Ganz Europa rüstet auf – aber es kommt sich dabei nicht näher
Gespräch mit Claude Serfati
Deutschland und Frankreich bilden das Rückgrat der Europäischen Union, deren Zusammenhalt hängt – insbesondere nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU – davon ab, dass beide Länder einen gemeinsamen Kurs finden. In dieser Partnerschaft knirscht es schon seit längerem. Der dramatische Militarisierungsschub seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine weckt in einschlägigen Kreisen die Hoffnung, das Manna, das nun auf die Rüstungsindustrie niederregnet, werde aus der Rezession herausführen und die EU im Kampf gegen Russland zusammenschweißen: Deutschland und Frankreich vorneweg. Doch das Gegenteil kann passieren.
Claude Serfati arbeitet seit Jahren zur Rüstungsindustrie und ihrer geopolitischen Funktion. Er sieht, dass sich Frankreich und Deutschland auseinanderentwickeln.
Mit ihm sprachen Hélène Marra und Nicolas Menna für die französischsprachige Zeitschrift Inprecor.
Ihre Arbeit über die Rüstungsindustrie und deren geopolitische Funktion ist sehr aktuell. Wir erleben seit mehreren Jahrzehnten eine Krise der Rentabilität des Kapitals und die Zunahme von Kriegen. Brennpunkte sind der Nahe Osten, Afrika und nun auch Europa mit der russischen Aggression in der Ukraine. Nach dem teilweisen militärischen Rückzug der USA scheinen die europäischen Staaten, die die Perspektive eines grünen Kapitalismus aufgegeben haben, unter dem Vorwand der russischen Bedrohung eine »militaristische Wende« einzuleiten.
Wir müssen von der Tatsache ausgehen, dass die Wahl Trumps und die von ihm ergriffenen Maßnahmen eine Periode des Chaos und der Unwägbarkeiten eingeleitet haben. Selbst Trump weiß nicht genau, wohin das führen wird.
Seit Ende der 2000er Jahre ist der Kapitalismus in eine neue Situation eingetreten – ich nenne das den »Moment 2008«, der sich sowohl in einer Wirtschafts- und Finanzkrise als auch in einer erheblichen Verlangsamung der Kapitalakkumulation äußerte.
Das zweite grundlegende Element ist die geopolitische und wirtschaftliche Zurückdrängung der USA durch das aufstrebende China. Das dritte sind die physischen und ökologischen Grenzen, die die Natur den Ansprüchen des Kapitals setzt. Daher kann Akkumulation nur nach zunehmender Verletzung der Naturgesetze erfolgen. Das hat Folgen für die Zerstörung der Natur und die Verknappung der Ressourcen und erklärt die Dringlichkeit, mit der Trump das Ziel verkündet, Grönland und Kanada zu annektieren, um die mineralische Ressourcenbasis der USA zu erweitern.
Diese Situation besteht seit dem »Moment 2008«. US-Regierungen unter Obama und später Biden haben versucht, den unaufhaltsamen wirtschaftlichen, geopolitischen und damit auch militärischen Aufstieg Chinas einzudämmen und sich dabei weiterhin auf das zu stützen, was ich »den transatlantischen Block« nenne, der seit 1945 vorherrscht.
Diese Strategie hat weder den Aufstieg Chinas noch den Niedergang der USA und schon gar nicht die Umweltzerstörung eindämmen können, die den Zugang zu Ressourcen immer schwieriger macht. Vor diesem Hintergrund tritt ein autokratischer Charakter wie Trump die Flucht nach vorn an und steuert dabei auf einen Abgrund zu, in dem die Weltwirtschaft und die Menschheit unterzugehen drohen. Trump stiftet Chaos, und er weiß nicht, ob er einen Vorteil daraus ziehen wird.
Wie fügt sich die europäische Politik in dieses Szenario?
Anders als einige lange Zeit glaubten, gibt es nicht nur einen einzigen Superimperialismus auf der Welt, der die europäischen Bourgeoisien unterjocht.
Seit den 90er Jahren war mein Anliegen immer, die innerimperialistischen Rivalitäten zu identifizieren, nicht nur mit China, sondern auch innerhalb des transatlantischen Blocks.
Natürlich hat die militärische Dominanz der USA den Ausbruch eines Krieges zwischen den Ländern dieses Blocks verhindert. Die außergewöhnliche Situation heute drängt uns, eine fast tabuisierte Frage zu stellen: Kann es einen bewaffneten Krieg zwischen den USA und Europa geben? Natürlich antworte ich heute mit Nein, aber man muss verstehen, dass allein die Tatsache, dass die Frage gestellt wird, auf das Ausmaß der innerimperialistischen Rivalitäten und die Rolle, die Trumps Offensive dabei spielt, verweist.
Das ist eine sehr wichtige Dimension, die den EU-Führern »Vorwände liefert«, um die Militarisierung zu beschleunigen. Ich würde nicht sagen zu remilitarisieren, denn tatsächlich ist sie bereits seit langem militarisiert – nicht nur Deutschland und Frankreich, auch Großbritannien. Und an den geopolitischen Spielen um Libyen sieht man, dass selbst Italien, das doch ein Überbleibsel des Imperialismus ist, noch Ambitionen hat.
Wenn es auch keinen Bruch gibt, so ist der Plan »Europa wiederbewaffnen« dennoch sehr wichtig. Zum einen hat die EU ihre Militärausgaben seit 2014 bereits um mehr als 50 Prozent erhöht. Zum anderen sind die Militärausgaben der EU, selbst gemessen an heutiger Kaufkraftparität, höher als die Russlands.
Ich behaupte nicht, dass Europa stärker bewaffnet ist als Russland, das wäre absurd, aber es ist genauso absurd zu erklären, dass Europa nicht genug ausgibt, um Russland die Stirn zu bieten, wenn man die Zahlen kennt. Es gibt also unbestreitbar einen militaristischen Schub seit den 2010er Jahren.
Dann gibt es diese enorme Menge Geld, die von der Kommission angekündigt wurde, und die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, sowohl den Großteil der Ausgaben als auch die Verantwortung für die Militarisierung zu übernehmen. Die Ausgabenerhöhung dehnt vor allem die nationalen militärisch-industriellen Systeme aus.
Ich habe mir den deutschen Plan angesehen, das Verbot des Haushaltsdefizits aufzuheben.* Zwar gibt es sowohl in Deutschland als auch in Frankreich eine stärkere Militarisierung, aber es gibt einen großen Unterschied: Mehr als die Hälfte dieser Billionen wird für die Energiewende und die Infrastruktur zur Verbesserung von Straßen, Transportwegen usw. verwendet.
Daran wird deutlich, dass Deutschland im Vergleich zur französischen Industrie, die sich immer mehr auf die Rüstung zurückzieht, sein Ziel, die stärkste Volkswirtschaft in der EU und wahrscheinlich die zweitstärkste in der Welt zu sein, nicht aufgeben kann, wenn es nicht untergehen will.
Die Existenzweise Frankreichs besteht immer mehr darin, seinen internationalen militärischen Status zu bewahren und damit sein militärisch-industrielles System zu stärken. Mit dramatischen Folgen für Arbeiter:innen, Migrant:innen und Jugendliche, deren Rechte und demokratischen Freiheiten im Rahmen eines verschärften »sozialen Krieges«bedroht sind. Alle EU-Länder verfolgen den Plan sich zu militarisieren, aber es gibt nationale Besonderheiten.
Man muss also zwischen einem wirtschaftlichen Militarismus wie dem Deutschlands und einem französischen Militarismus unterscheiden. Der französische Imperialismus ist heute in der Krise, er verliert Einfluss in Afrika und leidet unter der wirtschaftlichen Konkurrenz Deutschlands und anderer Mächte.
Die Schwäche Frankreichs besteht nicht nur gegenüber China oder den USA, sondern auch gegenüber Europa. Ab den 90er Jahren wurde sehr schnell klar, dass die französische Ambition, Europa zu dominieren, illusorisch war. Die Regierungen nährten daraufhin die Hoffnung, der »Wettbewerbsvorteil« Frankreichs innerhalb Europas beruhe auf dem Militär. Da die Militarisierung der EU unvermeidlich war, lebten die französischen Politiker in dem Glauben, dass ihr Land in diesem Bereich führend sein werde.
Nun hat Frankreich bereits einen geopolitischen Rückschlag in Afrika, im Libanon und im Nahen Osten erlebt, doch der Krieg in der Ukraine hat endgültig die Illusion begraben, das Land könne die Rolle des Regenten der europäischen Verteidigung spielen. Heute bereitet man sich in Frankreich darauf vor, die Militärausgaben, die 2025 bei etwa 50 Milliarden Euro liegen, auf 70 Milliarden oder sogar 90 Milliarden Euro zu erhöhen. Es ist offensichtlich, dass dieses Geld aus den Sozialausgaben genommen werden muss, was konkret bedeutet, dass die Ausbeutung der Lohnabhängigen verstärkt wird.
In Frankreich stellt der wirtschaftliche Rückschlag heute mehr als anderswo die Frage nach Butter oder Kanonen. Es ist daher sehr wichtig, zu untersuchen, wie sehr sich die Lage zwischen Deutschland und Frankreich auseinanderentwickeln wird, denn wenn sich beide Länder militarisieren, tun sie dies vor dem Hintergrund sehr verschiedener wirtschaftlicher und internationaler Kontexte und sehr unterschiedlicher innenpolitischer Verhältnisse.
*[Die Schuldenbremse wurde nur teilweise aufgehoben. Die Investitionen in die Infrastruktur dienen vorrangig dazu, sie kriegstauglich zu machen (siehe S.10f.).]
Das Interview wurde am 11. Juli 2025 geführt. Gekürzt aus Inprecor Nr. 733.
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