erfolgreich sein. Denn Soziale Verteidigung kann nicht »verordnet« werden in dem Sinne, dass die Bevölkerung einfach zivile Widerstandsformen trainiert.
Quelle: imi@online.de; von der Redaktion gekürzt.
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