›Die Kinder von Gezi sind erwachsen und sind jetzt hier‹
von Ayse Tekin
Jede Bewegung ist ein Ergebnis seiner Zeit und der Umstände. Das gilt auch für den unerwarteten Märzaufstand der Studierenden in der Türkei.
Es begann mit der Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters und wichtigsten Gegenkandidaten von Präsident Erdogan bei den nächsten Präsidentschaftswahlen, Ekrem Imamoglu. Am 18.März wurde dessen Diplom von der Istanbuler Universität mit denen von weiteren 27 Absolvent:innen wegen Formfehler aberkannt. Am 19.März morgens früh wurde er dann festgenommen und am 23.März verhaftet.
Am Tag der Festnahme organisierten die Studierenden der Universität einen Protest gegen die Aberkennung des Diploms. Schließlich fühlten sie sich betroffenen, da auch ihr Diplom nach dreißig Jahren aberkannt werden könnte.
Als die Polizei sie in einen Kessel zwang, um ihren Protest aufzugeben, weitete dieser sich aus und forderte nun »Freiheit!« Die Studierenden rissen die Polizeiabsperrungen nieder und liefen von der Universität in Beyazit zum Amt des Bürgermeisters in Sarachane. Kein großer Marsch, zu Fuß in zwanzig Minuten zu schaffen, aber der Anfang einer breiteren Protestbewegung, die eine Woche lang anhielt: Jeden Abend sammelten sich zunächst Zehntausende, dann Hunderttausende.
Die CHP (Republikanische Volkspartei), die als sozialdemokratische Partei der Türkei bekannt ist, hatte die Führung übernommen, übernehmen müssen, zumal der verhaftete Oberbürgermeister aus dem Gefängnis dazu aufgerufen hatte, die Bewegung größer zu machen. Die März-Bewegung wurde durch die Verhaftung von Imamoglu mobilisiert und entfacht, doch das war nur der Anlass, nicht die Ursache für diese soziale Bewegung.
Ihre Wucht übertraf die Möglichkeiten der CHP-Führung. Sie wurde schließlich dort, wo sie angefangen hatte, in Beyazit-Sarachane, beendet und in die anderen Stadtteile und Städte getragen. So versuchte der CHP-Vorsitzende Özgür Özel den Druck der Studierendenproteste zu mildern und in anderen Gebieten der Türkei, vom Westen bis Osten, Massen zu mobilisieren. Er hatte auch gewisse Erfolge, dennoch haben die Studierenden bei der letzten Demonstration wieder in Beyazit, wo alles begann, Massen auf die Straße gebracht.
Wer ist dabei?
In der Türkei hat die Zunahme der Universitätskapazitäten sowohl das Klassen-, als auch das kulturelle Profil der Studierenden verändert. Da Stipendienmöglichkeiten selten und unzureichend sind, sind sie in erster Linie verarmt.
Andererseits gilt auch für die Türkei, dass die seit Mitte der 90er Jahre geborenen Generationen weltweit die Generation ist, die zu härteren und schlechteren Bedingungen verurteilt ist als ihre Elterngeneration. In einer Zeit, in der bezahlte Arbeit kaum Zukunftssicherheit bietet, sind diese Proteste eine Explosion der aufgestauten Wut.
Sie haben mit der harten Reaktion des Staates – über 1800 Festnahmen und 300 Haftbefehle – auch erkannt, dass ihre Rechte aus der Verfassung nur auf dem Papier stehen. Grund der Verhaftungen ist die Teilnahme an den Demonstrationen. Die Verfassung der Türkei sagt im Artikel 34, dass »jeder, ohne nach einer Erlaubnis zu fragen, an Demonstrationen ohne Gewalt teilnehmen und zu diesen aufrufen darf«. Deshalb heißt die Parole der Bewegung jetzt »Recht, Gesetz, Gerechtigkeit!«
In der ersten Woche der Proteste waren auch Gymnasiast:innen dabei. Über 20.000 Gymnasiallehrer waren mit der Begründung suspendiert worden , sie seien »überflüssig«. Daraufhin organisierten Schüler:innen Proteste mit der Aufforderung: »Fasst meinen Lehrer nicht an.« Auch Eltern und Lehrer beteiligten sich an den Aktionen. Die Entscheidung des Ministeriums kam in einer Zeit, in der auch die Schüler:innen sich ermutigt fühlten zu protestieren. Die Bewegung der Studierenden zeigte hier Wirkung.
Nachdem die CHP notgedrungen die Führung der Proteste übernommen hatte, beteiligten sich auch ihre Mitglieder massenweise an den Demonstrationen. Ihr Motto war: »Befreiung gibt es nicht alleine, entweder alle oder keine!« Das ist eine Parole, die Ende der 70er Jahre von den damaligen sozialistischen Gruppen gerufen wurde.
Die gewerkschaftliche Beteiligung blieb allerdings bescheiden. DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften) rief zu einem halbtägigen Streik auf, der mittags anfing und in ein paar Demonstrationen mit geringer Beteiligung endete. Mitglieder der KESK (Konföderation der im öffentlichen Dienst Beschäftigten) demonstrierten für die Freilassung der verhafteten Jugendlichen in Beyazit, wo alles angefangen hatte.
Was ist besonders an der Generation Z?
Die Jugendlichen werden in der Türkei Generation Z genannt, bisher wurden sie als unpolitisch bezeichnet. Laut Umfragen wollen sie entweder die Türkei verlassen oder sie sind nationalistisch eingestellt. Mit ihren Demonstrationen haben sie diese Abstempelung widerlegt und gezeigt, dass sie auch politisch aktiv sein können. Ihre Bewegung hat Humor. Ein Teilnehmer kam mit einem Pikachu-Kostüm* zur Kundgebung. Das Video, wie er vor dem Angriff der Polizei weglief, ging viral. Später erklärte er seine Tat mit den Worten, dass er die Teilnehmenden zum Lachen bringen wollte.
Die Emojis auf den Plakaten waren genauso lustig wie die Sprüche darauf. Es gab auch Sprüche mit Bezug auf die Vergangenheit, wie das Kürzel Dev GenZ statt Dev Genc (Revolutionäre Jugend), eine bekannte sozialistische Organisation der 68er Bewegung. Ein anderer Spruch war: »Die Kinder von Gezi sind erwachsen und sind jetzt hier«, er bezog sich auf die Protestbewegung im Istanbuler Gezi-Park vor zwölf Jahren.
Soziologen erklären den Ansatz der Jugend, mit ironischen, visuellen und sogar absurden Elementen statt mit harten politischen Botschaften zu reagieren, als Versuch, ihre Andersartigkeit zu zeigen. Sie wissen teilweise von alten Kämpfen und deren Niederlagen. Ein Student erklärte in einem Interview, als Kind habe er gerätselt, was die Gezi-Teilnehmenden gemacht haben könnten, dass sie so hart angegangen wurden. Nun hat er es verstanden, denn seine bloße Teilnahme an einer Demonstration hatte zur seiner Verhaftung geführt. Er hat verstanden, dass er jetzt als sog. »Terrorist« gesehen wird.
Das ist eine Erkenntnis, die man nicht vergisst. Was die Studierenden mit humorvollen Beiträgen sagen wollen, ist nicht, dass »sie es nicht ernst meinen«, sondern eher dass »sie sich gültigen Ernsthaftigkeitscodes nicht verpflichtet« fühlen. Diese Generation ist stärker mit der digitalen Welt vertraut und hat eine globale Sicht.
Sie merkt allerdings, dass die digitale Verbundenheit ihnen nicht die Türen zur Welt öffnet. So bleiben sie lieber in ihrem geschützten Raum. Die Generation Z wird nationalistisch, weil sie globale Zugänge kennt. Bei all der Vergänglichkeit, Geschwindigkeit und Unsicherheit wirkt Identität als der sicherere Hafen.
Zu Anfang der Proteste waren massenhaft türkischen Fahnen zu sehen und eine rechtsextreme Sprache wurde laut. Das wurde von anderen Jugendlichen nicht angenommen, sie riefen dazu auf, diesen Stil aufzugeben. Aus den Protesten sind zwei lockere Organisationen entstanden: Studierendenkollektive und eine Studierendenkoordination. Die Jugendlichen von Parteien wie TIP (Arbeiterpartei der Türkei) oder EMEP (Partei der Arbeit) sowie von anderen linken Gruppierungen sind bei den Aktionen auch aktiv, aber nicht bestimmend.
Was könnte werden?
Ein wichtiges Merkmal und vielleicht auch eine Schwäche dieser Bewegung, die hunderttausende Menschen auf die Straße brachte und die politischen Machtverhältnisse beeinflusste, ist ihre »Strukturlosigkeit«. Die Bewegung entstand nicht aus einer Periode der organisierten Opposition. Sie war eher eine Explosion der Wut, einer weitgehend unstrukturierten sozialen Explosion.
In der gegenwärtigen Situation ist die CHP die einzige Struktur, die der Bewegung eine Kontinuität und eine gewisse Richtung geben kann. Doch Imamoglu und die CHP sind sehr geneigt, die Bewegung »strukturell« als ein kontrollierbares Verhandlungsinstrument zu betrachten und sie mittelfristig zu absorbieren, ggf. davon an der Wahlurne zu profitieren.
Auf linken Plattformen wird rege diskutiert, wie die Bewegung dauerhaft werden kann. Auch das hängt von Umständen ab: Anfang Juni gibt es eine offizielle Feiertagspause von neun Tagen, danach kommen die Semesterprüfungen und die Sommerpause.
Die Bewegung wurde im Ausland zwar wahrgenommen, aber, wie die New York Times schreibt, »der Aufstand des türkischen Volkes gegen die Autokratie [ist] weder genügend gewürdigt und noch unterstützt« worden. Und The Economist merkt an, dass die »Europäer Erdogan brauchen«, genauso die USA. Der Protest gegen die Verhaftung des Istanbuler Oberbürgermeisters hat zwar in europäischen Gemeinden Unterstützung gefunden, aber nur begrenzt.
Es gibt zwar Hoffnung auf große Unterstützung, die größte Hoffnung ist jedoch, dass die gesammelten Erfahrungen sich zu einer Haltung des Sich-Wehrens verdichtet und es keinen Rückfall in die Lethargie gibt. Dem allgemeinen Überdruss, dass man nichts ändern kann, haben die Studierendenproteste eine andere Erfahrung entgegengesetzt. Nach den heftigen Protesten wurde das Amt des Bürgermeisters nicht mit einem Treuhänder des Staates besetzt, wie in anderen Istanbuler Bezirken und bei kurdischen Bürgermeister:innen geschehen.
Im Moment ist der einzige gemeinsame Nenner der Bewegung des 19. März ein Anti-Erdoganismus. Mit der Zeit werden aber die einzelnen Komponenten der Bewegung – allen voran die Studierenden, die die treibende Kraft sind – versuchen, ihre eigenen spezifischen Forderungen stärker in den Vordergrund zu rücken.
*Pikachu ist eine gelbe Pokémon-Figur aus einem Videospiel, die immer wieder bei Demonstrationen auftaucht, in Form von Kuscheltieren oder auf Plakaten.
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