Wer ist Imamoglu und was macht er anders als Erdogan?
von Serdar Kazak
Der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu wurde am 19. März festgenommen. Das hat eine unerwartete und fast beispiellose Reaktion hervorgerufen.
Die Studierenden an der Universität Istanbul haben zunächst einen unauffälligen Protestmarsch in Richtung Rathaus gestartet. Studierende mehrerer anderer Universitäten folgten.
Kurz darauf war die CHP (Republikanische Volkspartei), bis dahin eine eher zahme Oppositionspartei, gezwungen das Volk aufzurufen, auf die Straße zu gehen. Ausnahmslos alle sozialistischen Parteien und Gruppen haben den Aufruf unterstützt. Noch am gleichen Tag versammelten sich mehr als 100.000 Menschen vor dem Rathaus von Istanbul.
Seitdem strömen immer größer werdende Menschenmassen im ganzen Land auf die Straßen und Plätze. Sogar in kleinen anatolischen Städten, die eigentlich Hochburgen der AKP sind, hat es Massenproteste gegeben. Brutale Polizeigewalt, der Einsatz von Tränengas, Knüppeln und Gummigeschossen konnten die Protestdemonstrationen bis jetzt nicht stoppen oder zurückdrängen.
Ein historischer Vergleich
Erfahrung mit einer ähnlich starken Protestwelle hatten wir in der Türkei vor knapp zwölf Jahren. Im Jahr 2013 wollte die Stadtregierung von Istanbul ein relativ kleinen Park im Stadtzentrum abreißen und ein Einkaufszentrum dorthin bauen. Das verursachte zunächst eine unauffällige Protestaktion: Umweltaktivist:innen schlugen im Park ein Protestcamp auf. In den ersten Tagen sah die Aktion eher aus wie ein kreative Protest der Grünen in den 80er Jahren in Deutschland. Danach waren über hunderttausend Menschen in dem Park.
Der Juni-Aufstand vor zwölf Jahren entwickelte sich zu einem landesweiten Massenprotest von Millionen Menschen und dauerte über sechs Wochen. Es wurden Stadtzentren in mehreren Städten erobert. Es gab aber ein großes Hindernis: Keiner wusste, wie es weitergehen sollte. Es gab kein Programm, keine Organisation. Man wollte einfach dass, die Bäume im Gezi-Park bleiben, und sie sind geblieben.
Kurioserweise waren 80 Prozent der Protestierenden nicht im Gezi-Park gewesen, sie lebten nicht mal in Istanbul. Und keiner war in der Lage, so eine spontane Massenbewegung zu führen. Eines Tages hat es plötzlich angefangen und eines anderen Tages ist es genauso spurlos abgeklungen.
Bei den jetzigen Protesten sehen wir sehr ähnliche Szenen wie damals vor zwölf Jahren. Wie lange die jetzige Protestbewegung dauert und ob irgendetwas von ihr Bewegung bleiben wird, werden wir sehen.
Zwillingsbrüder
Etwas müssen wir aber feststellen: Die Menschen, die heute auf der Straße sind, verfolgen ein konkreteres Ziel als damals. Sie wollen Ekrem Imamoglu aus dem Knast freibekommen, auch wenn sie nicht viel von ihm halten.
Imamoglu ist »der aussichtreichste Kandidat gegen Erdogan«, beschreibt ihn die ARD. Das stimmt. Kein anderer Kandidat ist in der Lage, ein so ein breites Spektrum an sich zu binden wie Imamoglu. Er begeistert Menschen in nationalistischen Städten, aber auch in Kurdistan.
Erdogan und Imamoglu sind wie Yin und Yang, gegensätzliche aber sich ergänzende Teile einer Einheit. Beide pflegen enge Beziehungen zur Bauindustrie, Imamoglu sogar bessere als Erdogan, weil seine Familie dazu gehört. Sogar die Firmen, die sie bei der Auftragsvergabe bevorzugen, sind die gleichen.
Es sind wirklich Teile des gleichen Bildes, doch mit einigen Unterschieden.
Erdogan kommt von einer extrem armen Familie an der Schwarzmeerküste. Imamoglu kommt ebenfalls aus diesem Gebiet, aber als Sohn eines Bauunternehmers. Erdogan hat ein Predigergymnasium besucht, das die Kinder der ärmeren Familien frequentieren. Eine universitäre Bildung kann er nicht nachweisen. Ob er die Predigerschule erfolgreich beendet hat, weiß keiner. Was man weiß ist, dass er beim Koranunterricht durchgefallen ist.
Imamoglu war auch ein schlechter Schüler. Er hat in Nordzypern an der privaten Amerikanischen Universität studiert und wechselte später zur Istanbuler Universität. Beider Familienverhältnisse stehen symbolisch für die unterschiedlichen Lebensweisen in der Türkei.
Erdogans Frau trägt von Kopf bis Fuß streng islamische Kleidung und geht einen Schritt hinter ihrem Mann. Imamoglu spielt vor den Kameras Tennis mit seiner leicht bekleideten Ehefrau. Beide Männer waren in ihren Jugendjahren talentierte Fußballspieler. Beide haben semiprofessionell Fußball gespielt, mit einem kleinen Unterschied: Erdogan war Stürmer, Imamoglu Torwart.
Stürmer und Torwart trafen bis jetzt viermal in unterschiedlichen Wahlen indirekt aufeinander und jedesmal hat der Torwart mit Abstand gewonnen. Das ist ein Zusammenstoß der Kulturen in einem Mikrokosmos. Welche davon einen größere Basis hat, werden wir sehen.
Wie aussichtsreich sind die Proteste?
Die Proteste haben auf jeden Fall größere Chancen als vor zwölf Jahren. Es gibt eine konkrete Forderung und eine zentrale Organisation, auch wenn diese Organisation nicht optimal ist. Es gibt aber immer noch große Hindernisse. Die Türkei ist ein wirtschaftlich abhängiges Land. EU und USA haben Möglichkeiten, in diesem Land Politik zu gestalten. Die Türkei hat unverzichtbare Beziehungen zu Russland, das macht den großen Nachbarn ebenfalls zu einem Akteur, den man berücksichtigen muss. Und aus unterschiedlichen Gründen möchte niemand einen Regierungswechsel in der Türkei.
Die Demonstrationen werden ihre Spuren hinterlassen. Sie werden Erdogan und die AKP schwächen. Aber eine kurzfristige Freilassung von Imamoglu oder ein Sturz der Regierung wäre für mich eine Überraschung. Ich hoffe, ich irre mich.
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