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Arbeitskämpfe 1. Mai 2023

Zweistellige Inflationsraten und eine Tarifrunde im öffentlichen Dienst, die aus dem Rahmen fällt, das gab es schon einmal in Deutschland – vor fast 50 Jahren
von ak

Da ist zunächst die Inflation. Nach der Rezession 1966/67, der stärksten seit den 50er Jahren, die einen Rückgang des Wirtschaftswachstums, aber kein Minuswachstum brachte, kletterte die Konjunktur sehr schnell wieder auf einen Höhepunkt 1970 mit Wachstumsraten um die 5,6 Prozent – auch dank der Konzertierten Aktion, die der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller in die Wege leitete.

1967 wurde ein Stabilitätsgesetz verabschiedet, das zur wirtschaftlichen Stabilisierung die Einbeziehung von Bund, Ländern und Gemeinden, der Bundesbank sowie den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften vorsah. Auf dieser Basis wurden Lohnleitlinien vereinbart, die den Gewerkschaften eine Obergrenze für Tarifabschlüsse diktieren sollten. Die Gewerkschaften verließen diese Runde erst 1977, weil die Arbeitgeberverbände Verfassungsklage gegen das neue Mitbestimmungsgesetz eingereicht hatten.
Im Juni 2022 wurde die Konzertierte Aktion wiederbelebt.
1970 knickte die Konjunktur erneut ein und erreichte 1972 einen Tiefpunkt. In dieser Talfahrt zog die Inflation erstmals deutlich an. Stieg das Preisniveau im Durchschnitt der Jahre 1962–1968 um 2,6 Prozent, so erreichte es 1971 und 1972 jeweils 5,2 und 5,8 Prozent; 1973 einen Höhepunkt von 7,1 Prozent. Diese Inflation war damals durch die Ausweitung der Kredite induziert.
Gegen die hohen Preissteigerungen beschloss die Bundesregierung ein zweites Stabilitätsprogramm, das versucht, auf verschiedenen Wegen die Nachfrage einzuschränken, um die Preise zu deckeln: durch eine 10prozentige Stabilitätsabgabe auf die Einkommensteuer; durch Kürzung der öffentlichen Ausgaben um 10 Prozent; durch Kürzung der Nettokreditaufnahme der öffentlichen Hand; durch Stilllegung aller Steuermehreinnahmen; aber auch durch Erhebung einer 11prozentigen Investitionssteuer. Die Bundesbank unterstützte diese Politik durch eine Verteuerung der Kredite mittels einer Hochzinspolitik.

Da ist sodann die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften. Ende 1972 handelte die IG Metall einen Abschluss von 8,5 Prozent plus einem Pauschalbetrag von 100 DM aus. In vielen Betrieben waren aber Lohnforderungen von 15 bis 17 Prozent gestellt worden. In der Eisen- und Stahlindustrie konnte dieser Abschluss erst in der zweiten Urabstimmung durchgesetzt werden; er erhielt 25,97 Prozent – das reichte dem Vorstand; laut Satzung ist ein Ergebnis angenommen, wenn es 25 Prozent Zustimmung erreicht.
Die Arbeiter in der Eisen- und Stahlindustrie, im Maschinenbau und in der Autoindustrie quittierten das mit einer Welle spontaner Streiks, in denen sie versuchten, sich die fehlenden Prozente durch einen betrieblichen Nachschlag zu holen. Den Reigen eröffneten die Kollegen bei Hoesch in Dortmund; er setzte sich fort über Mannesmann in Duisburg-Huckingen, Pierburg in Neuss, Opel in Bochum, der Gutehoffnungshütte in Oberhausen, Ford in Köln, Hella in Lippstadt.
Ähnliche Entwicklungen gab es bei den Druckern: sie setzten nach einem »Zeitungsstreik« eine durchschnittliche Lohnerhöhung über 11 Prozent durch, in den unteren Lohngruppen erreichten sie Verbesserungen von 13,5 und bis zu 17 Prozent. Im Windschatten der Drucker setzte die IG Chemie kampflos 9,9 Prozent durch, bei der BASF erreichten die Kollegen 10,8 Prozent. Die ÖTV, die Post- und die Eisenbahnergewerkschaft bekamen eine Tariferhöhung von 6 Prozent und einen Sockelbetrag von 40 DM. Auch hier entlud sich die Unzufriedenheit in einigen Warnstreiks, vor allem bei der Post; sie erreichten aber nicht die Ausmaße wie im Metallbereich.

Und dann ist da der Streik im öffentlichen Dienst. In der Tarifbewegung 1974 hatte die IG Metall der ÖTV den Vortritt gelassen, weil sie sich davon erhoffte, nicht wieder so stark unter Druck zu geraten. Die ÖTV forderte Lohn- und Gehaltserhöhungen um 15 Prozent, mindestens aber 185 DM, 300 DM Urlaubsgeld, 600 DM Ausbildungsvergütung – insgesamt ein Paket von 18 Prozent. Die Erwartungen der Mitglieder lagen deutlich höher, Bund und Länder wollten deutlich weniger geben, boten aber nach mehreren Verhandlungen 9,5 Prozent. Willy Brandt sprach ein Machtwort: Keine Lohnerhöhung über 10 Prozent! Die ÖTV und parallel zu ihr die Deutsche Postgewerkschaft und die Gewerkschaft der Eisenbahner setzten Urabstimmungen an, die Zustimmungen von 79 bis 90 Prozent erhielten, An dem Streik beteiligten sich 560000 Beschäftigte. Er endete mit einem Abschluss von 11 Prozent, mindestens aber 170 DM. Das Lohndiktat war gebrochen.

Siehe die Beschreibung des Streiks auf S.24.

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